P. Oswalt u.a. (Hrsg.): Atlas der schrumpfenden Städte

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Titel
Atlas der schrumpfenden Städte/Atlas of Shrinking Cities.


Herausgeber
Oswalt, Philipp; Rieniets, Tim
Erschienen
Ostfildern 2006: Hatje Cantz Verlag
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Brandl, Institut für Städtebau, ETH Zürich

In der deutschen Stadtforschung ist Schrumpfung in den letzten Jahren zum bestimmenden Thema der Diskussion über Fragen der Stadtentwicklung geworden. Obwohl in der Bundesrepublik bereits in den 1970er-Jahren zahlreiche altindustriell geprägte Regionen einen strukturellen Niedergang verzeichneten und verschiedene Forschungen für eine Abkehr von der Wachstumseuphorie plädierten1, führte erst die Veröffentlichung des Berichts „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ Ende 2000 zu einem breit angelegten Perspektivwechsel in der Stadtentwicklungspolitik.2 Seitdem wurden über eine Million leerstehender Wohnungen in Ostdeutschland geschätzt, das Bund-Länder-Förderprogramm „Stadtumbau Ost“ mit einer Laufzeit von 2002 bis 2009 und einem Fördervolumen von 2,5 Milliarden Euro aufgelegt sowie bereits mehr als 125.000 Wohnungen abgerissen.3

Das Forschungsprojekt „Schrumpfende Städte“ ist ein von 2002 bis 2006 angelegtes, interdisziplinäres Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes, welches Schrumpfung als ein weltweites Phänomen untersucht. Schrumpfung wird dabei nicht als neuer, sondern als ein verdrängter und tabuisierter Prozess der – im historischen Rückblick nie linear verlaufenden – Stadtentwicklung gesehen (S. 7). Durch den Vergleich von Schrumpfungsprozessen unter anderem in Deutschland, Großbritannien, Russland und den USA sollen neue Blickwinkel für Handlungskonzepte gefunden und bestehende Wertvorstellungen hinterfragt werden. Während der erste, 2005 erschienene Sammelband des Projekts Entwicklungstendenzen wie Deindustrialisierung, Suburbanisierung und postsozialistischen Wandel anhand der Fallbeispiele Halle/Leipzig, Manchester/Liverpool, Detroit und Ivanovo analysiert, untersucht der zweite, ebenfalls 2005 publizierte Band die Bedeutung des kulturellen Aspekts für die Entwicklung von Strategien im Umgang mit den Schrumpfungsprozessen.4

Mit dem „Atlas der schrumpfenden Städte“ ist nun die dritte große Print-Publikation des Forschungsprojektes erschienen. „Ziel des Atlas ist es, die Schrumpfungsprozesse darzustellen und erfassbar zu machen, sie im Gesamtzusammenhang globaler Entwicklungen zu betrachten, sodass ihr Stellenwert beurteilt werden kann.“ (S. 7) Die durchgängig zweisprachige (deutsch-englische) Publikation besteht aus den drei Kapiteln „Geschichte“, „Ursachen“ und „Entwicklungspfade“, die alle dem gleichen Aufbau folgen. Das jeweilige Kapitelthema wird durch großformatige Weltkarten und Diagramme eingeleitet und danach durch kurze Texte verschiedener Autoren in seinen Teilaspekten theoretisch beleuchtet. Abschließend werden die beschriebenen Entwicklungen durch knappe Stadtporträts exemplifiziert. Mit diesen verschiedenen Darstellungsformen beabsichtigen die Herausgeber, die unterschiedlichen Ausprägungen der Ursachen und Folgen von Schrumpfung zu vermitteln: Während die Karten auf einen globalen Überblick abzielen, zeigen die Stadtporträts, wie sich Schrumpfungsprozesse lokal auswirken. Sie bilden einen Querschnitt an Klein-, Mittel- und Großstädten verschiedener Kontinente, wobei sich die Darstellung der Stadtentwicklung vor allem auf das 20. Jahrhundert und hier schwerpunktmäßig auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert. Zwischen Karten/Diagrammen, Texten und Stadtporträts bestehen zahlreiche, durch kleine Symbole markierte Querverweise, welche die verschiedenen Darstellungsarten von Schrumpfung miteinander verknüpfen und ein nicht-lineares Lesen des Atlas ermöglichen.

Mit den beiden Texten „Urbanisierung“ und „Städtisches Schrumpfen“ führt das erste Kapitel in Wachstum und Schrumpfung als die Stadtentwicklung gleichermaßen prägende Prozesse ein. Der Schwerpunkt des Atlas liegt jedoch auf der Darstellung der Ursachen von Schrumpfung im zweiten Kapitel. Dieses ist in die vier sehr allgemein benannten Kategorien „Vernichtung“, „Verlust“, „Verlagerung“ und „Veränderung“ gegliedert, die durch weitere Differenzierungen inhaltlich strukturiert werden. So ist der Abschnitt „Vernichtung“ in die Themenfelder Krieg, Naturkatastrophen, Umweltverschmutzung, Epidemien sowie der Abschnitt „Verlust“ in die Themenfelder Arbeitslosigkeit, Wasserknappheit und Energieverbrauch unterteilt. Suburbanisierung, Migration und Offshoring (Verlagerung von Unternehmensaktivitäten ins Ausland) kennzeichnen den Aspekt der „Verlagerung“, während demografischer Wandel und wirtschaftliche Transformation die Ursache „Veränderung“ inhaltlich gliedern. Die insgesamt zwölf Texte des Kapitels sind von unterschiedlicher Qualität. Während manche Texte mit einer genauen Begriffsbestimmung und Prozessbeschreibung prägnant die Hintergründe der Schrumpfungsprozesse vermitteln, bleiben andere auf einer allgemeineren Ebene und vermitteln den Bezug zum Thema nur indirekt.

Es ist ein ambitioniertes und schwieriges Unterfangen, ungemein komplexe und oft gleichzeitig ablaufende Prozesse wie Schrumpfung in Karten und Diagrammen darstellen zu wollen. Umso höher ist der Versuch der Herausgeber zu werten, diese Entwicklungen visuell zugänglich zu machen. Dennoch sind die zwangsläufigen Reduktionismen nicht unproblematisch, wie schon an der dem Atlas zugrundeliegenden Definition deutlich wird: „Schrumpfende Städte […] sind Städte, die vorübergehend oder dauerhaft signifikant Einwohner verloren haben. Als signifikant gelten hierbei Einwohnerverluste von insgesamt mindestens 10% oder von über 1% pro Jahr.“ (S. 156) Eine solche Definition führt zu einer Dominanz demografischer Aspekte. Weiterhin bedingt die Systematisierung der Schrumpfungsursachen in verschiedene Kategorien eine analytische (und formale) Trennung der verschiedenen Ausprägungen von Schrumpfung, so dass die Mehrdimensionalität des Prozesses weitgehend ausgeblendet wird. Dass sich hinter der Schrumpfung stadtregionale Wandlungsprozesse verbergen, die „über rein demographische und ökonomische Prozesse hinausgehen, sich gegenseitig vielfach überlagern und tiefgreifende Auswirkungen auf alle städtischen Lebensbereiche haben“5, muss durch die Fokussierung auf den globalen Charakter von Schrumpfung und die Wahl der Darstellung in einem Atlas vernachlässigt werden.

Der Atlas zeigt Zeitpunkt, Ort bzw. Region und Ausmaß der verschiedenen Ursachen und Auswirkungen von Schrumpfung. Karten und Diagramme können aber nur begrenzt vermitteln, wie diese verschiedenen Prozesse sich gegenseitig bedingen oder verstärken. Zwar besticht der Atlas durch ein Feuerwerk von in Karten, Kreis-, Säulen- und Liniendiagrammen visualisierten Daten, doch die sich gegenseitig verstärkenden Wirkungsketten von Schrumpfung werden nicht deutlich. Im Vergleich mit anderen Definitionen von Schrumpfung fällt zudem auf, dass die Darstellung bestimmter, Schrumpfung verstärkender Prozesse wie beispielsweise die sinkende Kaufkraft und Realsteuerkraft oder die abnehmenden privaten und öffentlichen Finanzmittel fehlen.6 Auf die baulich-räumlichen Folgen von Schrumpfung wird mit der Vorstellung der Hauptfallstudien Detroit, Manchester/Liverpool, Halle/Leipzig, und Ivanovo im dritten Kapitel zwar eingegangen; auf eine übergeordnete Darstellung jenseits einzelner Beispiele wurde allerdings verzichtet.

Dennoch bietet der „Atlas der schrumpfenden Städte“ all jenen einen guten Einstieg, die sich mit dem Thema bisher wenig befasst haben. Sein Verdienst liegt vor allem darin, das Thema zu versachlichen, den globalen Aspekt zu verdeutlichen und Schrumpfung als einen Prozess darzustellen, der im historischen Rückblick ebenso wie Urbanisierung die Stadtentwicklung bestimmt hat. Dem Projekt „Schrumpfende Städte“ ist es gelungen, in sichtlich aufwändiger Recherchearbeit umfangreiches Datenmaterial zusammenzutragen, es auszuwerten und in diesem Atlas zu visualisieren. Auch für Experten bietet das Buch eine Fülle an Daten, auf die in der weiteren Diskussion über Schrumpfung zurückgegriffen werden kann.

Anmerkungen:
1 Für die 1970er- und 1980er-Jahre u.a.: Göb, Rüdiger, Die schrumpfende Stadt, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 16 (1977), S. 149-177; Mackensen, Rainer; Umbach, Eberhard; Jung, Ronald (Hrsg.), Leben im Jahr 2000 und danach – Perspektiven für die nächsten Generationen, Berlin 1984; Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987.
2 Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern. Bericht der Kommission. Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, November 2000, online unter <http://www.bmvbs.de/Anlage/original_1723/Bericht-der-Kommission.pdf.>
3 Die Zahl 125.000 bezieht sich auf den Abriss oder Rückbau von Wohnungen bis zum 31.10.2005. Vgl. Bundestransferstelle Stadtumbau Ost, Stadtumbau Ost – Stand und Perspektiven. Erster Statusbericht der Bundestransferstelle. Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesens und des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Januar 2006, S. 38, unter <http://www.stadtumbau-ost.info/literatur/pdf/Erster_Statusbericht_Stadtumbau_Ost.pdf.>
4 „Schrumpfende Städte“ ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit dem Projektbüro Philipp Oswalt, der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, der Stiftung Bauhaus Dessau und der Zeitschrift archplus. Siehe: Oswalt, Philipp (Hrsg.), Schrumpfende Städte, Bd. 1: Internationale Untersuchung, Bd. 2: Handlungskonzepte, Ostfildern 2005.
5 Brandstetter, Benno; Lang, Thilo; Pfeifer, Anne, Umgang mit der schrumpfenden Stadt – ein Debattenüberblick, in: Berliner Debatte Initial 16 (2005), S. 55-69, hier S. 55.
6 Beispielsweise definiert das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung schrumpfende Städte nach sechs Indikatoren: Bevölkerungsentwicklung in Prozent, Gesamtwanderungssaldo je 1.000 Einwohner, Arbeitsplatzentwicklung in Prozent, Arbeitslosenquote, Realsteuerkraft in Euro je Einwohner und Kaufkraft in Euro je Einwohner. Vgl. Gatzweiler, Peter, Stadtumbau – ein neuer Schwerpunkt der Städtebaupolitik des Bundes, in: Die Alte Stadt 4 (2005), S. 285-293.