M. Brechtken: Scharnierzeit 1895-1907

Titel
Scharnierzeit 1895-1907. Persönlichkeitsnetze und internationale Politik in den deutsch-britisch-amerikanischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Brechtken, Magnus
Reihe
Veröff. d. Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 195
Erschienen
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 73,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Universität Siegen

Die Diskurs-Kultur viktorianischer Dinner-Abende und der Weg in den Ersten Weltkrieg.

Schon am Ende des langen 19. Jahrhunderts erschien es banal, auf den beobachtbaren Prozess einer unaufhörlichen Verflechtung der Welt hinzuweisen. Was für uns heute Globalisierung heißt, wurde damals unter dem Stichwort der „Entwicklung eines ökonomischen und politischen Weltsystems“ 1, eines weltweiten Wettbewerbs und einer Welt diskutiert, die „politisches Einheitsgebiet“ 2 geworden war. Politisch, ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell waren die zeitgleich mit solcher Vehemenz als eigenständige Einheiten proklamierten Nationen längst eng miteinander verflochten. Somit zeigten sich alle zugleich anfällig für die Folgen, die ein Ereignis in einem Teil dieses „Einheitsgebietes“ haben mochte. Kein Wunder also, wenn die Zeitgenossen Überlegungen darüber anstellten, wie sich in einem solchen System Stabilität, Frieden und die bestmögliche Position für das eigene Land bewahren bzw. erreichen ließen.

In den drei Ländern, die aufgrund ihres demographischen, ökonomischen, gesellschaftlichen, militärischen und politischen Potentials am Ende des 19. Jahrhunderts die Führungsposition einnahmen, in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und im Deutschen Reich, wurde die Frage immer intensiver erörtert. Eine eher optimistische Antwort, die noch vor der Wende ins 20. Jahrhundert in Großbritannien formuliert wurde, sah die drei Staaten als „new Triple Alliance“ (Joseph Chamberlain), die mehr Erfolg haben könnte in der Bewahrung des Weltfriedens als irgendein Zusammenschluss von Armeen. Nur wenige Jahre später erschien jedoch der Gedanke an eine Verbindung aller drei Staaten völlig abwegig. Aus einem Staatensystem, das vergleichsweise offen war und wohl flexibel genug für die Möglichkeit eines Dreierbündnisses gewesen wäre, hatte sich ein System mit einem klaren Gegenüber von relativ starren Konstellationen entwickelt, in dem im Wesentlichen ein Motiv, das Streben nach – militärischer – Sicherheit, vorherrschte.

So lässt sich der Rahmen skizzieren, in dem sich die Habilitationsschrift von Magnus Brechtken über die internationalen Beziehungen zwischen 1895 und 1907 bewegt. Warum, so fragt er, fanden sich die drei mächtigsten Industriestaaten, die aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten hätten zusammenarbeiten können, nach der Neuausrichtung des Staatensystems ab spätestens 1907 in verschiedenen Lagern wieder? Warum kam es nicht zu der durchaus bedenkenswerten und von Zeitgenossen debattierten Herausbildung einer „oligopolistische[n] Herrschaft der Moderne“ (S. 359) dieser Trias? Die Antwort darauf sucht der Verfasser weniger in den Strukturen als in den Personen. Es sind die politisch maßgeblichen Persönlichkeiten in Großbritannien, den USA und in Deutschland sowie ihren Verflechtungen, denen er in dem Wandlungsprozess seit etwa 1895 eine zentrale Bedeutung zuschreibt. Wenn der Blick auf herausragende Staatsmänner, die Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Minister, auch nicht neu sein mag, so ist es der Blick auf die Männer ‚in der zweiten Reihe’ durchaus, zumal in den Detailergebnissen. Das gilt umso mehr, wenn, wie in diesem Falle, dabei die „Persönlichkeitsnetze“, die Kontakte und kulturellen, freundschaftlichen und zum Teil familiären Verflechtungen im Mittelpunkt stehen. Dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vor allem mit britisch-amerikanischer Besetzung so etwas wie eine Diskurs- und Dinnergesellschaft der führenden Persönlichkeiten existierte, ist weder erstaunlich noch neu. Sehr wohl neu ist jedoch die Erkenntnis, wie sehr diese Gesellschaft von bestimmten Grundannahmen und Einschätzungen hinsichtlich der internationalen Lage durchzogen war und wie sehr diese Weltbilder oder „mental maps“ im Vorfeld des Ersten Weltkrieges außenpolitische Relevanz erhielten. Diesen Sachverhalt im trinationalen Vergleich herauszuarbeiten, hat sich die Studie zum Ziel gesetzt.

Um die für die Außenpolitik relevanten Vorstellungen und Weltbilder einer identifizierbaren Generation von Politikern und Diplomaten – hier als „Wende-Generation“ bezeichnet – zu ermitteln, wurden vor allem Akteneditionen, Archivbestände der Außenministerien, Briefwechsel und Nachlässe gesichtet. Angesichts der Größe des relevanten Personenkreises, der Berücksichtigung von drei Ländern und der Tatsache, dass in jener Epoche Korrespondenz und schriftliche Fixierung der eigenen Gedanken eine große Rolle spielten – allein Theodore Roosevelt hat über 100.000 Briefe hinterlassen –, handelt es sich dabei um ein großes Projekt. Die unvermeidliche Beschränkung führt in diesem Fall zur Konzentration vor allem auf zwei der Akteure, den britischen Diplomaten Cecil Spring-Rice und sein amerikanisches Pendant Henry White. Beide waren eng verbunden mit Theodore Roosevelt, beide traten entschieden für die Annäherung zwischen ihren beiden Ländern ein und entwickelten bzw. empfanden eine deutliche Skepsis, schließlich Abneigung gegenüber dem Deutschland Kaiser Wilhelms II. mit seiner sprunghaften Politik. Obschon etwa Hermann Speck von Sternburg, Botschafter in Washington und von Roosevelt freundschaftlich „Specky“ genannt, Erwähnung findet, tritt ein deutsches Gegenstück zu Spring-Rice und White nicht auf. Kein deutscher Diplomat oder Minister habe in London oder Washington eine ähnliche Bedeutung für die bilateralen Beziehungen besessen.

Ein gewisses Ungleichgewicht im Hinblick auf den Vergleich zwischen den drei Ländern ist zwangsläufig die Folge. Das gilt in abgewandelter Form zugleich für die Hervorhebung von Spring-Rice und White, deren Kontakte und Einfluss allerdings in vor-bildlicher Weise analysiert werden, eingebunden in eine detaillierte Darstellung der Zirkel und geistigen Welten, in denen sie sich bewegten: White als erster professioneller Diplomat fühlte sich in London besonders im Kreis der „Souls“ daheim, zu denen etwa Arthur Balfour, George Curzon, Margot Tennant, ab 1894 Ehefrau von Henry Herbert Asquith, Richard Haldane, Frances Graham, Lady Horner zählten. Cecil Spring-Rice, Roosevelts Trauzeuge bei seiner zweiten Eheschließung, öffneten sich die Türen der wirtschaftlichen und politischen Eliten an der Ostküste, zu denen etwa Henry Adams, John Hay und Whitelaw Reid, Chef der New York Tribune und später Diplomat in Paris und London, gehörten. Auf Dinner-Partys, Jagdgesellschaften, Wochenendvergnügungen oder lockeren Zusammenkünften in der Sommerfrische ließ sich in angeregter und anregender Atmosphäre mit führenden bzw. aufmerksamen Zeitgenossen über die Veränderungen im Staatensystem und die erforderlichen Maßnahmen diskutieren. Spring-Rice, der 1895 an die Botschaft in Berlin wechselte, vermochte nach den prägenden Erfahrungen in den USA dort trotz der Salonkultur der wilhelminischen Gesellschaft keine vergleichbare Atmosphäre der Offenheit und des Miteinanders auf Augenhöhe mehr zu entdecken. Bestätigt vom gewandelten Ton der internationalen Politik, die seit 1895 eine britisch-amerikanische Annäherung und eine britisch-deutsche und amerikanisch-deutsche Entfremdung erlebt hatte, standen auch in diesem persönlichen Sinne der Diplomaten Spring-Rice und White die Konstellationen des Weltkrieges, die künftigen Kriegsbündnisse fest.

Das Buch teilt sich in drei Hauptabschnitte: Eine Darstellung der strukturellen und ideologischen Hintergründe, eine Analyse der politischen Netzwerke orientiert am Beispiel des britischen und des amerikanischen Diplomaten und eine Betrachtung der Eskalation nach der Jahrhundertwende, die sich auf die Wahrnehmung der deutschen Politik und insbesondere Wilhelms II. konzentriert. Das ergibt insgesamt ein stimmiges Bild, tritt doch die bislang kaum beachtete Rolle der untersuchten Diplomaten und mit ihnen die Tragweite des „old school tie“ bzw. der Abendgesellschaften und elitären Diskussionsrunden klar hervor.

Dennoch bleibt ein kleiner Rest von Skepsis nach der Lektüre bestehen. Die zu erwartende Frage, was denn an dieser Deutung der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges neu sei, nimmt der Verfasser gleich vorweg und beantwortet sie überzeugend in einem eher ungewöhnlichen eigenen Schlusskapitel von zweieinhalb Seiten Umfang. Trotz aller ‚Vernetzung’ der exemplarisch behandelten Personen – Spring-Rice und White – bleibt am Ende der Wunsch, die im Titel genannten „Persönlichkeitsnetze“ hätten von mehr als nur zwei Punkten ausgehen können. Vielleicht hätte auch stärker gegen den sich bei der Lektüre einstellenden Verdacht argumentiert werden müssen, dass die Verteilung der Gewichte im Buch zugunsten der angelsächsischen Seite den Ausgang der Entwicklung, eben die Abkehr von Deutschland bereits vorwegnimmt. Wenn die deutsche Seite relativ wenig Raum erhält und zumeist als Projektion der beiden anderen Beteiligten erscheint, kann sich letztlich nur bestätigen, was man aufgrund der Ereignisse ab dem Sommer 1914 bereits weiß. Aber das mag nur eine Quisquilie sein, ebenso wie der Wunsch, zahlreiche Details im Resümee über die Protagonisten wären nicht noch einmal angeführt worden. Alles in allem besticht doch die Herausarbeitung der Netzwerke, wie sie auf den mehr oder minder formellen Treffen der gesellschaftlich-politischen Eliten in Großbritannien 3 und den Vereinigten Staaten entstanden und mit Esprit und Leben gefüllt wurden.

Anmerkungen
1 Kjellen, Rudolf, Die Großmächte der Gegenwart, Leipzig, Berlin 1914, S. 3.
2 J.J. Ruedorffer (= Kurt Riezler), Grundzüge der Weltpolitik der Gegenwart, 1914, S. 184.
3 Die idealtypische literarische Form haben sie in dem von Brechtken ebenfalls berücksichtigten Roman von: Wells, H.G. (S. 286ff.), New Machiavelli, erhalten.

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