S. Goebel: The Great War And Medieval Memory

Cover
Titel
The Great War And Medieval Memory. War, Remembrance and Medievalism in Britain and Germany, 1914-1940


Autor(en)
Goebel, Stefan
Reihe
Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare, 23
Erschienen
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
£ 50.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Keisinger, Tübingen

Folgender Vorgang stellt eine Grundkonstante des Forschungsbetriebes dar: Ein Wissenschaftler X tritt mit einer aufsehenerregenden Hypothese A hervor, die von der Fachwelt nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern gleichwohl intensiv wie kontrovers diskutiert wird. Ist dies eingetreten, muss man in der Regel nicht allzu lange darauf warten, bis ein Kollege Y eine alternativen Lesart der Dinge (B) erarbeitet, mit der er die Erklärungen seines Gegenüber zu relativieren, wenn nicht gar zu widerlegen sucht. Je nach Bekanntheitsgrad der beiden Protagonisten wird sich die Diskussion unter Umständen fortsetzen bzw. ausweiten. Monographien, Aufsätze und Sammelbände werden folgen und womöglich wird sogar irgendwann von regelrechten ‚Schulen’ die Rede sein, die sich um die Pionierstudien der Wissenschaftler X und Y etablieren. Eine Vielzahl von Doktoranden wird hiervon profitieren, sie werden das Forschungsfeld in unterschiedliche Richtungen zu öffnen suchen, wenngleich es in der Regel nicht allzu schwer auszumachen sein wird, wo die jeweiligen gedanklichen Wurzeln sowie Loyalitäten anzusiedeln sind. Dieser Prozess wird sich über geraume Zeit hinziehen, bis schließlich jemand auf den Gedanken kommt, dass die der Debatte zu Grunde liegenden Positionen A und B eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt liegen und auch nicht so unvereinbar sind, wie lange Zeit angenommen wurde. Diese Position ist es, zugespitzt formuliert, die Stefan Goebel mit seiner Studie einzunehmen sucht, in welcher er nach mittelalterlichen Topoi und Diskurselementen in der Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges in den Jahren zwischen 1914 und 1940 fragt.

Die Positionen, zwischen denen er sich dabei bewegt, lassen sich am besten mit zwei Studien aus der ersten Hälfte der 1990er-Jahre zusammenfassen. Es handelt sich zum einen um George L. Mosses „Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars“, zum anderen um das einflussreiche Buch von Jay Winter „Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History“.1 Vertritt Mosse die Meinung, dass Kriegerdenkmäler in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg in erster Linie als Objekte der politischen Instrumentalisierung fungierten, denen sich vor allem die radikalen Kräfte des politischen Spektrums geschickt zu bedienen wussten, wendet sich Winter gegen eine derartige politische Lesart der monumentalen Erinnerungskultur. Stattdessen betont er die Bedeutung von Denkmälern als Orten der individuellen Erinnerung und Trauer, nicht jedoch als Orte politischer Revanche- und Rachegedanken.

„The commemorations I analyse“, so betont der an der Universität Kent lehrende Goebel, „colonised the grey area between the personal and the political. […] Yet if mourning was profoundly personal, remembrance – through the establishment of social networks and the formulation of languages of commemoration – was a socially framed, value-laden practice and thus inherently political.” (S. 5) Als Zugang hierzu bedient er sich eines Phänomens, welches er in Anlehnung an Leslie Workman als “medievalism” bezeichnet, einer zumeist in verklärender Form auftretenden Darstellung des Mittelalters, die vor allem im öffentlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts eine prominente Rolle spielte und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine vielschichtige Wiederbelebung in der Erinnerung an den Krieg erfuhr. Griff man im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf mittelalterliche Begrifflichkeiten vor allem dann zurück, wenn dem industrialisierten Zeitalter eine idealisierte Kontrastfolie der Vergangenheit gegenübergestellt werden sollte, wandelte sich die Mittelalterverklärung im Erinnerungsdiskurs nach 1918 zunehmend zu einem Stilmittel, mit welchem man dem Gefühl der Ohnmacht angesichts des Massensterbens des Ersten Weltkrieges zu Leibe rückte.

Örtliche Erinnerungsbücher, in denen man in Anlehnung an die Tradition mittelalterlicher Chroniken die Namen der Gefallenen festhielt, wurden dabei als eine Möglichkeit des individualisierten Gedenkens angesehen. Im ersten von insgesamt fünf Kapiteln des Buches wird hierauf näher eingegangen. Gleichzeitig jedoch hatte man auf der nationalistischen Rechten sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien bereits frühzeitig das Mobilisierungspotential erkannt, über welches eine geschickte politische Instrumentalisierung der Kriegserinnerung verfügte. Versuche, hieraus politischen Nutzen zu schlagen, blieben nicht ohne Erfolg – wie der damals ins Leben gerufene Tannenberg-Mythos eindrucksvoll belegt.

Auch in den nachfolgenden Kapiteln wird immer wieder auf die Dualität von individueller Trauer auf der einen sowie den parallel hierzu erfolgenden Versuchen einer politischen Mobilisierung des Gedenkens an die Kriegstoten auf der anderen Seite hingewiesen. Beide Phänomene bildeten in den Jahren nach 1918 einen festen Bestandteil der Kriegserinnerung in Großbritannien und Deutschland. Sie können nur schwerlich unabhängig voneinander betrachtet werden, zumal dann nicht, wenn ausdrücklich nach dem kollektiven, sprich nationalen Charakter der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gefragt wird. „Existential memory“, schreibt Goebel an einer Stelle und grenzt sich damit in Teilen von Assmanns Konzept eines ‚kulturellen Gedächtnisses’ bewusst ab, „belonged neither exclusively to the family nor to the public realm, but penetrated both spheres. [...] Arising out of the bereavement felt by the individual, war remembrance was […] a socially framed signifying practice that could not be politically neutral.“(S. 287)

Zum Ausdruck kam dies unter anderem im Umgang mit den Zerstörungen des Krieges, dem Goebel im dritten Kapitel auf den Grund geht, das dem Gegensatzpaar von „Vernichtung“ und „Beharrung“ gewidmet ist. Nicht selten glaubte man in zerstörten Gebäuden kulturelle Mahnstätten zu erblicken, von denen ausgehend der diskursive Bogen geschlagen wurde zu Forderungen nach einer Mobilisierung weiter Gesellschaftsteile sowie einem maßvollen Umgang mit den gegebenen Ressourcen in Zeiten des Krieges.

Mit vergleichbaren Transferleistungen im Deutungsspektrum, wenngleich von unterschiedlicher inhaltlicher Natur, beschäftigt sich auch das vierte Kapitel. Es geht der Frage nach, wie man dem Massensterben auf den Schlachtfeldern einen Sinn abzugewinnen suchte. Waren es in Großbritannien vor allem Vorstellungen von Ritterlichkeit und damit verbundene Werte wie Ehre, Treue oder Pflichterfüllung, deren man sich im öffentlichen Diskurs bediente, tendierte man im Deutschen Reich zu einer verstärkten Glorifizierung der Gefallenen, deren Opfer als ein Beitrag zur Befreiung der Nation aus der sie umgebenden feindlichen Umklammerung gewertet wurde.

Dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in den nationalen Öffentlichkeiten Großbritanniens und Deutschlands jedoch nicht nur von Unterschiedlichkeiten geprägt war, sondern sich vielmehr über weite Strecken durch Gemeinsamkeiten auszeichnete, bekräftigt Goebel im letzten Kapitel. Deutsche Gymnasiasten und englische public-school boys und, so wird betont, sowohl Ostfriesen als auch Schotten sowie Katholiken in beiden Ländern hatten in ihrer Erinnerung des Ersten Weltkrieges vielfach mehr miteinander gemeinsam, als mit anderen Gruppierungen innerhalb der jeweiligen Grenzen der Nation. Dementsprechend erwies sich der innergesellschaftliche Diskurs in beiden Ländern als mindestens ebenso heterogen, wie derjenige im direkten nationalen Vergleich: „Significantly, the diversities within the national communities were as pronounced as the divergences between the nations.“ (S. 289) Vom homogenen Konstrukt eines kollektiven nationalen Gedächtnisses will Goebel demnach nichts wissen. Vielmehr lasse sich die Pluralität nationaler Erinnerungsformen, so sein Fazit, nicht nur entlang bereits bestehender sozialer und gesellschaftlicher Trennlinien verfolgen, sondern führe langfristig sogar zu deren weiterer Vertiefung.

Da Goebel sich jedoch nicht darauf beschränkt, auf die jeweiligen nationalen Unterschiede hinzuweisen, sondern darüber hinaus versucht, die damit einhergehenden transnationalen Wechselwirkungen einzubeziehen, ist es der Studie methodisch gelungen, den rein komparativen Rahmen zu verlassen. Sie unternimmt vielmehr einen Schritt in Richtung transkultureller Geschichtsschreibung, einem bekanntlich noch jungen Forschungsfeld, welches sich bisher eher durch theoretische Reflexionen, als durch praktische Versuche einer Implementierung in den Forschungsalltag ausgezeichnet hat. Alles in allem hat Goebel mit seinem Buch eine imposante, quellengesättigte Detailstudie vorgelegt, an deren Inhalt und methodischer Herangehensweise in den kommenden Jahren weder die Erinnerungsgeschichte, noch die Forschungen zum Ersten Weltkrieg vorbeigehen können.

Anmerkungen:
1 Mosse, George L., Fallen Soldiers: Reshaping the Memory of the World Wars, New York/Oxford 1990. Winter, Jay, Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995.

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