M. Gilzmer: Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich

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Titel
Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944.


Autor(en)
Gilzmer, Mechtild
Erschienen
München 2007: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
254 S., 42 Abb.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Carrier, Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig

Eine der dringendsten Fragen für jede moderne Gesellschaft ist das Verhältnis zwischen politischer Herrschaft und historischer Symbolik. Eben diese Kernfrage greift Mechtild Gilzmer in ihrer Habilitationsschrift auf, indem sie die symbolische Sprache von Denkmälern in ihrem historischen Kontext in Frankreich seit 1944 übergreifend darstellt. Die Stärke dieser Arbeit liegt darin, dass sie eine chronologische und reich illustrierte Synthese der historischen Symbolik liefert, die an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust erinnert, und diese in den Kontext der französischen politischen Kultur einbettet. Gilzmer diskutiert Geschichtslegenden des nationalen Widerstands, politisch verbindliche Topoi wie männliches Heldentum, weibliche Allegorik, Märtyrertum und Patriotismus sowie ‚postnationale‘ Denkmäler, „die den Zwang zur Besinnung, aber keine Sinnstiftung mehr enthalten“ (S. 48). Auf diese Weise spannt Gilzmer einen Bogen vom nationalen Totenkult im 19. Jahrhundert bis zu den neueren symbolischen Praktiken seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, die weniger eine Vorbildfunktion erfüllen als Anstöße zum Aushandeln einer halbwegs konsensfähigen Geschichtsdeutung geben (sollen).

Im Mittelpunkt dieser Untersuchung der französischen Geschichtssymbolik seit 1944 stehen Persönlichkeiten, Ereignisse, Orte und Phasen. Bereits ab 1944 und nach seiner Rückkehr zur Präsidentschaft ab 1958 herrschte Charles de Gaulles Pflege einer für die Nation verbindlichen Widerstandslegende vor. In den 1970er-Jahren folgte Georges Pompidous Politik der Versöhnung im Zuge seiner Begnadigung Paul Touviers, des Milizchefs des Vichy-Regimes in Lyon, und zugleich die grundsätzliche Abkehr von Geschichtspolitik in Zeiten des konsensstiftenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Ab 1981 begann unter Mitterrand eine „Rückkehr der Vergangenheit“ (S. 165), die seit den 1990er-Jahren unter Mitterrand und Chirac zur Betonung der Beteiligung der französischen Gesellschaft am Holocaust führte. Allen Phasen gemeinsam ist die politische Vereinnahmung der Vergangenheit und der Toten. Dabei zeichnen sich grobe Tendenzen ab: die Wandlung von einem patriotischen (nationalen) zu einem menschenrechtlich (universellen) sowie „aufklärerisch-pädagogisch“ (S. 234) geprägten Diskurs über die Folgen des Zweiten Weltkriegs; und die späte Anerkennung der rassistisch begründeten Motivation für die Deportationen. Auf diese Weise beschreibt Gilzmer eine allgemeine Wandlung der nationalen Martyrologie seit 1944, die sie als Revision der Verherrlichung von Heldentum und Opferschaft der eigenen Gruppe bezeichnet. Nach und nach fanden auch andere Opfergruppen Anerkennung, die nicht eindeutig in das nationale Selbstbild passten.

Die Entstehungsgeschichte einzelner Denkmäler gibt jedoch zu erkennen, dass Medien der Erinnerungskultur selten klaren chronologischen Phasen zugeordnet werden können. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte eine „anarchische Phase der Denkmalerrichtung“ (S. 234), die alles andere als eine geschlossene Legende der am Widerstand beteiligten Nation bezeugt. Doch geht es Gilzmer hier weniger darum, diese geschichtspolitische Legende erneut zu hinterfragen, als zu beweisen, dass die historische Symbolik bereits ab 1944 und trotz de Gaulles rhetorischem und historiographischem Geschick ausreichend Anlass gab, die Legende als solche zu erkennen.

So belegt die Auswahl der in diesem Band untersuchten Denkmäler ein viel pluralistischeres öffentliches Geschichtsbild, als es bisher wahrgenommen wurde. Denn mit Rückgriff auf Akten staatlicher Denkmalskommissionen, auf Archive des Verteidigungsministeriums und auf die Gesetzgebung, die die Entscheidungsgewalt über Denkmalssetzungen weitgehend zwischen Regionen und Nationalstaat aufteilte, gewährt uns das Buch einen Blick hinter die Fassade der symbolischen Hochburgen der vierten und fünften Republik. Es enthält Fallstudien unter anderem über die Widerstandsdenkmäler auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris (1944), am Mont-Mouchet (1946), am Mont-Valérien (1946), in Châteaubriant (1951), in Chasseneuil (1951) und in Natzweiler-Struthof (1960) sowie Untersuchungen zum „Mémorial de la Déportation“ an der Ile de la Cité (1962) und zum Denkmal für die jüdischen Opfer der Razzien in Paris am Gelände des Vélodrome d’Hivers (1994). So stellt Gilzmer eine vielfältige Denkmalslandschaft dar, die weit über die bekannten gaullistischen Denkmäler hinausreicht.

Diese Vielfalt ist nicht nur durch die verschiedenen Interessengruppen gekennzeichnet, die einzelne Denkmäler bauen ließen, sondern zugleich durch die Verschiedenheit ihrer Botschaften und durch die jeweiligen Interessen, die dem einzelnen Denkmal zu Grunde lagen. Neben den verschiedenen politischen Parteien regten nicht selten lokale Bürgerinitiativen Denkmalserrichtungen an. Sie wurden von Präfekten gefördert, die aus taktischen Gründen, aber ohne Überzeugung für die Interessen der Widerstandsverbände eintraten. Manche Initiativen ließen ihre Denkmäler (wie etwa die „Maquisards“ in der Stadt Gelles) vor dem Eintreffen der staatlichen Genehmigung illegal errichten. Ihre Entstehung verdankten viele Monumente daher „eine[r] merkwürdige[n] Gemengelage aus individuellen Motiven, politischen Machtkonstellationen und Interessen, persönlichen Kontakten und Zufällen“ (S. 115). Inhaltlich lässt die Breite an Themen und Botschaften, die von ganz spezifischen Ereignissen bis hin zu universellen Deutungen reichten, nicht auf eine einzelne konsensstiftende nationale Symbolik oder Meistererzählung schließen. Gilzmer verschreibt sich nicht der gängigen Gegenüberstellung einer in Stein gemeißelten staatlichen Erinnerung und einer entfremdeten bzw. wahrhaften sozialen Erinnerung. Die Denkmäler verkörpern für sie vielmehr die Vielfalt der Interessen bis hin zu bitteren ideologischen Kämpfe um die Vergangenheitsdeutung. Sie lassen einen „Versuch der staatlichen Kontrolle über die Denkmalerrichtung einerseits bei gleichzeitiger Anarchie in der konkreten Umsetzung andererseits“ erkennen (S. 81).

Wenn man das Denkmal als eigenständige Instanz der Geschichtsvermittlung wahrnimmt, dann wird eine symbolische Gesetzlichkeit deutlich, der sowohl staatliche Institutionen als auch Verbände und kleine Gruppen unterworfen sind. Dem Erfolg der Geschichtssymbolik de Gaulles lag zum Beispiel nicht nur sein rhetorisches Geschick oder sein Charisma zugrunde, sondern die Anknüpfung an langfristig erprobte und ritualisierte Gedenkformen. De Gaulles Würdigung eines konsensfähig erscheinenden nationalen Widerstands knüpfte unmittelbar an Gedenkpraktiken vor und nach dem Ersten Weltkrieg an. Seine Indienstnahme des lothringischen Kreuzes folgte etwa dem nationalen Heldenkult Jeanne d’Arcs. Militärisch geprägte Zeremonien ab 1948 ähnelten denen der siegreichen französischen Armee ab 1919. Kranzniederlegungen und die Beisetzung von Widerstandskämpfern neben dem Unbekannten Soldaten am Arc de Triomphe untermauerten zudem die gaullistische Legende eines „dreißigjährigen Kriegs“ 1914–1944.

Durch die epochenübergreifende Kontextualisierung der nach 1944 errichteten Denkmäler und durch die Hervorhebung weiblicher Symbolik im Kriegsdenkmal gelingt es Gilzmer, diese Gedenkformen gegen den Strich zu lesen. Das Wiederaufleben des Mariannenkults nach 1944 verlieh dem Wunsch nach Neugeburt und Befreiung Ausdruck; wie 1789 versuchte man mit der Vergangenheit ideologisch zu brechen. Ähnlich wie zur Zeit der Französischen Revolution hat man nach 1944 mit männlichen und weiblichen Allegorien gehadert und sich schließlich für Letztere entschieden, da diese die Kontinuität der republikanischen und humanistischen Tradition gegen Vichy betonten. Ebenso erlebte die phrygische Mütze eine Neugeburt, indem der kommunistische Widerstand sie im symbolischen Kampf gegen den gaullistischen Widerstand abbilden ließ. Die weibliche Symbolik bekam jedoch auch eine politische Funktion von nationaler Tragweite – als „Hinweis auf die politische Krise, in der sich Frankreich nach 1944 befand und die im Bild der Marianne gelöst werden soll[te]“ (S. 204). Die Entscheidung, 1948 in der Stadt Villefranche de Rouergue ein männliches durch ein weibliches Standbild zu ersetzen, hatte einen ähnlich versöhnlichen, universalisierenden Anspruch: den Wunsch, weder männliche Akteure (benennbare, historisch handelnde Individuen) allegorisch zu ehren, noch eine bestimmte Widerstandsorganisation, noch den Widerstand schlechthin – sondern alle Kriegsopfer, einschließlich der Armee.

Viele Fragen werden in dieser Arbeit offengelassen, was man entweder als Mangel oder als fruchtbaren Ansporn zur Weiterarbeit deuten kann. Das zeitliche und räumliche Spektrum der exemplarisch behandelten Denkmäler bedürfte einer ausführlichen Ausweitung auf das gesamte Gebiet Frankreichs. Dennoch bestätigt Gilzmers Buch, dass trotz des neueren wissenschaftlichen Paradigmenwechsels zu Fragen der Transnationalität die Nation weiterhin ein unumgänglicher Deutungsrahmen von Erinnerungskulturen im 20. Jahrhundert bleibt. Auch wenn sich Gilzmer in manchen Teilen zu sehr auf Sekundärliteratur stützt, bietet dieses Werk eine neuartige Kontextualisierung der Denkmalspolitik in Frankreich seit 1944. Es zeigt, dass Denkmäler als polysemische „Medien der Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ (S. 11) zwar politisch wirksam sind, aber „ein Eigenleben führen“ (S. 23), das sich nicht nur nicht eindeutig politisch instrumentalisieren lässt, sondern den politischen Instanzen auch eine symbolische Instanz mit eigener Gesetzmäßigkeit und Geschichte aufzwingt.

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