I. Thatcher (Hrsg.): Reinterpreting Revolutionary Russia

Cover
Titel
Reinterpreting Revolutionary Russia. Essays in Honour of James D. White


Herausgeber
Thatcher, Ian D.
Erschienen
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
$ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Kindler, Humboldt-Universität zu Berlin

Festschriften lassen sich zumeist nicht an jenen Kriterien messen, die es ansonsten an Sammelbände anzulegen gilt. Denn ihre Qualität, so gebietet es offenbar die akademische Tradition, definiert sich weniger über die inhaltliche Kohärenz der versammelten Beiträge, als vielmehr über Rang und Namen der Beitragenden. Dieser Umstand ist bereits an anderer Stelle ausführlich thematisiert worden.1 Der zu Ehren von James D. White erschienene Band stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar; weitgehend unverbunden stehen die Aufsätze der Freunde und Schüler nebeneinander. Gleichwohl lässt sich unter den Texten des Bandes ein thematischer Schwerpunkt ausmachen: Knapp die Hälfte der zwölf Beiträge setzt sich mit einigen der zentralen Akteure und Probleme des revolutionären Russlands auseinander. Auf sie soll im Folgenden eingegangen werden.

Die Debatte über die strukturellen Ursachen der russischen Revolution ist mindestens so alt wie die Revolution selbst. David Saunders’ Beitrag wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die von der älteren Forschung vertretene Ansicht, es seien vor allem langfristige Spannungen und Konflikte gewesen, die zu den revolutionären Umstürzen des Jahres 1917 führten. Vielmehr, so hebt der Autor hervor, müsse eine Suche nach den Gründen den Ersten Weltkrieg mit seinen – nicht nur – für das russische Reich krisenhaften Auswirkungen in den Blick nehmen. In diesem Zusammenhang macht er auf vier parallel laufende Prozesse aufmerksam: Massive Migrationsbewegungen, demographische Verschiebungen, Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterschaft und zunehmende Spannungen an den Peripherien des Imperiums hätten entscheidend zum Zusammenbruch der Autokratie beigetragen. Mit diesem Befund bestätigt David Saunders Autoren, die in jüngerer Zeit bereits mehrfach auf ähnliche Zusammenhänge hingewiesen haben.2

Rex A. Wade, einer der profiliertesten Kenner der russischen Revolution, trägt in seinem Beitrag zwei miteinander verknüpfte Argumente vor: Das Ende dessen, was man als „russische Revolution“ bezeichnen könne, sei präzise auf den 6. Januar 1918, also die Auflösung der Konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki, zu datieren. Der kurz darauf voll entbrannte Bürgerkrieg sei qualitativ etwas anderes und neues gewesen. Denn, so die zweite These des Aufsatzes, alle politischen Akteure des Jahres 1917 seien sich darin einig gewesen, sämtliche Regierungen und Bündnisse als provisorisch zu begreifen und alle abschließenden Entscheidungen der Konstituierenden Versammlung zu überlassen. Dies habe auch für die Bolschewiki gegolten. Daher markiere nicht der Coup vom Oktober, sondern die Weigerung der Bolschewiki, sich demokratischen Verfahren zu unterwerfen, den radikalen Bruch. Gewiss, der Bürgerkrieg brach erst Anfang 1918 in aller Schärfe aus. Doch sind nicht die Gründe für die „Passivität“ der Gegner der Bolschewiki in der anfänglich weit verbreiteten Zuversicht zu suchen, die neue Regierung werde innerhalb kurzer Zeit „von allein“ zerfallen? Und lässt sich tatsächlich aus den veröffentlichten Bekenntnissen Lenins und seiner Gefolgsleute zur Konstituierenden Versammlung ableiten, die Bolschewiki hätten sich nur als temporäre Verwalter der Macht begriffen?

Mit seinen organisatorischen Fähigkeiten gewann Trotzki den Bürgerkrieg für die Bolschewiki. Doch seine Methoden waren „unbolschewistisch“, so die These von Geoffrey Swain. Anschaulich und überzeugend schildert er, dass es die Erfahrungen aus den Kämpfen um Svijazhsk waren, die Trotzki zu der Überzeugung kommen ließen, dass der Bürgerkrieg ohne Offiziere aus der zarischen Armee nicht zu gewinnen sei. Zugleich suchte Trotzki den Einfluss der Partei auf militärische Fragen zu minimieren. Geoffrey Swain führt aus, dass es vor allem diese beiden Punkte waren, die wiederholt zum Anlass ernster Konflikte mit anderen führenden Bolschewiki wurden. Und obgleich er sich während des Bürgerkriegs meist mit seiner Sicht der Dinge durchsetzen konnte, erwarb sich Trotzki durch seine kompromisslose Haltung erbitterte Feinde. Hier seien die Ursachen für das nachhaltig zerrüttete Verhältnis zu Stalin zu suchen, der in den von Trotzki unterstützten Militärspezialisten „Verräter“ und „Spione“ erkannte.

In einem lesenswerten Essay diskutiert Christopher Read Entstehung und Exegese einiger Schlüsseltexte Lenins und kommt dabei zu interessanten Einsichten: So sei Lenin als „instinktiver Populist“ zu begreifen, der im Verlaufe seiner politischen Karriere immer wieder auf das Vokabular und die Rhetorik der russischen Populisten zurückgriff. Read beschreibt einen Lenin, der keinesfalls das weit blickende und alle zukünftigen Wendungen vorausberechnende Genie gewesen sei, das spätere Verklärungen von Bewunderern und Gegnern aus ihm machten. Vielmehr hätte er vor der Revolution allenfalls nebulöse Vorstellungen über die Zeit nach der Machterlangung entwickelt. Lenins Pläne nach der Revolution zeugten hingegen von großer Improvisationsgabe. Er sei also aus seiner Interpretation der Wirklichkeit heraus und nicht als Exekutor der kanonischen Schriften des Marxismus zu verstehen. Obgleich ähnliche Argumente schon an anderer Stelle – auch von Christopher Read selbst – vorgebracht worden sind, überzeugt der Aufsatz als kompakter Überblick über neuere Tendenzen der Forschung.3

Jane McDermid und Anya Hillyar gehen der Rolle Nadeschda Krupskajas nach. Die Klischees von der „Kampfgefährtin“ und „Frau an Lenins Seite“ hätten ausgedient, vielmehr, so die beiden Autorinnen, müsse Nadeschda Krupskaja als eigenständige Politikerin und Revolutionärin begriffen werden. Doch der Hinweis, sie habe sich bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Lenin den russischen Sozialdemokraten zugewandt und ihr Interesse für Bildungsfragen entdeckt, kann nicht den „Schatten“ verschwinden lassen, in dem Nadeschda Krupskaja – zumindest historiographisch – steht. Beachtung verdient daher die zweite These des Aufsatzes, Krupskaja könne als typische Vertreterin ihrer Generation von Frauen in der russischen Sozialdemokratie gesehen werden. Merkmal dieser Frauen sei es gewesen, dass sie, ungeachtet aller Emanzipationsrhetorik, ihre eher randständige Position selbst gewählt hätten. Es wäre lohnend gewesen, hier die Frage anzuschließen, welche Bedeutung die (männlichen) Bolschewiki der Kategorie Geschlecht beimaßen. Denn möglicherweise lautet eine Antwort, dass es doch nicht die Frauen waren, die sich selbst in die zweite Reihe der Bewegung stellten.

Lässt sich aus dem Gesagten eine Bilanz ziehen? Bei einer Festschrift, die ohne konzeptionellen Rahmen auskommen muss, kann die Summe der einzelnen Beiträge nur schwerlich ein neues und größeres Ganzes ergeben. Es sind einzelne Aufsätze, die bedenkenswerte Anregungen und Einsichten vermitteln. Methodisch bleiben sie in ihrer Mehrheit der klassischen Politik- und Sozialgeschichte verhaftet oder wandeln auf den ausgetretenen Pfaden einer Geschichte der „großen Persönlichkeiten“. Jene Fragen, die in jüngerer Zeit zu einer neuen Interpretation des revolutionären Russlands beigetragen haben, werden kaum gestellt: So vermisst man beispielsweise den Verweis auf die multiethnische Dimension der revolutionären Ereignisse. Und kulturelle Kontexte, Sinnhorizonte der Akteure und die Strategien „einfacher“ Menschen, sich im revolutionären Chaos zu behaupten, spielen in den hier vorgetragenen Argumentationen eine allenfalls untergeordnete Rolle.

Anmerkungen:
1http://www.sehepunkte.de/2002/10/3517.html
2 Vgl. bspw.: Gatrell, Peter, A Whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I, Bloomington 1999; Holquist, Peter, Making War, Forging Revolution. Russia’s Continuum of Crisis, 1914 – 1921, Cambridge/Mass. 2002; Sanborn, Joshua A., Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 1905 – 1925, DeKalb 2003.
3 Vgl. bspw.: Service, Robert, Lenin. A Biography, London 2000; Read, Christopher, Lenin. A Revolutionary Life, London 2005.

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