W. Lenarczyk u.a. (Hrsg.): KZ-Verbrechen

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Titel
KZ-Verbrechen. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihrer Erinnerung


Herausgeber
Lenarczyk, Wojciech; Mix, Andreas; Schwartz, Johannes; Springmann, Veronika
Erschienen
Berlin 2007: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Köhler, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster/Geschichtsort Villa ten Hompel

Erstmals fand der jährliche Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager außerhalb des deutschsprachigen Raumes im ostpolnischen Lublin statt. Die Ergebnisse dieser internationalen und interdisziplinären Tagung sind nun im Sammelband „KZ-Verbrechen“ veröffentlicht. Die vielschichtige Forschungssituation spiegelt sich in den Schwierigkeiten der Definition des Titels wider: Die Herausgeber subsumieren unter „KZ-Verbrechen“ Tatbestände, die im vom Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS betriebenen Konzentrationslagersystem, den SS-Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ und darüber hinaus sogar in polnischen und sowjetischen Ghettos und Zwangsarbeiterlagern, in denen Juden interniert waren, verübt wurden. Dieser sehr weit gespannte Bogen birgt die Gefahr einer Verallgemeinerung von nationalsozialistischen Verbrechen unter einer Pauschaltitulierung „KZ-Verbrechen“, ohne dass einzelne Delikte in einem solchen Lager begangen wurden. Gleichwohl ist der Ansatz als Versuch zu werten, sich von der juristischen Definition der NS-Gewaltverbrechen abzugrenzen und einen Terminus historiographisch zu besetzen.

Die 15 Einzelbeiträge teilen sich in mehrere Themenkomplexe auf: Während sich die ersten Aufsätze mit Forschungen zu „KZ-Verbrechen“ beschäftigen, analysiert ein nächster Block die Gestaltungsgeschichte von Gedenkstätten. Die Verarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in belletristischer Literatur und Filmen bildet sodann einen weiteren Schwerpunkt, bevor als Ausblick aktuelle und zukünftige Aufgaben von KZ-Gedenkstätten diskutiert werden. Aufgrund der Fülle der Beiträge soll hier ein exemplarischer Querschnitt die solide und innovative Forschungsarbeit verdeutlichen.

Alexander Friedman geht anhand des Beispiels der Stadt Hlybokae im ehemals polnischen Weißrussland der Ghettoisierung der dortigen jüdischen Bevölkerung nach. Damit wird ein geographischer Raum untersucht, der bisher nicht im Fokus der Forschung stand. Der Erkenntniswert des Beitrags liegt besonders im Vergleich der Analysen des Autors mit Forschungen zur Ghettoisierungspolitik in Großstädten wie Minsk. Friedman stützt sich im Wesentlichen auf Berichte überlebender Juden Hlybokaes. So wird eine in dieser Dichte bisher selten gezeigte Innenansicht antijüdischer lokaler Gewaltpolitik aus Opfersicht möglich. Dieser zum Teil sehr subjektiven und insofern auch problematischen Quellengattung versucht der Autor amtliche Parallelüberlieferungen entgegenzusetzen, um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Von den etwa 12.000 Einwohnern der Stadt waren zu Kriegsbeginn etwa 7.000 Juden. Zwangsarbeit und Völkermord, so das Fazit Friedmans, gingen in Hlybokae systematisch ineinander über. Das jüdische Ghetto entstand am Rand der Stadt in unmittelbarer Nähe zur späteren Hinrichtungsstätte Borak, wo Polizeitruppen 1942/43 Mordaktionen durchführten.

Die Karriere eines nationalsozialistischen Täters im weißen Kittel beleuchtet Marco Pukrop. Anhand der Überlieferungen zu Dr. Heinrich Rindfleisch rekonstruiert er Schuld und Mittäterschaft im Bereich der Medizinverbrechen. Als jungem Mediziner, 1916 in Straßburg geboren und 1942 als Arzt approbiert, standen Rindfleisch relativ früh in seiner Laufbahn die verbrecherischen Handlungsspielräume innerhalb des SS-Lagersystems offen. Im März 1943 wechselte er, nachdem er zuvor schon in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück gearbeitet hatte, ins KZ Majdanek. In seine dortige Dienstzeit fallen die größten Vernichtungsaktionen durch Vergasungen und Erschießungen. Im Rahmen des Majdanek-Prozesses vor dem Düsseldorfer Landgericht sagten Zeugen aus, Rindfleisch habe persönlich durch das so genannte „Abspritzen“ Patienten getötet. Die Staatsanwälte beschuldigten den Arzt, dem im Nachkriegsdeutschland die Fortsetzung seiner Karriere gelang, in leitender Funktion Typhusversuche vorgenommen und Selektionen zur Vergasung geleitet zu haben. Wegen seines unerwartet frühen Todes (1969) konnte Rindfleisch jedoch nicht mehr im Rahmen der Hauptverhandlung (1975–1981) angeklagt werden. Pukrop stellt Überlegungen zu den Handlungsmotiven Rindfleischs an. Da dieser wegen eines Augenschadens nicht fronttauglich war, formuliert der Autor die These, dass Rindfleisch das soldatisch-heroische Anforderungsprofil der SS durch innere Härte und konsequente Umsetzung der rassischen Weltanschauung der SS auszugleichen versuchte, um sich so auch vor den Kameraden der Schutzstaffel als „männlich“ zu bewähren.

Mit einer besonders perfiden Art der Folter in nationalsozialistischen Lagern befasst sich Veronika Springmann. Die Anordnung von SS-Lagerpersonal und Kapos an die Häftlinge zum „Sport machen“ bedeutete nichts anderes als erzwungene Bewegung und Folter, die mitunter zum Tod führen konnte und oftmals als Selektionsmittel ausgenutzt wurde. Die Autorin klassifiziert das Phänomen als spezifisch nationalsozialistische Inszenierung von Gewalt: Ein „höllisches Theater“ wurde veranstaltet, wie es ein Überlebender charakterisierte. Oftmals wurde es als sadistisches Eingangsritual des SS-Personals benutzt, weshalb dieses Gewaltphänomen in sehr vielen Opferschilderungen vorkommt und unabhängig voneinander als „Sport machen“ umschrieben wird. Das SS-Lagerpersonal konnte seine vermeintliche rassische Überlegenheit zynisch an den geschwächten Häftlingen demonstrieren.

Den erinnerungsgeschichtlichen Teil eröffnet Zofia Wóycicka mit der ikonographischen Analyse eines künstlerischen Entwurfs für die Gedenkstätte des Vernichtungslagers Treblinka aus dem Jahr 1948, der jedoch niemals umgesetzt wurde. Die Gestaltungsidee sah vor, christliche und jüdische Formensprachen miteinander zu verbinden. Es sollte ein von einer Steinmauer umzäunter Friedhof in Form eines Davidsterns entstehen, in dessen Zentrum ein Opfertisch und eine Dekalogtafel geplant waren, auf der das Gebot „Du sollst nicht töten“ vermerkt werden sollte (eine Grundidee, die fünf Jahrzehnte später der Theologe Richard Schröder in der Debatte um das Berliner „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ äußerte). In einer Halle wollten die Architekten ein Modell des Vernichtungslagers präsentieren und in mehreren Sprachen den Leidensweg der jüdischen Lagerinsassen dokumentieren. Als bemerkenswert arbeitet Wóycicka heraus, dass in dem Entwurf so gut wie überhaupt nicht an den Häftlingsaufstand in Treblinka vom 2. August 1943 erinnert worden wäre. Die Gründe, warum der Entwurf nie in die Tat umgesetzt wurde, sieht Wóycicka in einer wachsenden Tabuisierung des Gedenkens an die Shoah in den Staaten des Warschauer Paktes sowie in der zunehmenden Stalinisierung, die auch das Verschwinden religiöser Symbole zur Folge hatte. Zudem erschien der Entwurf als zu unheroisch. Die „Mehrstimmigkeit“ des präsentierten Entwurfs musste schließlich einer Geschichtspolitik unter kommunistischem Diktat weichen.

Mit dem Werk von Günter Grass befasst sich Sheridan Burnside. Im Fokus ihrer literaturwissenschaftlichen Untersuchung steht die Frage, in welcher Form Grass im letzten Teil seiner Danziger Romantrilogie („Hundejahre“) das Konzentrationslager Stutthof thematisiert. Ein wichtiges Motiv ist dort ein Knochenberg, den die meisten handelnden Personen am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen wollen, den sie durch eine Wette der Protagonistin Tulla Pokriefke aber doch in ihr Weltbild aufnehmen müssen. Der menschliche Knochenhaufen im Konzentrationslager Stutthof wird bei Grass in Form eines Märchens eingeführt, hinter dem eine verdrängte, bittere Wahrheit der deutschen Geschichte steht. Burnside verfolgt die literarische Figur der Tulla Pokriefke über die „Hundejahre“ hinaus und entdeckt sie und die erneute Erwähnung des Leichenberges von Stutthof in der Novelle „Im Krebsgang“ aus dem Jahr 2002, wo Grass die Flüchtlingsgeschichte rund um den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ thematisiert. Erzähler ist nun Tullas Sohn Paul, der nicht weiß, wer sein Vater ist. Etliche Figuren kommen in Frage, so etwa ein Luftwaffenhelfer aus der Flakbatterie, von der aus man den Leichenberg sehen konnte. Vielleicht war es aber auch ein ukrainischer Zwangsarbeiter, der nur wegen des Verdachts, ein Verhältnis mit Ulla gehabt zu haben, ins Konzentrationslager deportiert worden war. Burnside liefert damit eine erweiterte Sicht auf Grass’ Werk, der, auch wenn er das deutsche Flüchtlingsdrama am Ende des Zweiten Weltkrieges in den Mittelpunkt setzt, stets den historischen Gesamtrahmen im Blick behält.

Aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive heraus kritisiert Christian Gudehus im letzten Teil des Sammelbandes Bestrebungen, Ausstellungen und Konzepte in KZ-Gedenkstätten dahingehend neu zu definieren, dass Menschenrechtsdebatten ins Zentrum rücken. Stattdessen solle, so Gudehus, das Gedenken an die ermordeten Menschen wieder den Schwerpunkt bilden. Man tue diesen Menschen ein zweites Mal Unrecht, wenn man sie auf einen Opferstatus reduziere, statt etwa an ihre Karrieren, Stärken und Schwächen um ihrer selbst willen zu erinnern. Eine universalisierende „Holocaust Education“ lehnt Gudehus nicht prinzipiell ab, doch sieht er hierfür in den ehemaligen Konzentrationslagern nicht die richtigen Orte.

Der Sammelband „KZ-Verbrechen“ offeriert dem Leser mehr, als der Haupttitel vermuten lässt. Neben bisher nicht im Mittelpunkt der Forschung stehenden Verbrechen in Konzentrationslagern und weiteren NS-Lagertypen werden literarische Verarbeitungen der Nachkriegszeit zu NS-Gewaltverbrechen thematisiert sowie historische, aktuelle wie zukunftsweisende didaktische Konzepte der Gedenkstättenpädagogik analysiert.

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