A. Holdenried u.a.: Mittelalterliche Sibyllen

: The Sibyl and her Scribes. Manuscripts and Interpretation of the Latin _Sibylla Tiburtina_ c. 1050-1500. Aldershot 2006 : Ashgate, ISBN 0-7546-3375-6 280 S. £55.00

: Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert. Hannover 2006 : Verlag Hahnsche Buchhandlung, ISBN 3-7752-5754-3 549 S. € 60,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Eva Wannenmacher, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Sibyllenliteratur des lateinischen Mittelalters ist aus ihrem hundertjährigen Dornröschenschlaf aufgewacht. In zwei neuen Studien hat sie die Aufmerksamkeit gefunden, die ihr aufgrund ihrer Bedeutung, Verbreitung und jahrhundertelangen Wirkungsgeschichte zukommt.

Mit den antiken griechischen Seherinnen und den Oracula Sibyllina der römischen Kaiserzeit haben mittelalterliche Sibyllen nur den Namen und einige Charakteristika gemein. Ursprünglich vorchristliche Seherinnen, genossen sie seit der von Vergil genannten Cumäischen Sibylle in der christlichen Welt hohes Ansehen. Augustinus, außerkanonischen Prophetien gegenüber höchst skeptisch, betrachtete sie als Zeuginnen der christlichen Botschaft und ebnete der mittelalterlichen Neubelebung der antiken Sehertradition die Bahn. So entstand eine Fülle historiografisch-prophetischer Texte, deren Autorschaft nichtbiblischen Leitfiguren wie Merlin, Hildegard von Bingen, Joachim von Fiore oder einer Sibylle zugeschrieben wurde. Zwei dieser Texte, die Tiburtinische und die Erythräische Sibylle, sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen.

Die Tiburtinische Sibylle, mit der sich Anke Holdenried beschäftigt, geht auf das 4. Jahrhundert zurück und wurde spätestens um 1000 aus dem Griechischen übersetzt.1 Danach setzte eine Flut der Überlieferung ein, von der 114 Zeugen erhalten sind. Fast die Hälfte benutzte Holdenried in situ, fast alle weiteren in Mikrofilmen. Die Tiburtina enthält eine Liste von Ereignissen und Herrschern bis zum Weltende, die von den Bearbeitern aktualisiert und teilweise zum Instrument zeitgenössischer Politik gemacht wurde, ein Aspekt, auf den man sich nach Meinung Holdenrieds bisher zu ausschließlich konzentrierte. Darum untersucht sie nach einem Überblick über den Forschungsstand die mittelalterlichen Herangehensweisen an den Text die handschriftliche Überlieferung, den Einfluss der von ihr so genannten Sibyllinischen Tradition, und bietet eine vollständige kommentierte Handschriftenliste.

Grundlage der Forschung wurde die Edition Ernst Sackurs, der die zweitälteste (11. Jahrhundert), häufigste Version der lateinischen Tiburtina herausgab.2 Für das späte 19. Jahrhundert war ein Hauptmotiv der Beschäftigung mit der mittelalterlichen Sibyllenliteratur die Suche nach dem Endkaisermotiv, der Kaisersage und dem Ursprung der deutschen Kaiseridee. Ohne mit dieser Feststellung Methoden und Ergebnisse der vorurteilsgeprägten Vorgänger insgesamt in Frage zu stellen, verdeutlicht Holdenried die Problematik, die die Erforschung der Sibyllenliteratur prägte und im Fall der Tiburtina eine thematische Engführung bewirkte. Denn mittelalterliche Prophetie ist weniger Ausdruck eines apokalyptischen Krisenbewusstseins einer breiten Gesellschaftsschicht als vielmehr Phänomen einer Bildungselite und kann daher weniger aktuelle gesellschaftliche oder politische Entwicklungen als vielmehr langlebige Grundstrukturen mittelalterlicher Kultur aufzeigen. Die Interpretation der Tiburtina als politische Prophetie zur Betonung der heilsgeschichtlichen Rolle des Kaiserreichs lässt viele Charakteristika ihrer handschriftlichen Überlieferung, die den frühen Editoren weitgehend unbekannt war, unerklärt.

‚The Sibyl and her Scribes’ befasst sich vornehmlich mit dieser Überlieferung, Schreibern und Kompilatoren, deren Textverständnis Gestalt und Rezeption der Tiburtina prägte – und wie faszinierend, innovativ und überzeugend Methodik und Ergebnisse dieser Untersuchung sind, macht die Emphase verständlich, mit der Holdenried bei allem Respekt für die Leistungen der Vorgänger für eine neue Sicht- und Herangehensweise plädiert. Die alte Perspektive, einen Text als abstrakte Größe anzusehen, von einem bestimmten Autor zu einem bestimmbaren Zeitpunkt verfasst und von mehr oder weniger verständnisvollen Kopisten mehr oder weniger textgetreu abgeschrieben, betrachtet Handschriften lediglich als „wertvolle“ oder „fehlerbehaftete“ Textzeugen. Der Umgebung des Textes oder der Textversion, den Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen und den vielfältigen daraus ersichtlichen Informationen schenkte der neuzeitliche Editor lange keine Beachtung, weil er an der mittelalterlichen Lesart seines Textes entweder nicht interessiert war oder diese bereits zu kennen glaubte. Holdenrieds Untersuchung demonstriert, wie viele Erkenntnisse der Forschung durch diese Unterlassung bislang entgehen und welche Fehlschlüsse daraus resultieren konnten.

Sie untersucht daher den Kontext der Sibylle in den Handschriften, Randnotizen und Textbearbeitungen. Frühere Untersuchungen konzentrierten sich dabei ausschließlich auf die interpolierten Herrscherlisten und das Endkaiserthema. Doch die Überlieferung beweist, dass das mittelalterliche Interesse an der Tiburtina sich keineswegs auf diese Themen beschränkte. So sind nach 1200 keine aktualisierten Herrscherlisten mehr nachweisbar, während doch über 60 jüngere Handschriften mit zahlreichen neuen Bearbeitungsvarianten entstanden. Da gleichzeitig das Interesse an der Sibylle als politischer Prophetie ungebrochen weiterlebte, wie die Erithea des 13. Jahrhunderts beweist, ist der mittelalterliche Verständniskontext der Tiburtina offensichtlich ein anderer.

Die chronologische und geografische Verteilung der Handschriften bestätigt, dass die Interpretation als politische Propaganda nur einen Ausschnitt des Gesamtbilds zeigt. Zudem lassen die Ausstattungsmerkmale der Tiburtina-Codices als Gebrauchshandschriften für klösterliche Zwecke häufig auf die Verwendung im monastischen Milieu schließen; Besitzer waren oft Klöster oder gebildete Kleriker.

Die Sibyllinische Tradition des Mittelalters, in der die Sibylle als Christusprophetin auftritt, prägte den Erwartungshorizont des Tiburtina-Lesers entscheidend. Mit der Untersuchung dieser Quellen und ihres Einflusses auf die Tiburtina betritt Holdenried Neuland, dessen Ausmaß und Bedeutung für das Mittelalter kaum überschätzt werden kann. Besonders der Sermo Vos inquam des Quodvultdeus aus dem 5. Jahrhundert, der unter den Werken des Augustinus überliefert und seit der karolingischen Reform Teil der Matutin des Weihnachtstages wurde, war im liturgischen Leben des Mittelalters allgegenwärtig.

Ähnlich aufschlussreich ist die Untersuchung des Kontexts der Tiburtina in den Handschriften. Meist umgibt geistliches oder didaktisches Material der Genres Passionsgeschichten, Viten, Mönchsregeln, Tugend- und Lasterkataloge oder liturgische Texte die Tiburtina, Texte zur antiken Geografie und Mythologie, kaum historiografische oder politische Stoffe. Der translatio imperii-Gedanke, aufgrund des bisherigen Forschungsstandes erwartbar, scheint nirgends auf. Insgesamt wird deutlich, dass das liturgische Leben als Schlüssel der handschriftlichen Überlieferung der Tiburtina anzusehen ist. Dennoch betont Holdenried in ihrer Schlussbetrachtung, dass das Verständnismodell der nichtpolitischen Sibyllinischen Tradition das vorherrschende der Editoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als einer politischen Prophetie nicht ersetzen, sondern ergänzen soll. – Zu korrigieren ist allenfalls, dass der Psalmenkommentar des Bischofs Haimo von Halberstadt nicht von diesem, sondern von einem anonymen Autor des 12. Jahrhunderts geschrieben wurde.3 Die äußere Sorgfalt, die auf das Buch verwendet wurde, das gründliche Register, klar strukturierte Handschriftenlisten und Übersichtstabellen erfreuen. Insgesamt ist zu wünschen, dass möglichst nicht nur die von Holdenried als Desiderate der Forschung bezeichnete Untersuchung der Einflüsse der populären Sibyllentradition und die Neuedition der Sibylla Tiburtina aus ihrer Hand folgen.

Nach dieser zukunftsweisenden, inspirierenden Lektüre mutet die gelehrte Studie Christian Jostmanns zur Sibilla Erithea Babilonica ganz anders an. Die Erythräische Sibylle, benannt nach einer der ältesten Sibyllen im griechischen Kulturkreis, hier als mittelalterliche Sibylle der mittelalterlichen Schreibweise folgend Erithea genannt, entstand als anonyme Prophetie vor der Mitte des 13. Jahrhunderts. Ihre Hauptthemen sind der Konflikt zwischen Griechen und Lateinern vom Kampf um Troja bis zur Eroberung Konstantinopels 1204, die Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser und die Zukunft der Kirche bis zum nahen Weltende. Italienische Franziskaner, aber auch Matthew Paris 4 und italienische Humanisten (Petrarca, Salutati) rezipierten sie. Mit 72 Exemplaren ist auch sie häufig überliefert. In fünf Kapiteln beschäftigt sich Jostmann mit dem Forschungsstand, der Überlieferung des Textes in seinen verschiedenen Rezensionen, der Rezeption im 13. Jahrhundert, analysiert seinen Inhalt und untersucht die päpstliche Kurie als Ursprungs- und erstes Rezeptionsmilieu der Erithea. Ein Anhang enthält Handschriftenbeschreibungen, Editionen von drei der vier Versionen der Sibilla Erithea sowie mehrere Register.

Auch Jostmann beschäftigt sich mit der Frage nach dem Ort der Prophetie in der Gesellschaft. Doch dass Prophetie bisher ausschließlich als soziales Randphänomen lokalisiert worden sei (S. 5), unter Gesellschaftskritikern und Revolutionären, widerlegt schon die auch hier oft genannte ,Prophetia ignota’ des 12. Jahrhunderts, die im Nachlass eines Kardinals aufgefunden wurde und dem Interesse der Kurie ihr literarisches Nachleben verdankte. Auch andere mittelalterliche Visionen und Visionäre waren durchaus in der Mitte der Gesellschaft verankert, wie Hildegard von Bingen. Sogar in historiografischen Texten finden sich Prophetien wie beide hier thematisierte Sibyllen.

Jostmanns Analyse der Entstehungsgeschichte der Sibylle in je zwei Redaktionen einer kürzeren und einer längeren Version setzt voraus, dass die von ihm angenommene Chronologie der Entstehung und seine Beschreibung des Verhältnisses der Versionen untereinander zutreffen. Seine Ergebnisse sind dabei ebenso neu wie überzeugend. Die kürzere Version wird auf 1241, die längere auf 1249 datiert. Die Breite der Überlieferung und des Variantenreichtums der Zeugen lassen viele der Handschriften nur annähernd einer Redaktion zuordnen, zumal sich die Entstehungsgeschichte der Erithea-Versionen häufig berührt und vielfältige wechselseitige Beziehungen Spuren in den Handschriften hinterließen. Ihr Überlieferungskontext ist erstaunlich homogen: Die meisten Erithea-Handschriften enthalten außerdem prophetische, joachitische, spätere Handschriften auch theologische oder historische Texte. Das Interesse an der Erithea als Prophetie endet naturgemäß mit dem zeitlichen Ablauf ihrer Vorhersagen; ihre weitere Überlieferung verdankt sich nach Jostmann zunächst dem „joachitischen Winterschlaf“ (S. 66), später humanistischem Interesse an dem antiken Stoff. Neben Alexander Minorita und Matthew Paris ist die pseudojoachimische ,Expositio super Sibillis et Merlino’ ein wichtiger Zeuge ihrer Rezeption, vermutlich als Niederschlag der Auseinandersetzung verschiedener süditalienischer Ordensangehöriger. Auch hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte kommt Jostmann zu anderen Ergebnissen als frühere Arbeiten, leider ohne deren Argumente zu diskutieren. Grundsätzlich unterscheidet er Produktion und Rezeption; der Kurzschluss vom einen auf das andere führe notwendigerweise zu einer Aporie (S. 114): Diejenigen Kreise, die als Überlieferungsträger der Erithea auszumachen sind, sind nicht notwendigerweise auch ihr Entstehungsort (doch ist der Umkehrschluss darum zulässig?). Als Ergebnis der inhaltlichen „Analyse des geistigen Horizonts, in dem die Sibilla Erithea zu verorten ist“, lokalisiert Jostmann „das Papsttum nach Innocenz III.“ als geistige Heimat, die Kurie als Entstehungsort der Erithea (S. 238) und beschließt, „die bisherige Auffassung von der Textgeschichte vollends zu revidieren“ (S. 337). Dennoch bleiben, bei aller Gründlichkeit und Materialfülle, methodisch und inhaltlich einige Wünsche offen. Nicht nur werden frühere Arbeiten unter Hinweis auf ideologische Vorbelastetheit oder unfertigen Bearbeitungsstand als „absurd“ (S. 10) oder „methodisch obsolet“ (S. 12) disqualifiziert oder schlicht nicht diskutiert (S. 81), auch die in der Forschung vorherrschende These von der joachitischen Provenienz der Erithea wird weniger widerlegt als vielmehr durch eine, wenn auch interessante, Alternative ersetzt. Der Ton, mit dem beispielsweise Marjorie Reeves und Hans Martin Schaller bedacht werden (S. 370), und der Mangel einer ernsthaften Auseinandersetzung befremdet. Die Hypothese, dass der oder die Verfasser der Erithea Angehörige(r) der Kurie war(en), hochgebildet, Romkenner, mit politischen Überzeugungen und Interesse an Vatizinien, ist nachvollziehbar, doch schließt sie frühere Annahmen ebenso wenig aus wie sie selbst jemals beweisbar sein wird. Das geistige Profil der Joachiten, dessen Konturen nicht leicht zu erhellen sind, ist demjenigen der kurialen Bildungselite vielleicht nicht so unähnlich, dass Überschneidungen ausgeschlossen sind. Dafür spricht etwa der Lebensweg des kuriennahen Joachim-Freundes Rainer von Ponza, die Hochschätzung des Florenserordens durch Hugolin von Ostia (Gregor IX.) oder die Kenntnis und Benutzung der Schriften des kalabresischen Abtes bei Innocenz III., die das Bild der einseitigen Verurteilung Joachims durch Innocenz nachhaltig modifizierte.5 Auch die beobachtete Nähe der Erithea zu Süditalien und der griechischen Kirche spricht eher für die alte These. Insgesamt möchte man Jostmann nicht um mehr, sondern lieber um weniger positive Festlegungen und indikativische Aussagen über die Autorschaft eines Textes bitten, der sich als pseudanonyme Prophetie der Beantwortung dieser Frage naturgemäß verschließt. Eine interessante Alternative zu bisherigen Forschungsergebnissen bietet er allemal.

Das technische Niveau der Untersuchung variiert. Erstaunt in den Zitaten aus dem Venezianer Druck des Apokalypsenkommentars Joachims von Fiore mitunter in jeder Zeile eine, zum Teil absurde Verlesung, sind die Handschriftenbeschreibungen insgesamt weder fehlerarm noch auf dem neuesten Stand, was z.B. Textidentifizierung, Editionen sogar verwandter Texte oder vorhandene Beschreibungen und Informationen über die Handschriften angeht6, die Initia der Texte in den Handschriftenbeschreibungen teilweise grotesk falsch, so ist doch die kritische Edition des Textes von hoher Qualität.

Anmerkungen:
1 Alexander, Paul J., The Oracle of Baalbek. The Tiburtine Sibyl in Greek Dress, Dumbarton Oaks 1967, mit einer Untersuchung des Verhältnisses der lateinischen Versionen.
2 Sackur, Ernst, Sibyllinische Texte und Forschungen, Halle 1898, Nachdruck Turin 1963, S. 117-187.
3 Vgl. Barré, Henri, Art. ,Haymo de Auxerre’, in: Dictionnaire de Spiritualité Ascétique et Mystique, vol. VII/1, Paris 1969, Sp. 93.
4 Irritierenderweise spricht Jostmann von „Matthaeus von Paris“, obwohl auch die zitierte Literatur (R. Vaughan u. a.) erklärt, dass es sich dabei um eine frühe Nachnamensform handelt, keinesfalls um eine Herkunftsangabe.
5 Egger, Christoph, Papst Innocenz III. als Theologe. Beiträge zur Kenntnis seines Denkens im Rahmen der Frühscholastik, in: Archivum Historiae Pontificiae 30 (1992), S. 108f.; Robb, Fiona, Did Innocent III personally condemn Joachim of Fiore?, in: Florensia, Bollettino del Centro Internazionale di Studi Gioachimiti 7 (1993), S. 77-91.
6 Die behaupteten Auslassungen in der Foliierung von Madrid 9731 sind weder am Original, noch anhand der Lagenformel oder anderen Beschreibungen nachvollziehbar; vgl.: Wannenmacher, Julia Eva, Hermeneutik der Heilsgeschichte. De septem sigillis und die sieben Siegel im Werk Joachims von Fiore, Studies in the History of Christian Traditions 118, Leiden 2005, S. 269f. – ein Argument für die Unverzichtbarkeit der Handschriftenbenutzung.

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