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Titel
Imre Nagy. Vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstandes. Eine politische Biographie 1896-1958


Autor(en)
Rainer, János M.
Erschienen
Paderborn 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Árpád von Klimo, Zentrum für Zeithistorische Forschung

Fast zwei Jahrzehnte hat sich János M. Rainer, Direktor des Instituts zur Erforschung der Revolution von 1956, mit der Biographie der Symbolfigur des ungarischen Aufstands beschäftigt. Der deutsche Untertitel der Kurzfassung des Werkes, das in Ungarn ohne erklärende Unterschriften erschienen war, deutet auf eine Art Entwicklungsroman hin. Tatsächlich hat Rainer die Lebensgeschichte des im Juni 1958 gehenkten Ministerpräsidenten an die Leitfrage geknüpft: Wie kam es, dass ausgerechnet er zum Märtyrer dieses für Ungarn zentralen zeithistorischen Ereignisses werden sollte? Wie konnte dieser ansonsten eher zurückhaltende, seine Loyalität zur Partei und seine Treue zur Sowjetunion immer wieder unterstreichende Funktionär zur entscheidenden Mittlerfigur werden zwischen der kommunistischen Diktatur und der spontan entstandenen, aber sehr breiten Volksbewegung, die die Überwindung der Diktatur, zumindest in der stalinistischen Form, anstrebte? Dies sind die Leitfragen des Buches, das die neueste Forschung und das in den letzten Jahren aus verschiedenen Archiven in Ungarn, Russland sowie Rumänien zusammengetragene Material souverän und elegant zusammenfasst. Im Anhang finden sich neben Photographien und Faksimiles sehr nützliche Kurzbiographien sowie eine Liste mit Erläuterungen zu Parteien, Organisationen und Institutionen.

János Rainer reflektiert und diskutiert verschiedene Thesen, stellt weit verbreitete Vorstellungen und Irrtümer in Frage und macht immer wieder die Offenheit der Situationen, die Kontingenz des historischen Geschehens deutlich. Daher geht die knapp gehaltene Darstellung über eine bloße Biographie Imre Nagys weit hinaus. Erzählt wird zugleich die Geschichte der ungarischen Arbeiterbewegung und ihres, in der russischen Gefangenschaft während des Ersten Weltkriegs zum Bolschewismus übergegangenen, zahlenmäßig zumeist eher kleinen Flügels, der 1945-1948 allmählich mit sowjetischer und einheimischer Hilfe die Macht übernahm und sie 1956 innerhalb von Stunden verlor. Wie es dazu kam, dass Imre Nagy, bis dahin Parteisoldat, Anfang November 1956 zum nationalen Aufstand überging, seine Bindung an die Partei aufgab, die vier Jahrzehnte seine politische und emotionale Heimat war, erklärt János Rainer auch durch weiter zurückliegende Erfahrungen. Als ungarischer Bolschewik der ersten Stunde, der noch dazu die stalinistischen Säuberungswellen überstand, die beinahe den verbliebenen Rest der ungarischen KP ausgelöscht hätten, war Nagy nach 1945 relativ unantastbar geworden. Die Parteiführung um Rákosi und Gerő schwankte immer wieder, für was und in welch herausgehobener Position sie den ausgewiesenen Agrarexperten einsetzen sollte, der wenig Ähnlichkeit mit den anderen Überlebenden des Stalinismus hatte. Zu kleinbürgerlich, zu professoral, zu lebensfroh erschien der Habitus von Imre Nagy. Schade, dass János Rainer nicht die zahlreichen Photographien von Nagy für eine genauere Analyse dieses Phänomens verwendet hat. Dies hätte sicher zur Erklärung der großen Popularität und damit auch zum Dilemma, in dem sich Nagy im Herbst 1956 befand, beitragen können.

Nagy hatte schon im sowjetischen Exil, mehr noch in der Phase des „forcierten Aufbaus“ des Sozialismus 1948-1952, die katastrophale Folgen für die Bevölkerung und die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns haben sollte, vor Fehlentwicklungen im Agrarsektor gewarnt. Im Unterschied zu den Ideen eines uniformen, sowjetischen Weges zum Sozialismus, wie er in der Zeit des Hochstalinismus gepredigt und mit Gewalt und Propaganda durchgesetzt wurde, hatte er für stärker national geprägte allmähliche Übergänge zum neuen Gesellschaftssystem plädiert. Dies machte ihn 1953, nach Stalins Tod, kurzzeitig zum Protagonisten eines „Neuen Kurses“. Aber die Stalinisten waren noch nicht geschlagen, Rákosi blieb Parteisekretär. Es gelang ihm, Nagy 1954 wieder zu stürzen und aus der Partei ausschließen zu lassen. Anders als in anderen sozialistischen Staaten kam es in Ungarn zur Spaltung der Partei, wodurch ein politisches Vakuum entstand, in das die Demonstranten und die (wenigen) Aufständischen im Herbst 1956 zu ihrer eigenen Überraschung eindringen konnten. Die Partei zerfiel binnen Stunden, die Staatsmacht folgte ihr in diesem Prozess. In dieser völlig undurchsichtigen Situation verließ Nagy die inzwischen aber auch völlig unklar gewordene Parteilinie und ging endgültig in das – außerordentlich heterogene – Lager der Aufständischen über, die in seinen Augen allerdings nach wie vor für den Sozialismus kämpften. Es gelang ihm jedoch nicht, die Volksbewegung unter seine Kontrolle zu bringen, durch unvorsichtige Äußerungen am 4. November 1956 machte er sogar einigen Kämpfern Mut, die auf verlorenem Posten standen, wie János Rainer kritisch bemerkt (S. 158-160). Andererseits führte dies auch zur Identifizierung mit dem eigentlich hilflos agierenden Ministerpräsidenten, die bis heute fortwirkt: „Er verschaffte der ungarischen Gesellschaft durch seine Bemühungen einen trotz der Niederlage kraftspendenden historischen Augenblick, der ihr die Möglichkeit bot, sich mit ihrer Führung zu identifizieren.“ (S. 164)

Schon zu diesem Zeitpunkt war ihm klar geworden, dass er den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen musste. Er rechnete mit seinem baldigen Tod: Eine in der Gefangenschaft in Rumänien 1957 begonnene Autobiographie „Stürmisches Zeitalter“ datierte er bereits auf ein baldiges Ende hin: „1896-195?“ (S. 179). Dass die Hinrichtung hauptsächlich auf János Kádár zurückging, weniger auf die sowjetische Führung und den um sein Image im Westen besorgten sowjetischen Parteichef, kann János Rainer überzeugend nachweisen (S. 172f.). Kádár war der bei weitem geschicktere Politiker. Gegenüber der eigenen Bevölkerung wie dem Westen konnte er immer wieder den Anschein erwecken, als würde er unpopuläre Entscheidungen nur aufgrund von „sowjetischem Druck“ fassen. Die Hinrichtung beendet den ‚Entwicklungsroman’, der aber auch immer wieder, wie der Autor schlüssig zeigen kann, sich ganz anders hätte fortsetzen können.

János M. Rainer hat eine sehr gut geschriebene, die neueste politikhistorische Forschung meisterhaft zusammenfassende Biographie verfasst. Seine Darstellung des Individuums Imre Nagy, den er oft als einsamen Menschen schildert, wird sicher nicht unwidersprochen bleiben. Aber es wird sehr mühevoll werden, dieses sehr elegante, aber dennoch nicht glatte Standardwerk zu übergehen.

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