J. Eckel u.a. (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswiss.

Cover
Titel
Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft.


Herausgeber
Eckel, Jan; Etzemüller, Thomas
Erschienen
Göttingen 2007: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Sarasin, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Die neuere Wissenschaftsgeschichte, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten als hochinnovatives Feld entfaltet hat, macht meist einen Bogen um die Geisteswissenschaften. Es ist daher begrüßenswert, dass seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum Studien erscheinen, die die Historiographiegeschichte dem frischen Wind von neuen Forschungsansätzen aussetzen. Diese begreifen Wissenschaft als eine soziale und kulturelle Praxis, „deren vielfältige Aspekte über den fachwissenschaftlichen Selbstbezug hinausweisen“ (S. 19), wie die beiden Herausgeber Jan Eckel und Thomas Etzemüller schreiben. Mit anderen Worten: „Historiographiegeschichte stellt nicht länger, wie insbesondere noch in den siebziger und achtziger Jahren, einen Beobachtungsstandpunkt dar, von dem aus allein der Stand des fachlichen Fortschritts überprüft werden soll. Vielmehr dient sie heute der Analyse der Geschichtsschreibung als eines integralen Teils historischer Gesellschaften.“ (S. 21f.) Es geht gewissermaßen um einen Selbstanwendungstest der Geschichtswissenschaft: Diese soll nicht länger als der ruhige Ausguck im Blindfeld des Beobachters bleiben, sondern als ein Feld von Kämpfen um Macht und Deutungshoheit begriffen werden und als eine Disziplin, deren Wahrheiten in historisch wandelbarer Weise stabilisiert werden.

In seinem eigenen Beitrag nennt Etzemüller mit programmatischem Bezug auf den Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck die Fragen, um die es dabei geht: „Wie Individuen zu Historikern werden und sich in eine soziale Gemeinschaft einpassen, wie sie in dieser Gemeinschaft Sehen lernen, wie sie durch ihre Arbeit Reputation erwerben und dann neue Sichtweisen in der Geschichtswissenschaft implementieren, all das muß man untersuchen, wenn man wissen will, wie historische Erkenntnis, und damit: Geschichte, entsteht.“ (S. 65) Susanne Rau ergänzt dieses Programm rezeptionstheoretisch: „Ziel der Analyse ist es zu zeigen, in welchen Kontexten der einzelne historiographische Text entstanden ist, in welchem breiteren Diskurs- und Handlungsumfeld er zu verorten ist, welche Vermittlungsabsichten bestanden, welche Rolle er in der Formierung eines kulturellen Gedächtnisses tatsächlich spielte und in welche neuen Kontexte er eindrang.“ (S. 149) Zu untersuchen sind also die sozialen und kulturellen Entstehungsbedingungen von historiographischen Texten auf der einen Seite und die Formen ihrer Diffusion auf der anderen – mit der Pointe allerdings, dass sich dabei die eine von der anderen Seite nicht mehr sauber trennen lässt.

Wie werden die Beiträge diesem anspruchsvollen Programm gerecht? Die Bilanz fällt uneinheitlich und nicht wirklich befriedigend aus. Obwohl alle Texte dem Konzept folgen, einen theoretischen Ansatz zu skizzieren und diesen an einem Beispiel zu testen, ist die Spannweite doch atemberaubend. Etzemüller eröffnet den Band mit einem Kurzreferat des Radikalen Konstruktivismus, um mit Luhmann und der „Neurobiologie“ (S. 30) zu argumentieren, dass Gehirne keinen Bezug zu einer äußeren Realität haben, sondern aufgrund von Außenreizen eine eigene, selbstreferenzielle Wirklichkeit konstruieren. Daraus leitet er die Frage ab: „[…] liegt zwischen Historiographie und Vergangenheit [nicht] ein ähnlich deutlicher Bruch wie zwischen Realität und Gehirn?“ (S. 30) Der Autor ist dieser Meinung, und er folgert: „Sollte das nicht Anlaß geben, die Genese von Geschichte einmal vollständig anders zu beobachten, nämlich als Ergebnis systemimmanenter Prozesse in der Gegenwart, und nur dort? ‚Erkennen’ hieße dann: autopoietisch konstruiertes Beobachten.“ (S. 31) Oder anders gefragt: „Was sind die Bedingungen, dass Historiker etwas als Vergangenheit auf eine spezifische Weise beobachten?“ (S. 35) Von hier aus entwickelt Etzemüller dann mit Fleck, Foucault und Bourdieu das Programm einer konstruktivistischen Historiographiegeschichte.

Doch das ist erst der Anfang dieses Bandes; am Schluss findet sich ein Text, der sich weit von diesem Einstieg entfernt bewegt. Jens Nordalm glaubt nicht an „Methoden“; er lehnt es explizit ab, sich ihrer zu bedienen oder sie gar zu reflektieren. Er ist vielmehr überzeugt, dass die wesentlichen Denk-Werkzeuge für Historiker in der „geistigen Revolution des Historismus um 1800“ entwickelt worden seien (S. 285). Daher reiche es vollständig, wenn man sich auf „Perspektivenpluralismus“ (S. 289) und vor allem mit Droysen auf „forschendes Verstehen“ (S. 287) als Universalschlüssel historiographischer Welt-„Erhellung“ verlasse. Dabei unterschlägt Nordalm zumindest den Unterschied zwischen Sinnverstehen (etwa von geäußerten Intentionen oder Argumenten) und dem Verstehen von kausalen Zusammenhängen, etwa von volkswirtschaftlichen Prozessen oder diskursiven Mustern. Natürlich bedient man sich dabei gleichermaßen seines Verstandes, aber ob die Welt insgesamt immer nur vom Sinn her zu verstehen, ja als „sinnhaft“ gedeutet werden muss, oder vielleicht doch nicht, wäre eben die Frage.

Soviel also zur Spannweite der „neuen Zugänge“. Was liegt dazwischen? Die Beiträge von Susanne Rau über frühneuzeitliche Geschichtsschreibung und von Angelika Epple über „Historiographiegeschichte als Analyse des historischen Apriori“ leiden am stärksten unter dem Anspruch, betont innovativ sein zu wollen und gleichzeitig möglichst viele, sich nicht selten aber widersprechende Theorie-Rezepte zu etwas Originellem und dann doch für alle irgendwie Vertrautem zusammenzubasteln. Das endet neben vielen Einsichten leider oft bei Altbekanntem, zuweilen in konzeptioneller Konfusion. Etwas weniger ambitiös sind die informativen Texte von Olaf Blaschke/Lutz Raphael über das „Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945“ und von Gabriele Lingelbach über „Institutionelle Rahmenbedingungen disziplinärer Standardisierungsprozesse“ in den USA und Frankreich. Diese Beiträge machen deutlich, dass eine Beschreibung des „sozialen Feldes“ der Geschichtsschreibung nur wenig Hinweise dazu gibt, welche Themen, Inhalte und Positionen sich durchsetzen – und warum –, wie Blaschke/Raphael mit Verweis auf diskursanalytische Ansätze nachdenklich notieren (S. 108). Lingelbach überspannt daher den Bogen, wenn sie behauptet, mit einem „institutionsgeschichtlichen Ansatz lässt sich ein großer Teil geschichtswissenschaftlich relevanten Handelns analysieren“ (S. 132). Vorausgesetzt, dass damit nicht zuletzt Texte gemeint sind, müsste das zuerst gezeigt werden.

Wie schwierig es ist, soziale und kulturelle Produktionsbedingungen von historiographischen Texten zusammenzudenken, zeigt der informative Beitrag von Jan Eckel: Er schlägt sich ganz auf die Seite des Textes und rekonstruiert die Debatte um narrative Strukturen der Geschichtsschreibung, um diesen Zugang an der Geschichtsschreibung zu Weimar zu überprüfen. Allerdings wird nicht deutlich, was daran neu ist – das Potential genuin wissenschaftshistorischer Fragestellungen bleibt mit einem literaturwissenschaftlichen Vorgehen dieser Art ungenutzt. Ähnliches gilt für das Plädoyer von Klaus Große Kracht für eine „Historiografiegeschichte als Streitgeschichte“: Hier verbinden sich zwar argumentative und diskursive Aspekte mit sozialen und „generationellen“, aber die Beschreibung der Fischer-Kontroverse führt trotz des Einsatzes von Popper’scher Rhetorik („context of justification“ usw.) nicht wirklich über das hinaus, was man darüber bis jetzt auch schon wusste. Derselbe Einwand lässt sich gegen den insgesamt sehr lehrreichen Text von Sebastian Conrad erheben: Wenn es so ist, dass sich die japanische Historiographie seit dem späten 19. Jahrhundert weitgehend dem Import deutscher Professoren und Methoden verdankt, dann liegt es auf der Hand, dass man nicht naiv davon sprechen dürfe, es gäbe eine deutsche und davon getrennt eine japanische Geschichtsschreibung (im Sinne eines kulturellen Essentialismus), sondern dass letztere von Anfang an hybrid gewesen sei. Im Japan der Epoche der „Öffnung“ nach Westen war allerdings vieles hybrid, so dass sich eher die Frage aufdrängt, ob die deutsche Geschichtswissenschaft von diesem Kolonialexport in irgendeiner Weise mitgeformt wurde. Mit anderen Worten: der post-colonialism wäre zwar ein neuer Zugang, aber das japanische Beispiel ist vielleicht genau das falsche, um für die Historiographiegeschichte überraschende neue Einsichten zu vermitteln.

Fazit: Ich habe den Eindruck, dass der Sammelband zwar ein wichtiges Ziel benennt, aber nur ansatzweise die dazu nötigen Werkzeuge bietet. Man erfährt wenig über Zirkulationsverhältnisse von historischem Wissen; die gesamte Vereins- und Erinnerungskultur als direktes kulturelles Umfeld der Geschichtswissenschaft ist weitgehend abwesend, das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu anderen akademischen Fächern ebenso. Eine Mediengeschichte der Geschichtswissenschaft erscheint nur in Ansätzen, ohne konzeptionelles Gewicht zu erhalten; die Frage nach den Metaphern der Historiographie taucht kaum auf. Es bleibt daher ein Desiderat, dasjenige weiterzuführen, zu vertiefen und zu konkretisieren, was insbesondere die beiden Herausgeber als Projekt formuliert haben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch