S. Morrissey: Suicide And the Body Politic in Imperial Russia

Cover
Titel
Suicide And the Body Politic in Imperial Russia.


Autor(en)
Morrissey, Susan K.
Reihe
Cambridge Social and Cultural Histories
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 81,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Mannherz, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Susan Morrissey untersucht in ihrem neuen Buch die gesellschaftlichen, politischen, religiösen und symbolischen Bedeutungen von Selbstmord. Selbstmord, so Morrissey, ist eine Ausnahmeerscheinung und ein oft politischer Angriff auf Normalität, der nach Erklärung verlangt (S. 1, 113). Die Autorin setzt sich zum Ziel, den Umgang mit diesem Phänomen vom Moskauer Großfürstentum bis in die 1920er-Jahre in elf chronologisch angeordneten Kapiteln zu analysieren. Durch das Prisma des Selbstmords behandelt sie auch die großen Fragen dieser Jahrhunderte, so z.B. die nach Existenz und Bedeutung von Moderne und Säkularisierung. Morrisseys Absicht ist dabei nicht, die großen Metaerzählungen wieder auferstehen zu lassen. Ihr geht es darum, die Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten in der Entwicklung der russischen Geschichte aufzuzeigen.

In einem ersten Kapitel zum Selbstmord im russischen Mittelalter untersucht die Autorin die oft unklare Trennung zwischen Selbstmord und Märtyrertod. Erst als unter Peter I. durch die Massenselbstmorde der Altgläubigen Suizide hoch politisch wurden, wurde Selbstmord in das russische Strafrecht aufgenommen und dort als ein Verbrechen gegen Gott und den Zaren definiert. Was jedoch einen Tod zum Selbstmord machte, war nicht einfach zu definieren. So klassifizierte Patriarch Filaret das eigene Herbeiführen des Todes durch Erhängen, Erstechen und Vergiften, aber auch durch Alkohol oder Jahrmarktschaukeln als Grund, ein christliches Begräbnis zu verwehren. In dieser Aufzählung wird die Verknüpfung von Selbstmord und Moral deutlich, die in den kommenden Jahrhunderten immer wieder, wenn auch in unterschiedlichen Variationen, von Bedeutung sein wird. Fragen nach dem Geisteszustand und den Absichten des Selbstmörders kurz vor seinem Tod wurden ebenfalls bereits im 16. Jahrhundert aufgeworfen.

Mit der Aufklärung bildete sich ein Ehrenkodex für die Eliten heraus, nach dem Selbstmord als Mittel erschien, Ehre, Rechte und die persönliche Selbstbestimmtheit des Individuums zu verteidigen bzw. zu erhalten. Wie Morrissey beobachtet, ähnelte der Selbstmord damit dem Duell. Selbstmord der Ehre halber konnte aber auch sehr politische Implikationen haben, denn er beschränkte die absolute Macht des Herrschers über seine Untertanen. So verwundert es nicht, dass Selbstmord im Zusammenhang mit dem Dekabristenaufstand wiederholt thematisiert wurde und dass literarische Verarbeitungen des Themas nach 1789 der Zensur zum Opfer fielen. Diesem Kapitel gelingt es auf beeindruckende Weise, die für Russland berühmten Verflechtungen von Literatur und Leben im 18. Jahrhundert darzustellen.1

In diesem Jahrhundert verfassten Selbstmörder auch zum ersten Mal Abschiedsbriefe, in denen sie ihre Taten erklärten und diesen häufig eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zusprachen. Für zeitgenössische Kommentatoren blieb der Suizid jedoch mit moralischen Fragen verknüpft und wurde nicht selten mit Verweisen auf Atheismus, Rebellion und Laster erklärt. Erklärungen dieser Art, so Morrissey, versuchten dem Selbstmord seine politische Bedeutung zu nehmen.

Eine folgenreiche Neuerung für den Umgang mit dem Selbstmord war seine statistische Erfassung seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die staatlich geförderte mathematische Auswertung von Selbstmorden war jedoch aus offizieller Sicht eine zweischneidige Angelegenheit. “By using statistics as a window into the moral condition of the nation, these works began to project an autonomous social sphere.” (S. 91) Die Statistik stellte sowohl den absoluten Herrschaftsanspruch des Zaren als auch die Idee vom wohlorganisierten Staat in Frage.

Zwei weitere Kapitel in Morrisseys Buch widmen sich den rechtlichen Folgen von (versuchtem) Selbstmord. Die kirchliche Praxis, Selbstmördern ein christliches Begräbnis zu verwehren, wurde zunehmend kritisiert und z.B. von Ärzten untergraben, die Selbstmördern Geisteskrankheit attestierten und so eine religiöse Bestattung ermöglichten. In Bezug auf versuchten Selbstmord (mit körperlicher Züchtigung, Gefängnis, Verbannung und religiöser Buße geahndet) beobachtet Morrissey eine abnehmende Härte der Strafe. Diese milderen Urteile, so Morrissey, kündigten bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den aufgeklärten Bürokraten der Großen Reformen an.

Suizid hatte jedoch nicht nur für den Selbstmörder juristische Auswirkungen. Das Strafrecht von 1845 stellte den Machtmissbrauch sozial höher gestellter Personen, die durch ihre Grausamkeit Untergebene in den Selbstmord trieben, unter Strafe. Die Frage nach dem Missbrauch von Autorität war somit ein fester Bestandteil von polizeilichen Ermittlungen in Suizidfällen und warf schwierige Fragen in Bezug auf Russlands Regierungsform auf. Nicht selten wurden Gutsherren verurteilt, wenn ein Gericht davon überzeugt war, dass ihre Taten einen Untergebenen dazu gebracht hatten, sich die Schlinge um den Hals zu legen. Die soziale Dynamik, die sich bei solchen Untersuchungen zwischen Bauern, Gutsherren und Vertretern des Staats entwickelte, wird von Morrissey auf beeindruckende Weise beschrieben. Nach Morrissey war der juristische Umgang mit Selbstmord eng mit dem “Szenarium der Macht”2 Nikolaus I. verbunden. “The maltreatment of serfs directly raised the question of the behavior befitting the nobility. [Prosecution] produced a gendered representation of patriarchal justice with clear distinctions drawn between passive victims and their active protectors.” (S. 142, 143) Der gute Familienvater, nicht der tugendhafte Staatsdiener, entsprach dem Ideal des Zaren.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren es vor allem Statistik, Medizin und die Sozialwissenschaften, die versuchten, das Phänomen des Suizids zu erklären. Selbstmord wurde nun als ein Produkt von Modernisierung und Urbanisierung verstanden, hervorgerufen durch Alkoholismus, Armut, Kriminalität, Egoismus sowie Geistes- und Nervenkrankheiten. Dieser Diskurs war eng mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie sowie der Entartungslehre verknüpft, er war aber auch mit reformerischen Absichten verbunden: durch Sozialreform sollte der Morast trockengelegt werden, auf dem Selbstmord gedieh. Diese sozial- und naturwissenschaftliche Annäherung an den Selbstmord hatte zur Folge, dass seine Kriminalisierung in den Gesetzestexten nicht mehr überzeugte.

Wie Juristen, Mediziner, Kleriker und Bauern im Kontext der Großen Reformen mit als überholt empfundenen Gesetzestexten und zeitgenössischen wissenschaftlichen Erklärungen umgingen, ist Thema des achten Kapitels. Juristen verfolgten dabei das Ziel, Religion und Aberglauben aus der Rechtsprechung zu tilgen. Gerichtsmediziner, insbesondere Psychiater, nahmen für sich in Anspruch, als Einzige zuverlässige Urteile über vermeintliche Selbstmorde und den Geisteszustand von Selbstmördern fällen zu können. Die Kirche und die ländliche Bevölkerung hingegen verwahrten sich davor, von Juristen und Medizinern vorgeschrieben zu bekommen, wo und wie sie ihre Toten zu bestatten hätten. Die Pathologisierung von Selbstmord führte vor allem für die Kirche, aber auch für Juristen zu einer problematischen Relativierung des freien Willens.

Im späten 19. Jahrhundert wurde Selbstmord in Abschiedsbriefen und in der aufkommenden Massenpresse mehr und mehr zu einem politischen Akt, der als einziger Ausweg des Individuums aus dem Despotismus der patriarchalischen Familie, des Schulsystems und des Staats erschien. Vor allem in Bezug auf die revolutionäre Bewegung kam die mittelalterliche Nähe zum Märtyrertod in diesem Kontext wieder zum Vorschein. Selbstmorde von Gefangenen oder Verbannten, teils kurz vor der Vollstreckung von Todesurteilen ausgeführt, nahmen dem Autokraten die Macht über den Körper seiner Untertanen und unterstrichen die Eigenständigkeit des Individuums und des Revolutionärs.

Nach der Revolution 1905 konstatierte die Presse eine Selbstmordepidemie im Russischen Reich, die von vielen Lesern als Anklage gegen die Regierung verstanden wurde. Aber auch wenige Jahrzehnte vor dem Ende der Romanowdynastie blieb Selbstmord ein ambivalentes Phänomen. Während die vielfachen Selbstmorde in den Gefängnissen des Landes für den Symbolisten Mereschkowski auf die Passion Christi und eine tiefere, transzendente Wahrheit verwiesen, sahen konservative Kommentatoren in diesem Phänomen lediglich Krankheit und Wahnsinn. Erst nach der Oktoberrevolution verlor der Selbstmord seine revolutionäre Nähe zum Märtyrertum und wurde zur antisowjetischen Handlung uminterpretiert.

Susan Morrisseys elegant geschriebene und trotz ihres Untersuchungsgegenstands bisweilen sehr unterhaltsame Studie zeigt die Gleichzeitigkeit von scheinbar Ungleichzeitigem und die Ambiguitäten historischer Entwicklung am Beispiel des Selbstmords. Die Autorin impliziert aber doch, dass sich in der Abfolge der komplexen und oft widersprüchlichen Interpretationen von Suizid ein roter Faden erkennen lässt.

Meine einzige Kritik richtet sich an den Verlag. Bei einem nicht gerade läppischen Preis von 81,90 Euro hätte sich Cambridge University Press durchaus mehr Mühe mit Satz und Druck geben können. Die beachtliche Anzahl von Druck- sowie Satzfehlern hat dieses hervorragende Buch wahrlich nicht verdient!

Anmerkungen:
1 Lotman, Iurii M., The Poetics of Everyday Behavior in Eighteenth-Century Russian Culture, in: Ginsburg, Lidiia Ia.; Uspenskii, Boris A. (Hrsg.), The Semiotics of Russian Cultural History, Ithaca 1985, S. 67-94.
2 Wortman, Richard S., Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Princeton 1995.

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