G. Sanford: Katyn and the Soviet Massacre of 1940

Titel
Katyn and the Soviet Massacre of 1940. Truth, Justice and Memory


Autor(en)
Sanford, George
Erschienen
London 2005: Routledge
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 122,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Weber, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Im Frühjahr 1940 töteten die Henker des NKWD innerhalb von zwei Monaten nahezu 15.000 polnische Kriegsgefangene, die seit dem Überfall auf das Nachbarland im September 1939 in die Fänge des Geheimdienstes geraten waren. Drei Jahre später, im April 1943, verkündete Radio Berlin den Fund von Massengräbern bei Katyń und erklärte, dass es sich bei den Leichen um jene ermordeten Offiziere handele, deren Tod Stalin und Molotow stets mit phantasiereichen Ausflüchten abgestritten hatten. Bis zum eindeutigen sowjetischen Schuldbekenntnis im Jahr 1990 blieben die Spekulationen um die „Wahrheit“ der so genannten Massaker von Katyń ein beliebter Gegenstand der Großmachtspiele und Geheimdienstthriller im Kalten Krieg. Über das historische Ereignis hinaus wurde Katyń zu einem Symbol für die Kaltblütigkeit der Sowjets, die Indifferenz der Westmächte und die Konstruktion einer polnischen Opfernation, die sich gegenwärtig wieder großer geschichtspolitischer Aufmerksamkeit erfreut.

Vor dem Hintergrund dieser machtpolitisch und national aufgeladenen Geschichte der Massenerschießungen kommt das Buch des britischen Historikers George Sanford wohltuend sachlich daher. Durch die akribische Auswertung neuerer, vorrangig polnischer Quelleneditionen und Archive gelingt ihm eine dichte, der komplexen Geschichte gerecht werdende Beschreibung der Massaker von ihrer Planung in der Moskauer NKWD-Zentrale bis zur politischen Instrumentalisierung in den polnischen Wahlkämpfen der 1990er-Jahre. Während sich der zweite Teil des Buches der internationalen „Vertuschungsgeschichte“ im Kalten Krieg und der erinnerungskulturellen Aufarbeitung nach 1990 widmet, steht im ersten Teil die Geschichte der Massaker von der Gefangenennahme der Offiziere im Herbst 1939 bis zu ihrer Ermordung in den Gefängniszellen der lokalen NKWD-Hauptquartiere von Kalinin, Charkiw und im Wald von Katyń im Vordergrund.

Es ist die mikroskopische Analyse des stalinistischen Terrornetzes, die Sanfords Buch für die neuere Stalinismusforschung lesenswert macht. Nicht ohne Gespür für die Dramaturgie der Ereignisse beschreibt er die erfolglosen Versuche des NKWD, die Gefangenen entweder zur Kollaboration zu überzeugen oder sie als „ewige Feinde“ der Sowjetunion zu entlarven. Nachdem die ersten noch vom Lagerpersonal durchgeführten Verhöre und Indoktrinationen in einem völligen Fiasko endeten, schickte Lawrenti Berija seine Moskauer Gefolgsleute, unter ihnen der im September 1939 zum Chef der Abteilung für Kriegsgefangenenwesen (UPW) ernannte Pjotr Soprunenko, in die Lager. Im Februar 1940, wenige Wochen vor dem Todesurteil, war die umfassende Registrierung der Kriegsgefangenen abgeschlossen; eine Akte verblieb im Lager, die andere wurde nach Moskau geschickt. Am 5. März 1940 verkündete Berija in seinem Schreiben an die Mitglieder des Politbüros, dass sich die Gefangenen als „erbitterte, von tiefem Hass auf die Sowjetmacht erfüllte Feinde“ (S. 81) erwiesen hätten, die nur den Tod durch Erschießen verdienten.

Ohne dies explizit zu erklären, schreibt Sanford eine Geschichte Katyńs aus der Perspektive der Täter und bestätigt die derzeitige Stalinismusforschung, die von zentralisierten Entscheidungsprozessen und Täterhierarchien des Roten Terrors ausgeht. In der Tat ist die Geschichte Katyńs die Geschichte Lawrenti Berijas. Der neue Chef des NKWD überwachte das Schicksal der Gefangenen von der Verhaftung bis zum Massaker. Nach der Unterzeichnung des Todesurteils wurden die Chefs der regionalen NKWD-Abteilungen nach Moskau gerufen und dort von den Plänen unterrichtet. Nichts, weder die Auswahl der zu Tötenden noch die Orte, an denen die Opfer vergraben wurden, überließen Täter wie der aus Moskau nach Kalinin gereiste NKWD-Offizier Blochin dem Zufall. Die detailversessene Planung, der technisierte Ablauf und die außergewöhnliche Geheimhaltung, mit der die zeitlich und räumlich genau definierten Massaker organisiert und durchgeführt wurden, verleihen ihnen eine Sonderstellung in der Gewaltgeschichte des Stalinismus, die sich, so Sanfords These, nur mit dem historischen Kontext erklären lässt (S.84).

Welches Bild der Zeit entwirft Sanford, welche Motive nennt er? Bedauerlicherweise kann der Autor die imponierende Dichte seiner Erzählung nicht für einen neuen Erklärungsansatz nutzen. Bei dem Versuch, den Gründen für die Massenerschießung auf die Spur zu kommen, bleibt er auf halber Strecke stehen und zieht sich auf das sichere Terrain bekannter Deutungen zurück. Nicht ohne deren Überzeugungskraft einzuschränken, erwähnt Sanford Erklärungsansätze wie die sowjetische Xenophobie vor dem alten Adelspolen oder Stalins Hass seit dem verheerenden Polenfeldzug von 1920/21. Um den Ablauf der Massaker zu erklären, legt er – völlig zu Recht – großen Wert auf die Zusammenarbeit zwischen den sowjetischen und deutschen Besatzungstruppen. Die gemeinsame Planung von Vernichtungsaktionen ist einer der interessanten, doch hoch spekulativen Ansätze zur Erklärung von Katyń, dem die seriöse Quellenbasis fehlt. Letztendlich begründet Sanford die Erschießung der Gefangenen mit deren Unwillen zu kollaborieren, der sie in der Gewaltlogik des Stalinismus zu Todfeinden machte. Dieser Ansatz ist nicht neu – Sanford stützt sich auf das wohlgemerkt schon 1970 erschienene Buch Ronald Hingleys über die russische Geheimpolizei – und er ist, wie der Autor selbst zugibt, auch nicht völlig überzeugend (S. 85). Volksfeinde wurden zu Tausenden erschossen, aber sie wurden auch deportiert, in den Arbeitslagern des GULag versklavt oder, wie noch von Oktober bis November 1939 im Fall der polnischen Gefangenen geschehen, ausgetauscht.

Einen überzeugenden Grund für die Massaker kann Sanford nicht liefern, aber indem er alle bisher bekannten Motive an den Quellen diskutiert, ist sein Buch ein Plädoyer für einen Blickwechsel bei der Betrachtung von Katyń. Es ist die materialgesättigte Grundlage für eine Diskussion der offenen Fragen Katyńs im Kontext der stalinistischen Gewaltgeschichte, insbesondere des NKWD unter Lawrenti Berija. Immerhin waren die Massenerschießungen Berijas erste Gewaltaktion als uneingeschränkter Herrscher des NKWD und ein Loyalitäts- und Gefolgschaftsbeweis an Stalin. Welche Bedeutung diese, so banal erscheinende Tatsache für das Schicksal der polnischen Kriegsgefangenen hatte und welche Rolle ein Täternetzwerk wie das NKWD auch nach Berijas Sturz bei der Vertuschung von Katyń spielte – auf diese Fragen gibt Sanford keine Antwort. Doch dass er sie stellt, ist das Verdienst seines Buches, das ein legendenumwobenes Ereignis wie die Massaker von Katyń endlich in die nüchterne Logik der stalinistischen Gewaltgeschichte rückt.

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