H.-H. Hertle u.a. (Hrsg.): Risse im Bruderbund

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Titel
Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker - Breshnew 1974 bis 1982


Herausgeber
Hertle, Hans-Hermann; Jarausch, Konrad H.
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Breshnew schärfte Honecker bei dessen Amtsübernahme 1971 ein, er dürfe nie vergessen, dass die Existenz der DDR von der UdSSR gewährleistet werde. Die Mahnung erwies sich als vergeblich: Das Ende des ostdeutschen Staates zwanzig Jahre später hatte zur entscheidenden Voraussetzung, dass sich der SED-Chef nicht mehr in Übereinstimmung mit der sowjetischen Schutzmacht seines Regimes befand und von dieser fallengelassen wurde. Die Zerrüttung des Verhältnisses war bereits eingetreten, als Breshnew 1982 starb. Der Grund lag nicht darin, dass Honecker uneinsichtig gewesen wäre oder der Kremlherrscher das Interesse an der DDR verloren hätte. Beide betonten immer wieder, dass man die andere Seite brauche und sich zu voller Gemeinsamkeit mit ihr bekenne. Aber in Wirklichkeit entwickelten sich die Positionen auseinander. Breshnew hielt Honecker immer deutlicher vor, sich auf eine Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik einzulassen, welche die Zugehörigkeit der DDR zum sozialistischen Lager gefährde, und dieser gab zu verstehen, die UdSSR zeige zunehmend ein ökonomisches Verhalten, das den Erfordernissen der auch in ihrem Interesse liegenden politischen Stabilität nicht entspreche. Beide waren sich bei dieser nur andeutungsweise formulierten Kontroverse bewusst, dass sie aufeinander angewiesen waren – der eine, weil er den sowjetischen Schutz nach innen benötigte, der andere, weil der Zusammenhalt seines „äußeren Imperiums“ am Fortbestand des SED-Regimes hing.

Wie die Dokumente des Bandes und deren hervorragende Analyse durch Hans-Hermann Hertle und Konrad H. Jarausch deutlich machen, standen hinter dem Zwist Entwicklungen, die sich der Kontrolle durch Honecker und Breshnew entzogen. Mitte der 1970er-Jahre schien noch alles in Ordnung. Zwar deutete sich der Konflikt bereits an, war aber noch ohne Schärfe und damit überwindbar. Zugleich half das auf dem Zenit sozialistischer Macht bestehende Gefühl der Überlegenheit über den Widersacher im Westen über die internen Misslichkeiten hinweg. Das änderte sich, als ungelöste Probleme im Innern Aufmerksamkeit beanspruchten und der weltpolitische Horizont sich verdüsterte. Zentrale Bedeutung kam den in beiden Ländern wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten zu. Honecker hatte, um die Bevölkerung politisch ruhigzustellen, eine Sozialprogramm eingeleitet, das die schwachen Kräfte des sozialistischen Wirtschaftssystems weit überstieg. Neben illusionären Erwartungen hinsichtlich der eigenen Leistungsfähigkeit lag diesem Konzept die Vorstellung zu Grunde, dass die Sowjetunion stets weiterhin im Umfang und zu den Konditionen der frühen 1970er-Jahre Getreide, Rohstoffe, Gas und insbesondere Öl liefern werde. Das aber erwies sich immer mehr als Fehlkalkulation.

In der UdSSR, wo Breshnew die Menschen ebenfalls durch besseren Konsum zu befriedigen suchte, wurde vor allem die geringe Produktivität der Landwirtschaft zum Problem. Der Lebensstandard war nur durch Getreideimporte aufrechtzuerhalten. Für die erforderlichen Devisen mussten die Exporte von Rohstoffen und Energie, vor allem Erdöl, in den Westen verstärkt werden. Zugleich verknappte das Versiegen kostengünstiger Ölquellen das Angebot und erforderte Neuprospektierungen mit teuerer, vielfach nicht im eigenen Land erhältlicher Technik, deren Beschaffung ebenfalls durch Lieferungen in den Westen ermöglicht werden musste. Das alles ging zu Lasten der Ausfuhren in das sozialistische Ausland. Die „Bruderländer“ erhielten immer geringere Kontingente zu erhöhten Preisen. Ihre Wirtschaft geriet dadurch in zunehmende Schwierigkeiten. Das galt vor allem für die DDR. Honeckers Klage, die innere Stabilität seines Landes gerate in Gefahr, machte auf Breshnew wenig Eindruck, weil dieser mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war.

Dem SED-Chef blieb nur der Ausweg, die dringend benötigte materielle Hilfe durch verstärkte Kooperation mit Bonn hereinzuholen. Der Kremlherrscher sah in der dadurch geschaffenen Abhängigkeit von der Bundesrepublik eine Existenzbedrohung für die DDR. Honecker suchte den Vorwurf mit dem Argument und es unterstützende Akte zu entkräften, er wehre die Gefahr durch Restriktion der entstehenden Kontakte und durch wohlbedachte Dosierung der Konzessionen an die westdeutsche Seite zuverlässig ab. Das konnte zwar für den Augenblick, nicht aber – wie sich zeigen sollte – auf lange Sicht überzeugen. Dennoch sah er keine Möglichkeit, seine Politik zu ändern, weil ihm Breshnew keine Alternative bot. Die Priorität, die dieser den eigenen Problemen einräumte, lief auf die Weigerung hinaus, für die Staaten seines Imperiums ökonomisch einzustehen. Das unterminierte langsam, aber sicher dessen politische Fundamente. Die Entwicklung, die unter Gorbatschow zu Tage trat, wurde mithin bereits an der Wende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren eingeleitet.

Der Band von Hans-Hermann Hertle und Konrad H. Jarausch lässt diese Zusammenhänge deutlicher hervortreten als alle bisherigen Publikationen. Der Hintergrund der Lage im Westen während dieser Zeit tritt nur so weit hervor, wie sie in Äußerungen Honeckers und Breshnews zum Ausdruck kommt. Der Zustand relativer Schwäche, in der sich Mitte der 1970er-Jahre vor allem die USA (nach der Niederlage in Vietnam), aber auch die Länder Westeuropas (durch Ölpreiserhöhung und innenpolitische Herausforderungen, vor allem im Gefolge des Umsturzes in Portugal) befanden, war reichlich fünf Jahre später weithin überwunden. Honecker und Breshnew hofften freilich, die – nach dem Doppelbeschluss der NATO zur Frage der Euroraketen mächtig anschwellende – westeuropäische, vor allem westdeutsche Friedensbewegung werde zum politischen Durchbruch gegen die NATO führen (weswegen Honecker den Protestierern ausdrücklich seine volle Unterstützung angedeihen ließ). Die Äußerungen der beiden östlichen Führer nach Reagans Amtsübernahme in den USA zeugen gleichwohl von schwerer Sorge, auch wenn man in Moskau und Ost-Berlin erst allmählich erkannte, wie sehr der Kurs des neuen Präsidenten die internationalen Verhältnisse zu Ungunsten der UdSSR und der DDR veränderte.

Hans-Hermann Hertle und Konrad H. Jarausch haben die Dokumente vorzüglich ediert und mit großer Sachkunde kommentiert. Der Band ist zur Benutzung in Forschung, Lehre und in der politischen Bildung sowie dem an den Fragen interessierten Publikum zur Lektüre sehr zu empfehlen.

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