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Titel
1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung


Herausgeber
Klimke, Martin; Scharloth, Joachim
Erschienen
Stuttgart 2007: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Haumann, Graduiertenkolleg "Topologie der Technik", Technische Universität Darmstadt

Ein Handbuch zur Medien- und Kulturgeschichte der Studentenbewegung der 1960er-Jahre zusammenzustellen, ist gewiss eine Herausforderung. Dies gilt umso mehr, will man, wie der vorliegende Sammelband es verspricht, die studentischen Proteste zum gesamtgesellschaftlichen Wandel der 1960er-Jahre in Beziehung setzen. Die Konzeption folgt dabei der These, dass die Wirkungsmächtigkeit der „68er Bewegung“ vor allem in den tief greifenden Veränderungen der kulturellen Sphäre und alltagskultureller Praktiken zu sehen ist. Die Herausgeber erheben den Anspruch, aktuelle Forschungstrends unterschiedlicher Disziplinen in einer Gesamtübersicht zu integrieren und verweisen dabei auf die performative Wende in den Kulturwissenschaften, Konstruktion und Inszenierung als Gegenstand medienwissenschaftlicher Forschung, sowie das wachsende Interesse der Geschichtswissenschaft an transnationalen Austauschprozessen. Für die Untersuchung medien- und kulturwissenschaftlicher Aspekte der "68er Bewegung" seien diese methodischen Ansätze als Gerüst unverzichtbar, wolle man die Studentenbewegung in einen breiteren Kontext einordnen, so die Herausgeber. Die Fokussierung auf jene langfristigen und nachhaltigen Wandlungsprozesse korrespondiert mit den Zielen des von der Europäischen Union finanzierten Marie-Curie Projekts „European Protest Movements since 1945“, in dessen Rahmen der Sammelband entstanden ist. Bei den Autoren handelt es sich überwiegend um jüngere Wissenschaftler, die die Studentenbewegung aus spürbar größerer Distanz betrachten, als dies in der bisherigen Forschung zur „68er Bewegung“ der Fall war.

Der erste Schwerpunkt des Sammelbandes vereint Beiträge zu dem Themenbereich Medien und Öffentlichkeit. Sowohl Katrin Fahlenbrach in ihrem Beitrag zu Protestinszenierungen, als auch Dorothee Liehr analysieren die wechselseitigen Abhängigkeiten von Protestbewegungen und Massenmedien, die sich in den 1960er-Jahren herausbildeten. Auf der einen Seite konnten die Protestierenden die öffentliche Wirkung ihrer Aktionen potenzieren, auf der anderen Seite boten sie den Massenmedien anschlussfähige Ereignisse mit hohem Nachrichtenwert. Die Frage, inwieweit die Protestierenden ihre Strategien an das erwartete Medieninteresse angepasst haben, oder aber eigene gegenkulturelle Medien etablierten, untersucht Dominik Lachenmeier in seinem Beitrag zu „Achtundsechziger-Bewegung zwischen etablierter und alternativer Öffentlichkeit“ (S. 61-72).

Unter den Schlagwörtern Performanz und Subversion sind eine Reihe von Beiträgen zusammengefasst, die sich mit Handlungen befassen, die bestehende Verhaltensmuster in Frage stellen oder neue begründen. Die untersuchten Formen performativen Protests reichen von der berühmt gewordenen Gerichtsverhandlung gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel, die Joachim Scharloth als Beispiel nutzt, um zu zeigen, wie die Angeklagten die Rituale der Justiz unterliefen, bis zu den aus den USA übernommen Varianten des sit-ins, die Martin Klimke im Zusammenhang mit der transnationalen Zirkulation kultureller Praktiken untersucht.

Die Beiträge zu Veränderungen der künstlerischen Ausdrucksformen in den 1960er-Jahren weisen am weitesten über die Studentenbewegung hinaus. Zwar wird stets eine Gleichzeitigkeit konstatiert, und hervorgehoben, dass die Künste von der „68er Bewegung“ nicht ohne weiteres zu trennen sind, gleichwohl wird ebenso häufig deutlich, dass grundlegende Wandlungsprozesse in der Kunst ihren Ursprung jenseits des Einflusses der Protestbewegungen hatten. Dies gilt insbesondere für Martin Papenbrocks Aufsatz über Aktionskünste in den 1960er Jahren und die literaturgeschichtliche Betrachtung Roman Luckscheiters „Der Postmoderne Impuls. '1968' als literaturgeschichtlicher Katalysator“.

In einem weiteren Themenbereich werden alltagskulturelle Praktiken analysiert: zum einen die Sprache der Studentenbewegung, und zum anderen Sexualität und Geschlechterverhältnisse, die sich seit den späten 1960er-Jahren nachhaltig veränderten. Insbesondere in Pascal Eitlers Beitrag zur Körperpolitik wird wiederum deutlich, dass die Ursprünge der tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht ausschließlich im Protestmilieu zu suchen sind. Vielmehr deuten alle Aufsätze zur Alltagskultur an, dass der Einfluss der Studentenbewegung zwar groß war, sich ihre Breitenwirkung aber nur im gesamtgesellschaftlichen Kontext entwickeln konnte.

Wie angehängt wirken dagegen eine Reihe von Beiträgen unter der Überschrift „Gewaltdiskurse“. Zwar werden auch hier medien- und kulturgeschichtliche Perspektiven genutzt, um den um 1970 entstehenden Terrorismus zu untersuchen, doch wird nicht recht klar, worin die Relevanz dieses Ansatzes liegt. Zweifelsohne wurde Gewalt zu einem wichtigen Thema der "68er Bewegung", für das auch mediale und kulturelle Vermittlungsprozesse eine Rolle spielten, doch passen die Darstellungen dazu sich nicht ohne weiteres in die Logik des Sammelbandes ein.

Die Wahl der Beiträge zum Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung vermittelt eine äußerst umfassende und vielfältige Übersicht über die „68er Bewegung“. Die Zusammenstellung ist den Herausgebern gelungen, so dass auch gelegentliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen wenig stören. Ebenso überzeugen die einzelnen Beiträge durch ihre Kürze und Konzentration auf wesentliche Aussagen. Dies gelingt in den meisten Fällen, ohne sich in Abstraktionen zu verlieren: In der Regel ist das Verhältnis von Analyse und Illustration an Hand einschlägiger Beispiele ausgewogen, häufig erfolgt eine explizite Auseinandersetzung mit bisherigen Forschungsansätzen.

Die Bezeichnung als Handbuch ist also durchaus gerechtfertigt, allerdings wäre es passender gewesen, den Sammelband als Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der westdeutschen Studentenbewegung zu betiteln. Ganz überwiegend haben sich die Autoren damit begnügt, bundesdeutsche Besonderheiten zu analysieren. Dementsprechend wird auch die transnationale Perspektive, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist, nur in den wenigsten Aufsätzen systematisch eingenommen. Häufig erschöpfen sich die Beiträge darin, auf Referenzen aus der US-amerikanischen oder französischen Studentenbewegung zu verweisen.

Insgesamt bietet das Handbuch einen umfassenden und gut strukturierten Überblick über kultur- und mediengeschichtliche Aspekte der Studentenbewegung der 1960er-Jahre. Trotz der großen Breite an behandelten Themen und unterschiedlicher Herangehensweisen ist es den Autoren und Herausgebern gelungen einen sehr kohärenten Sammelband zusammenzustellen. Zudem zeichnet sich der Band durch ein äußerst differenziertes Bild des wechselseitigen Verhältnisses von Studentenbewegung und gesamtgesellschaftlicher „Fundamentalliberalisierung“ aus. Wenn auch einige der selbst gesteckten Ansprüche nicht vollständig umgesetzt werden, so ist das Handbuch doch ein wesentlicher Beitrag zur Orientierung über die Kultur- und Mediengeschichte der west-deutschen Studentenbewegung.

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