Titel
'Arisierung' in Hamburg. Die Verdraengung der jüdischen Unternehmer 1933-45


Autor(en)
Bajohr, Frank
Reihe
Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 35
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Klaus Latzel, Fakultät für Soziologie, Simmel-Edition Universität Bielefeld

Es ist mittlerweile Gemeingut der historischen Forschung ueber den "Holocaust", dass die Marginalisierung, Verfolgung und schliessliche Vernichtung der deutschen und europaeischen Juden nicht einfach "von oben" befohlen wurde und "unten" exekutiert werden musste. Wenn man auch nicht mit Goldhagen von einem "nationalen Projekt" sprechen will, so ist doch offensichtlich, dass sowohl die nachgeordneten politischen und Verwaltungsebenen als auch erhebliche Teile der Gesellschaft in die einzelnen Stadien dieses Prozesses nicht nur einbezogen wurden, sondern sich daran aus eigener Entscheidung beteiligten, ja diesen Prozess sogar oft selbst vorantrieben. Frank Bajohr, seit laengerem fuer die Geschichte des Nationalsozialismus ausgewiesener Hamburger Historiker, liefert in seiner Dissertation ueber die "Arisierung" in Hamburg auf einem Gebiet, das in der Forschung bisher vergleichsweise geringe Beachtung gefunden hat, neue Erkenntnisse fuer diese Einsicht.

Der Verlauf von wirtschaftlicher Ausschaltung und "Arisierung", die Bedeutung der regionalen Genehmigungsinstanzen, der nichtjuedischen Unternehmer und der Erwerber juedischen Eigentums in diesem Verdraengungsprozess, das Verhalten und die Motive der daran Beteiligten, aber auch die Konsequenzen fuer die davon betroffenen juedischen Unternehmer und deren Gegenstrategien stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Vor allem auf Grundlage der fast vollstaendig erhaltenen Akten der Devisenstelle des Landesfinanzamtes Unterelbe/Oberfinanzdirektion Hamburg und der Restitutionsakten des Wiedergutmachungsamtes beim Landgericht Hamburg gelingt es Bajohr, seinen Anspruch einzuloesen, in qualitativen und quantitativen Analysen der "Arisierung" nicht nur einen "grundlegenden regionalen Forschungsbeitrag", sondern auch "Anregung zu kuenftiger komparatistischer Forschung" (S. 19) zu liefern.

Bajohr beschraenkt sich zeitlich nicht auf die reichsweit scheinlegalisierte Phase der "Arisierung" 1938/39 und inhaltlich nicht auf deren wirtschaftliche Seite, sondern er nimmt die Dynamik der wirtschaftlichen Ausschaltung der Juden im Wechselspiel zwischen vorantreibenden und retardierenden politischen, oekonomischen und gesellschaftlichen Kraeften seit 1933 bis in den Krieg hinein in den Blick, wie sie das regionale Geschehen in Hamburg bestimmte. Im ersten Kapitel schildert er, wie gleich nach der Machtuebernahme der Nazis antisemitische Gewaltaktionen der Parteiaktivisten gegen Juden und juedische Geschaefte die Rechtlosigkeit der Juden und das der nationalsozialistischen Herrschaft inhaerente Gewaltpotential unmissverstaendlich deutlich machten. Neben diesem Strassenterror, dem "Radauantisemitismus" der Parteibasis, der Mitte 1934 mit der Ausschaltung der SA einstweilen in den Hintergrund trat, tat sich 1933 ein Antisemitismus der weissen Kragen hervor: Berufsverbaende schlossen ihre juedischen Mitglieder aus, mittelstaendische Unternehmen organisierten Boykotte und Kampagnen gegen juedische Betriebe, Warenhauskonzerne und Banken entliessen juedische Angestellte.

Diese antisemitischen Initiativen von unten zur wirtschaftlichen Existenzvernichtung der Juden wurden nicht nur unabhaengig von der Politik des NS-Staates durchgefuehrt, teilweise wurden ihnen sogar von der Hamburger Staatsfuehrung Grenzen gesetzt. Die Hamburger Judenpolitik besass ihr eigenes Profil (Kap. 2). Wirtschaftsstruktur (starke Ausrichtung auf den Aussenhandel) und vergleichsweise langsamer Rueckgang der Arbeitslosigkeit liessen den staatlichen Entscheidungstraegern im wirtschaftlichen "Notstandsgebiet" Hamburg merkliche Zurueckhaltung angeraten scheinen, wie Bajohrs Vergleich mit anderen Staedten ergibt. Antijuedische Massnahmen in Hamburg, dem "Tor zur Welt", fanden in besonderem Masse die Aufmerksamkeit der internationalen Oeffentlichkeit, englische oder amerikanische Boykottmassnahmen waren hier sofort zu spueren, und mit der Existenzvernichtung juedischer Betriebe drohte sich die Arbeitslosigkeit noch zu erhoehen. Zwar versuchte sich der Erste Buergermeister Carl Vincent Krogmann durch besonderen antisemitischen Fanatismus zu profilieren, doch der eigentliche "Fuehrer" der Hamburger Landesregierung, der NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann, verstand sich, ungeachtet seines eigenen Antisemitismus, auf eine "taktische Zurueckhaltung" (S. 340), die bis 1936/37 die staatliche Politik der "Arisierung" in Hamburg praegte.

Auch die Hamburger Handelskammer verhielt sich lange eher zurueckhaltend. Vor allem der aelteren Generation des traditionellen, nationalliberalen Handelsbuergertums galten Massnahmen gegen juedische Betriebe als unzulaessige Eingriffe in die private Wirtschaftsfreiheit, waehrend die juengeren Kaufleute aus der "Kriegsjugendgeneration" staerker rassisch-voelkisch orientiert waren; generell hielt sich die Handelskammer jedenfalls moeglichst aus der Judenpolitik heraus, waehrend sich etwa die Hamburger Aerztekammer daran besonders eifrig beteiligte. Einstweilen aber war es vor allem die Parteiorganisation der NSDAP, die massiv auf eine Radikalisierung der antijuedischen Massnahmen draengte und damit das Klima erzeugte, das die zunaechst schleichende Verdraengung der Juden aus vielen Berufszweigen forcierte. Nach begruendeten Schaetzungen hatten bis 1938 ueber 20 % der Hamburger juedischen Unternehmen stillgelegt oder an einen "arischen" Besitzer verkauft werden muessen. Damit lag Hamburg jedoch noch deutlich unter dem Reichsdurchschnitt von 60-70 % .

Wie reagierten die Hamburger Juden auf den Verfolgungsdruck (Kap. 3)? Der Versuch, einen eigenen, selbsttragenden juedischen Wirtschaftssektor aufzubauen, um das Ueberleben der juedischen Betriebe zu gewaehrleisten, war wegen der engen finanziellen Grenzen und dem zu geringen juedischen Bevoelkerungsanteil in Hamburg zum Scheitern verurteilt. Es waren vor allem individuelle Strategien, mit denen die aeusseren Restriktionen erfolgreich unterlaufen werden konnten, und die mangelnde Resonanz von Boykottaufrufen in der Hamburger Bevoelkerung, die einer vergleichsweise hohen Zahl von juedischen Betrieben vorerst die weitere Existenz moeglich machten. Wer dem Verfolgungsdruck durch die Emigration entgehen und sein Vermoegen retten wollte, sah sich von finanzpolitischen Repressionsmassnahmen ("Reichsfluchtsteuer", Devisenbewirtschaftungsbestimmungen etc.) umstellt, die ihren Bruch geradezu herausforderten. Angesichts dieser Zwangslage verhielten sich die meisten Hamburger Juden jedoch "fast beaengstigend korrekt" (S. 158), wie Bajohr schreibt, der als wichtigstes Motiv dafuer den (verzweifelten) Versuch nennt, durch dieses Verhalten die antisemitische Propaganda zu widerlegen und seine Identitaet als Deutscher unter Beweis zu stellen.

So unuebersehbar das Leid der juedischen Bevoelkerung in den Jahren nach 1933 auch war, die systematische "Entjudung" der Hamburger Wirtschaft setzte erst ein, als sich die wirtschaftliche Lage in Hamburg ebenso wie die aussenpolitische Lage Deutschlands spuerbar verbessert hatten und nun, in der letzten Phase von Aufruestung und Kriegsvorbereitung, die gewuenschten Handlungsspielraeume fuer die Radikalisierung der Judenpolitik gewaehrten. Gegenueber bisherigen Auffassungen in der Forschung kann Bajohr zeigen (Kap. 4), dass diese Radikalisierung nicht erst mit dem Abgang Hjalmar Schachts aus dem Reichswirtschaftsministerium Ende 1937 begann, sondern schon 1936/37 einsetzte, und er identifiziert als die treibenden Kraefte fuer die neue Qualitaet der Verfolgung zwei Institutionen, denen bislang nur wenig Aufmerksamkeit galt: das Amt des Gauwirtschaftsberaters der NSDAP und die Devisenstelle der Oberfinanzdirektion Hamburg (bis 1937 Landesfinanzamt Unterelbe) sowie die Zollfahndung. Ohne jede Rechtsgrundlage, allein auf dem Wege der Selbstermaechtigung, hatte sich der Hamburger Gauwirtschaftsberater mit der Rueckendeckung des Gauleiters bereits 1936 entscheidende Kompetenzen auf dem Felde der "Arisierung" verschafft, Kompetenzen, die ihm die Hamburger Handelskammer und die Wirtschaftsverwaltung bereitwillig ueberliessen. Damit waren die juedischen Unternehmen dem Zugriff einer "Gruppe junger nationalsozialistischer Wirtschaftspolitiker" ausgeliefert, "die sich in besonderer Weise um die Durchsetzung ideologischer Prinzipien im Wirtschaftsleben bemuehten" (S. 175). Fortan mussten alle "Arisierungsvertraege" vom Gauwirtschaftsberater genehmigt werden, was fuer die juedischen Firmeninhaber zu erheblichen Verkaufsverlusten fuehrte. Als Kaeufer favorisiert wurden politisch zuverlaessige Bewerber, bei nicht "nachgewiesener" volkswirtschaftlicher Notwendigkeit wurden Betriebe nicht "arisiert", sondern liquidiert, Konzernbildungen sollten zugunsten aufsteigender mittelstaendischer Jungunternehmer vermieden werden, alle (zunaechst: leitenden) juedischen Angestellten der "arisierten" Betriebe waren zu entlassen.

Weitgehend unbekannt war bisher vor allem die Schrittmacherrolle der Devisenstelle und der Zollfahndung bei der Liquidierung juedischer Betriebe. Ihre Verfolgungspraxis radikalisierte sich seit 1936/37, bis schliesslich die vagsten Verdachtsmomente, selbst die schlichte Tatsache, (nach NS-Definition) Jude zu sein, zur Zwangsliquidierung von Betrieben und Vermoegen ausreichte. Devisenstelle und Zollfahndung loesten sich zusehends von allen rechtsstaatlichen Bindungen, um sich statt dessen in ihrem Selbstverstaendnis am Leitbild der Gestapo zu orientieren und mit Erpressungen, fingierten Gestaendnissen, Umkehr der Beweislast usw. zu arbeiten.

Mit der formalen Legalisierung der "Arisierung" durch Reichsgesetze und Verordnungen im Fruehjahr 1938 wurde der Reichsstatthalter Kaufmann offiziell zur obersten Genehmigungsinstanz in Hamburg, faktisch behielt aber der Gauwirtschaftsberater seine dominierende Stellung. Die Handelskammer gab nun ihre Zurueckhaltung auf, die mittelstaendischen Wirtschaftsverbaende schalteten sich nunmehr auch institutionell in die "Arisierung" und Liquidierung juedischer Betriebe ein. (Kap. 5) Dennoch existierten im Herbst noch rund 1200 juedische Gewerbebetriebe in Hamburg (1935 ueber 1500); es waren die Novemberpogrome 1938, die fuer den letzten und entscheidenden Radikalisierungsschub sorgten. Willkuer und Repression steigerten sich erneut, es begann ein regelrechter "Bereicherungswettlauf" (S. 283) um das juedische Eigentum, mit Kriegsbeginn 1939 waren "Arisierung" und Liquidierung juedischer Unternehmen praktisch vollzogen (Kap. 6). Vor allem viele Funktionstraeger der NSDAP nutzten die Ausverkaufsstimmung" (S. 283), Korruption und Nepotismus bestimmten das Vorgehen, Rechtsanwaelte, Makler, Banken, Treuhandverwaltungen, "Auswanderungsagenten" profitierten vom "Verwertungsgewerbe" (S. 345).

Mit Beginn der nationalsozialistischen Expansionspolitik 1938/39 griff die Politik der "Entjudung" ueber die Grenzen des Reichs aus. Hamburger Unternehmer eigneten sich juedische Betriebe aus dem gesamten besetzten Europa an, jegliche Hemmungen waren mittlerweile verschwunden; gleichzeitig wurde Hamburg zum Umschlagplatz des konfiszierten Besitzes juedischer Auswanderer und des in ganz Europa zusammengeraubten juedischen Eigentums (Kap. 7). Seit 1941 wurde dieser Besitz in Hamburg nahezu taeglich versteigert; Bajohr schaetzt, dass mindestens 100 000 Personen aus Hamburg und der naeheren Umgebung bei dieser Gelegenheit juedisches Eigentum erwarben.

Bajohr versteht es, die Verlaufsformen der wirtschaftlichen "Entjudung" in Hamburg immer wieder mit Beispielen zu illustrieren und damit seiner Studie ein hohes Mass an Anschaulichkeit zu verleihen. Neben der grundlegenden Darstellung dieser Politik in Hamburg und der daran beteiligten Kraefte liefert er freilich weitere Einsichten und Anregungen, die ueber den Hamburger Fall hinausreichen, indem er die regionalen Befunde im Zusammenhang genereller Erklaerungsversuche der Radikalisierungsdynamik der nationalsozialistischen Judenverfolgung diskutiert. Das betrifft etwa seine Kritik an der These, die "das Verhalten des buerokratischen Normenstaates" aus der "kalten Systematik eines legalistischen Verwaltungshandelns" (S. 215) erklaeren will. Am Beispiel der Hamburger Devisenstelle zeigt Bajohr, dass sich der "Normenstaat" zusehends von seinen eigenen Normen losloeste und selbst auf "Befreiung" von buerokratischen und rechtsstaatlichen Restriktionen draengte, also die analytische Trennung Fraenkels in Massnahmen- und Normenstaat in der Praxis tendenziell aufhob, wobei ideologischen, speziell antisemitischen Faktoren vermutlich eine erhebliche Bedeutung zukam. Die Frage nach der Handlungsmotivation der Beteiligten an der Judenverfolgung und ihrer Nutzniesser taucht an vielen Stellen der Studie auf. Auf der Grundlage eines Samples von gut 300 "Arisierungen" erstellt Bajohr z. B. eine Typologie des Erwerberverhaltens (S. 317ff.) aus drei Gruppen: Etwa 40 % macht die Gruppe der "aktiven und skrupellosen Profiteure" aus, die Drohungen, Erpressungen und die Zusammenarbeit mit der Gestapo nicht scheuten, weitere 40 % die Gruppe der "stillen Teilhaber", die zwar auch auf ihren Vorteil, aber auch auf aeusserlich "korrekte" Abwicklungsformen bedacht waren, und schliesslich 20 % die Gruppe der "gutwilligen und verstaendnisvollen Geschaeftsleute", die zumindest auf eine angemessene Entschaedigung achteten. In welchem Verhaeltnis insbesondere bei der ersten Gruppe rein oekonomische Bereicherungsgier und/oder Antisemitismus das Verhalten bestimmten, laesst sich nicht mit Gewissheit sagen, aber das von Bajohr ausgebreitete Quellenmaterial spricht auch hier dafuer, dass den ideologischen Faktoren wesentliche Bedeutung zukam.

In seiner Abwaegung der Reaktionen der Hamburger Bevoelkerung auf die "Reichskristallnacht" hebt Bajohr die auch in vielen anderen Untersuchungen zu den Novemberpogromen betonte, verbreitete Ablehnung der Methoden, nicht aber der Ziele der antijuedischen Politik hervor, was freilich nicht fuer den von Goldhagen postulierten, habituellen Vernichtungsantisemitismus der Deutschen spreche (S. 152, 275). Die Kategorie des "Anstands", den die Bevoelkerungsmehrheit fuer sich reklamierte, desavouierte sich hier jedoch als "aller weitergehenden normativen Implikationen" entkleidet und "konnte im Extremfall zu einer blossen formalen Haltung pervertieren, die mit Massenmord durchaus vereinbar war" (S. 275). In die gleiche Richtung weist die "moralische Indifferenz", die Bajohr nicht nur fuer das Verhalten derjenigen, die sich an den Versteigerungen des juedischen Eigentums beteiligten, sondern generell fuer die Haltung der Bevoelkerung gegenueber dem Schicksal der Juden konstatiert (S. 336). Zur Erklaerung dieser moralischen Indifferenz verweist Bajohr auf "eine Mischung aus Abstumpfung, Gleichgueltigkeit, Selbstbezogenheit" und einen "wachsenden Verfall moralisch-ethischer Standards" (S. 336). Dies scheint mir freilich eine Erklaerung mit sich selbst zu sein, auch wenn Bajohr als Faktoren, die diese Entwicklung foerderten, die "Negativselektion" der nationalsozialistischen Politik, die "inhumane Haltungen und Verhaltensweisen systematisch honorierte", sowie die Relativierung des menschlichen Lebens durch das Sterben und Toeten im Krieg benennt. Inhumane Haltungen und Verhaltensweisen zu honorieren, setzt deren Existenz bzw. entsprechende Dispositionen bereits voraus, und auch aus dem factum brutum des Kriegstodes folgt nicht umstandslos die Haltung, die man ihm oder dem menschlichen Leben gegenueber einnimmt. An diesen und aehnlichen Fragen nach der Handlungsmotivation aber wird sich die Forschung ohnehin noch lange die Zaehne ausbeissen; an Bajohrs beeindruckender Arbeit wird sie dabei jedenfalls nicht vorbeikommen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension