L. Erren: "Selbstkritik" und Schuldbekenntnis

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Titel
"Selbstkritik" und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953)


Autor(en)
Erren, Lorenz
Reihe
Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 19
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Unfried, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

Als Anfang der 1990er-Jahre die sowjetischen Archive zugänglich wurden, fanden sich darin Dokumente, welche die Rede von Menschen protokollierten, die einander und sich selber diverser Unzulänglichkeiten und Verfehlungen bezichtigten. Ihr Inhalt entsprach nicht den bekannten öffentlichen Erklärungen hoher politischer Funktionäre dieser Zeit, die sich politischer Irrtümer beschuldigten, sie analysierten und sich von ihnen lossagten. Es ging vielmehr um Gleichgültigkeit dem Parteileben gegenüber, um Unkenntnis der Parteidoktrinen, um Alkoholmissbrauch, geprügelte Frauen, ergaunerte Güter. Die Vielfalt von Themen des Alltagslebens, die in der Öffentlichkeit der Parteiorganisation zur Sprache kamen, war eine angenehme Überraschung für die Historiker.

Diese Dokumente zeigten eine Form der Selbstthematisierung, die darauf basierte, sich nicht zu rechtfertigen, sondern sich zu kritisieren. Dass dies eine Massenpraxis war, das zeigten jene Protokolle, die nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems zugänglich wurden. Wie kann diese Praxis interpretiert werden, die den Parteimenschen zum Kritiker seiner selbst machte? Jahrzehntelang haben die spektakulären Selbstbeschuldigungen prominenter Funktionäre in den großen Schauprozessen der 1930er-Jahre und in ihren Neuauflagen um 1950 die Aufmerksamkeit der Interpretatoren auf sich gezogen. Sie wurden als Ausdruck einer spezifischen Parteimentalität oder als Ausdruck einer durch Folter und Drohungen gebrochenen Persönlichkeit angesehen. Die massenhafte Thematisierung von Fehlern seitens einfacher Parteimitglieder vor dem Kollektiv ihrer Genossen stand dagegen nicht im Fokus der Forschung.

Der Rezensent hat ‚Selbstkritik’ als habituelle Praxis des sowjetischen Parteilebens interpretiert und sie in dieser Eigenschaft mit einer anderen institutionalisierten Praxis der Selbstthematisierung verglichen, nämlich mit der Beichte.1 ‚Selbstkritik’ wird in diesem Zusammenhang in einem viele Formen ‚selbstkritischen Sprechens über sich selbst’ umfassenden Sinn verstanden als eine Art des Sprechens über sich selbst, das sich entlang der Thematisierung von Fehlern entfaltet. Der russische Sozialwissenschaftler Oleg Kharkhordin hat dagegen versucht, die sowjetische ‚Selbstkritik’ auf das Substrat der orthodoxen Bußkultur zurückzuführen, in der öffentliche Buße durch sichtbare Handlungen vor dem Bekenntnis der Sünden als Sprechakt vorherrschend geblieben sei. Schuldbekenntnisse als Sprechakte kann er deswegen auch in der sowjetischen Kultur nicht vorfinden. Kharkhordin untersucht in seiner Arbeit allerdings nur Diskurse, die er aus veröffentlichtem normativem Material (Parteiliteratur, Traktate, Handbücher) erschließt, und nicht tatsächlich geübte Praktiken, die durch Archivmaterial überliefert sind.

Lorenz Erren übernimmt die Argumentationslinie Kharkhordins mit zwei wesentlichen Unterschieden. Er benötigt für seine Erklärung den Verweis auf das orthodoxe religiöse Substrat nicht; und er arbeitet mit archivalischen Quellen, die ihm die Bedeutung von Schuld- und Reuebekenntnissen deutlich vor Augen führen (explizit etwa S. 297, S. 373). Erren findet allerdings keinen „einheitlichen Begriff“ im zeitgenössischen Diskurs, „keine klar artikulierte Doktrin, die diese Praxis einer einheitlichen Deutung zugeführt hätte“ (S. 12, S. 272, S. 373). Den Selbstbezichtigungen der einzelnen Parteimitglieder stand Erren zufolge keine Doktrin gegenüber, die ein solches Verhalten verlangte. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Da ist zunächst das Problem jeder historischen Forschung: Soll sie die Begrifflichkeit des Forschungsgegenstandes ausschließlich in seinem zeitlichen und historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang übernehmen, oder soll sie eigene Kategorien zu dessen Analyse entwickeln? Erren arbeitet konsequent mit der zeitgenössischen Terminologie; das bedeutet, dass für ihn ‚Schuldbekenntnis’ und ‚Selbstkritik’ nur ist, was damals ‚Schuldbekenntnis’ und ‚Selbstkritik’ genannt wurde. Erren findet keine Verbindung der beiden Begriffe im zeitgenössischen normativen Diskurs. Geht es also nur um Worte, um die Verwendung von Begriffen? Erren geht es um mehr, denn seine Beobachtung führt ihn zu einer eingehenden Untersuchung der unterschiedlichen Wurzeln von ‚Selbstkritik’. ‚Kritik und Selbstkritik’ wurde in der Bezeichnung als ‚kritika i samokritika’ erst Ende der 1920er-Jahre mit einer kollektiven Bedeutung lanciert. Organisationseinheiten von Staat und Partei sollten ihre Unzulänglichkeiten ‚selbst’ in der Weise kritisieren, dass die verantwortlichen Funktionäre auf die konstruktive Kritik ‚von unten’ durch einfache Parteimitglieder im Zuge einsichtiger Selbstkritik ‚von oben’ an der Behebung der kritisierten Missstände arbeiten sollten. ‚Kritik’ von unten und ‚Selbstkritik’ von oben sollten bürokratische Strukturen aufbrechen.

Erst in der Folge bekam der Begriff eine auf den Einzelnen gerichtete Bedeutung: ‚Selbstkritik’ wurde auch auf die Haltung einzelner Personen zu ihren eigenen Handlungen und Einstellungen angewandt. Im Zuge der Liquidierung der ‚rechten’ Parteiopposition um Bucharin und der einsetzenden ‚Kulturrevolution’ 1928/29 häuften sich öffentliche Erklärungen von Funktionären, Wissenschaftlern oder Wirtschaftsleuten, die der Opposition zugerechnet wurden und dieser nun öffentlich entsagten. Diese Erklärungen verbanden sich mit einer Tendenz, ‚Selbstkritik’ von einer institutionellen auch auf eine persönliche Ebene zu bringen. Nicht nur Vertreter der Partei, von Organisationen und Betrieben sollten Kritik an Zuständen in ihren Einheiten zum Anlass nehmen, ‚selbstkritisch’ darüber zu sprechen, sondern auch jedes Parteimitglied über sich selber persönlich.

Erren bleibt in seiner Interpretationslinie den oben skizzierten Ursprüngen des Konzepts von ‚Selbstkritik’ treu, auch als sich die Hauptbedeutung auf die individuelle Ebene verlagerte und die persönliche Selbstkritik sich mit Schuldbekenntnissen auflud. Erren identifiziert als zentrale Rationalität der Herrschaftskommunikation von ‚Kritik und Selbstkritik’ die Beziehung des stalinistischen „Abstimmungskörpers“ zu abweichenden Mitgliedern (Kap. 1). In der Öffentlichkeit des Stalinismus wurde die Geschlossenheit des Kollektivs dadurch demonstriert, dass sich Oppositionelle durch Widerrufungserklärungen der monolithischen Gemeinschaft unterwarfen. Das war die praktische Auswirkung des Fraktionsverbots. Im Großen Terror der 1930er-Jahre wurden die reuigen Oppositionellen dann physisch als ‚Doppelzüngler’ und ‚Feinde’ liquidiert. Den als reformierbar eingestuften Parteimenschen wurde jedoch Gelegenheit zu einer ‚Selbstkritik’ als Schuldbekenntnis gegeben. Das war aber nicht Ausdruck einer Parteinorm, sondern der pragmatische Versuch, durch eine Unterwerfungsgeste den Kopf aus der Schlinge zu ziehen (S. 297, S. 324-325). Erren vernachlässigt insgesamt jene Bedeutung von ‚Selbstkritik’, die so häufig in den 1930er-Jahren aus den Protokollen von regulären und anlassbezogenen ‚Säuberungen’ spricht: Es wird in ihnen zumindest der Anspruch deutlich, dass die ‚Selbstkritik’ einer Person dem Kollektiv erlauben soll, zu der ‚Wahrheit’ über sie vorzudringen und zu einem Urteil zu gelangen, ob und wie sie erziehbar ist; oder ob sie als unerziehbarer ‚Feind’ qualifiziert werden muss. In diesem Zusammenhang ist ‚Selbstkritik’, wie auch Erren zu Recht sieht (z.B. S. 190), als Chance zu begreifen, die einem ‚Kritisierten’ gewährt wird. Er sieht darin aber nicht einen Versuch, einem Parteiverhaltenskodex zu entsprechen, sondern die pragmatischen Interaktionen zwischen dem "Abstimmungskörper" und einzelnen Verfolgten.

Errens Arbeit hat das Verdienst, allzu hermetische Deutungen des sowjetischen ‚Selbst’ auf den Boden zurückzuholen. Das schlägt sich auch auf die Sprache nieder. Erren argumentiert sorgfältig, nebulose Formulierungen wird man bei ihm nicht finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Argumentationslinie immer leicht nachvollziehbar ist und die Bedeutung des Argumentationsergebnisses immer klar wird. Phasen der Bedeutungsverschiebung der Praxis von ‚Selbstkritik’ überlagern einander und verwirren den Leser. Erren ist von seiner Entdeckung über die Wurzeln von ‚Selbstkritik’ so eingenommen, dass er das Material dann allzu sehr in dieses Schema zwingt. Warum sollte man die ‚selbstkritische’ und ‚reuige’ Stellungnahme von Parteimitgliedern, wie sie auch Erren ab Mitte der 1930er-Jahre immer wieder vorfindet, nicht dem Typus ‚Selbstkritik’ und ‚Reue’ zuordnen, obwohl sie damals nicht so genannt wurde? Die Originalität von Errens Forschungsergebnissen besteht insbesondere in der sorgfältigen Freilegung der Genealogie der Diskurse und Praktiken von ‚Selbstkritik’. Der Versuch, sie zu einem durchgängigen Deutungskonzept zu verdichten, scheint den Blick auf das Phänomen letzten Endes aber nicht wirklich aufzuhellen.

Errens Buch ist die Überarbeitung seiner 2003 an der Universität Tübingen abgeschlossenen Dissertation. Die Arbeit zeichnet sich durch eine Einstellung aus, Neues herauszufinden und keine scheinbar noch so selbstverständlichen Aussagen der vorliegenden Literatur unbesehen zu übernehmen. Sie gehört zu jenen Arbeiten, die nicht nacherzählen, sondern genuine Forschung betreiben und damit Diskussionen eröffnen. Darin liegt ihr großes Verdienst.

Anmerkungen:
1 Berthold Unfried, "Ich bekenne". Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik, Frankfurt am Main 2006.
[2] Oleg Kharkhordin, The Collective and the Individual in Soviet Russia: A Study of Background Practices, Cambridge 1999, bes. 35-74; 145-146.

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