D. Brandes; A. Savin: Die Sibiriendeutschen im Sowjetstaat 1919-1938

Cover
Titel
Die Sibiriendeutschen im Sowjetstaat 1919-1938.


Autor(en)
Brandes, Detlev; Savin, Andrej
Reihe
Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 19
Erschienen
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Wulff, Langzeitdozent des DAAD, Staatliche Universität Woronesh/Rußland Email:

Die Geschichte der Deutschen im Osten Europas und in Rußland gehörte zu den bevorzugten Untersuchungsfeldern deutscher Historiker. Hierfür zeichneten staatlich geförderte universitäre und außeruniversitäre Institute federführend verantwortlich, zu denen das von Detlef Brandes geleitete Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zählt.

Die einschlägigen Untersuchungen der zurückliegenden Jahrzehnte betrafen vor allem die Geschichte der Deutschen im Süden und Südwesten Rußlands 1 sowie an der unteren Wolga 2, weniger jene in Sibirien. Sie erfaßten zudem vorwiegend die vorrevolutionäre Geschichte des Russischen Reiches, wofür vornehmlich die Tatsache ausschlaggebend war, daß wesentliche Quellenbestände für die Sowjetzeit unzugänglich waren. Die partielle Öffnung der russischen Archive seit Beginn der neunziger Jahre weckte zunächst erneut das Interesse russischer Historiker an der Geschichte der Deutschen in Sibirien, die in den zurückliegenden Jahren mehrere Arbeiten über deren Verfolgung in der Sowjetzeit vorlegten.3 Die vorliegende Arbeit ordnet sich in diesen Kontext ein. Sie erhebt den Anspruch, eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Sibiriendeutschen zwischen 1919, dem endgültigen Beginn der Sowjetherrschaft in Westsibirien, und 1938 zu liefern. Letztere Zäsur erschließt sich dabei dem Rezensenten nur mit Mühe. Im Jahr 1938, nach jahrelangen Verfolgungen und Repressalien, wurden zwar die von den Deutschen bewohnten nationalen Rayons aufgelöst. Doch ging der Terror gegen die Sibiriendeutschen – das eigentliche Thema des Buches – nach kurzer Unterbrechung kaum vermindert weiter.

Die Landnahme deutscher Bauern in Sibirien, unter ihnen zahlreiche Mennoniten, setzte in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein. Bis 1920 stieg die Zahl der Sibiriendeutschen auf ca. 77 000. In dem Maße, wie die Spannungen zwischen Deutschland und Rußland wuchsen, verschlechterte sich ihre wirtschaftliche und politische Lage. Da sie sich während des 1. Weltkrieges permanent von der Liquidation ihres Landbesitzes bedroht fühlten, standen die Sibiriendeutschen, Brandes/Savin zufolge, der Revolution von 1917 zunächst durchaus wohlwollend gegenüber. Ihre Erwartungen wurden indes bitter enttäuscht. Der wohlhabende Eindruck, den die entlang der Transsibirischen Eisenbahn im Gebiet Omsk sowie im Gebiet Slawgorod gelegenen deutschen Dörfer auf die lokalen Machthaber erzeugte, führte dazu, daß den Deutschen überdurchschnittliche Ablieferungsquoten für ihre landwirtschaftlichen Produkte auferlegt wurden. Im Zusammenspiel mit aufeinanderfolgenden Mißernten bewirkte dies, daß sie zwischen 1920 und 1924 nur mit Hilfe des American Mennonite Relief überleben konnten. Trotz geringfügiger wirtschaftlicher Erholung setzte sich auch in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die Drangsalierung der Sibiriendeutschen fort. Neben dem Zwangsapparat des Sowjetstaates waren hierfür vor allem kommunistisch gesinnte, ehemalige deutsche und österreichische Kriegsgefangene verantwortlich, die allerdings nur wenig Einfluß in den Dorfverbänden auszuüben verstanden. Die Zerstörung des Allrussischen Mennonitischen Landwirtschaftsverbandes, die von der Gleichschaltung der deutschen Schulen begleitet wurde, sowie die einsetzende Kollektivierung der Landwirtschaft, setzte 1928/1929 eine enorme Ausreisewelle in Gang. Allerdings konnten wegen der Aufnahmeverweigerung der kanadischen Regierung und des Zögerns Deutschlands tatsächlich nur 5700 Sibiriendeutsche, weniger als 8% der Gesamtzahl, die Sowjetunion verlassen. Das Ausreiseverlangen der Sibiriendeutschen bildete in den dreißiger Jahren den wichtigsten Gegenstand für die Auseinandersetzungen mit der Sowjetmacht, die darin eine potentielle Gefahr für die wirtschaftliche und politische Stabilität erblickte und Ausreisen mit allen Mitteln unterbinden wollte. In der Tat führte die Benachteiligung der zum Verbleiben gezwungenen Bevölkerung und deren Reaktion – Boykottversuche gegen die lokalen Sowjetbehörden – zu gewaltsamen Konflikten, die mit noch größerer Gewalt vom Unterdrückungsapparat beendet wurden. Die Repressalien in den dreißiger Jahren richteten sich zunächst gegen die gescheiterten Emigranten und jene Bauern, die in Erwartung der Ausreise die Aussaat verweigert hatten und schließlich gegen Deutsche, die in Anbetracht der Hungersnot von 1933 die sogenannte „Hitler-Hilfe“ aus dem Deutschen Reich angenommen hatten. Der proportionale Anteil der Sibiriendeutschen an den Opfern des Stalinschen Terrors sei weit überdurchschnittlich gewesen, konstatieren Brandis/Savin, und habe selbst die Opferquote der Ukrainedeutschen übertroffen.

Die Grundthesen von Brandes/Savin überzeugen über weite Strecken. Sie fußen auf den kaum erschlossenen Aktenbeständen der Staatlichen Archive des Altai-Gebietes sowie der Gebiete Novosibirsk und Omsk, des Parteiarchivs des Omsker Gebietes, den Beständen der Übersiedlungsverwaltung des zarischen Landwirtschaftsministeriums im Russischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg sowie auf denen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Bonn. Wichtige Hinweise lieferten offenbar auch die neuesten Untersuchungsergebnisse sibirischer Historiker. Die Akten der an der Drangsalierung der Sibiriendeutschen maßgeblich beteiligten geheimpolizeilichen Behörden Tscheka, GPU, OGPU sowie der Organe des Innenministeriums, die Aufschluß über Motive der Entscheidungsträger bzw. über die Mechanismen der Entscheidungsfindung liefern könnten, blieben Brandes/Savin allerdings verschlossen. Sie sehen die Geschichte der Sibiriendeutschen im Untersuchungszeitraum als Geschichte ihrer Verdrängung, von Terror, Gleichschaltung und Unterdrückung, von Protest, Emigration und eskalierender Unterdrückung. Gleichzeitig aber, und dies spielt in der ansonsten detailreichen und überzeugenden Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle, fand auch ein Anpassungsprozeß an die bestehenden Zustände im sowjetischen Westsibirien statt, der u.a. dazu führte, daß zahlreiche Sibiriendeutsche sich während und nach dem 2. Weltkrieg loyal zum Sowjetstaat verhielten und zum Teil in ihm auch ihre Heimat erblickten.

Den Band runden ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur, ein Personenregister mit reichhaltigen biographischen Angaben sowie ein Orts- und ein Sachregister ab. Abschließend sei erwähnt, daß es sich bei dem Band um das Ergebnis einer Kooperation zwischen einem deutschen Ordinarius und einem russischen Doktoranden handelt, gewiß keine Alltäglichkeit in den deutsch-russischer Wissenschaftsbeziehungen. Er wird auf lange Sicht in der Historiographie zur Geschichte der Deutschen in Rußland Bestand haben.

1 Vgl. Detlef Brandes, Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurußland und Bessarabien (1715-1914), München 1993; Dietmar Neutatz, Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856-1914), Stuttgart 1993.
2 Vgl. Ingeborg Fleischhauer, Benjamin Pinkus, Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1987; Zwischen Reform und Revolution: die Deutschen an der Wolga 1860-1917. Hrsg von Dittmar Dahlmann und Ralph Tuchtenhagen, Essen 1994.
3 Vgl. u.a. Larissa P. Belkovec, „Bolšoj terror” i sud´by nemeckoj derevni v Sibiri (konec 20-ch-1930 gody), Moskau 1995; Ol´ga A. Gerber, „Raskulačivanie“ nemeckoj derevni v Zapadnoj Sibiri (1928-1934 gg.). Istočniki i sostojanie problemy, in: Rossijskie nemcy. Istoriografija i istočnikovedenie, Moskau 1997.

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