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Titel
Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Brückweh, Kerstin
Reihe
Campus Historische Studien
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knutzen Sünje, Hamburg

„Serienmörder faszinieren“, konstatiert Kerstin Brückweh zu Beginn ihres Buches „Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert“. In ihrer im November 2006 erschienen Dissertation widmet sich die Historikerin einem Thema, das bisher vor allem Gegenstand künstlerischer oder auch populärwissenschaftlicher Auseinandersetzungen war. Dabei können diese Ausnahmeverbrechen für den Historiker einen lohnenden Ansatzpunkt liefern, die Beziehungsgeflechte zwischen Justiz, Psychiatrie und medialer Öffentlichkeit einem genaueren Blick zu unterziehen. Die Beschäftigung mit historischen Serienmordphänomenen kann also – gleichsam wie die Untersuchung einer zentralen Nervenstelle unter einem Mikroskop – einen anregenden Einblick in gesellschaftliche Zustände liefern.

Kerstin Brückweh untersucht vier Fälle von Serienmorden aus jeweils unterschiedlichen politischen Systemen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Bei den Tätern handelt es sich um Fritz Haarmann (Weimarer Republik), Adolf Seefeld (Nationalsozialismus), Erwin Hagedorn (DDR) und Jürgen Bartsch (Bundesrepublik). Fritz Haarmann wurde 1924 wegen 24fachen Mordes zum Tode verurteilt, Adolf Seefeld erhielt sein Todesurteil 1936 wegen 12fachen Mordes. Haarmann war zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung über vierzig Jahre alt, Seefeld über sechzig Jahre. Erwin Hagedorn wurde 1972 wegen mehrfachen Mordes zum Tode verurteilt. Jürgen Bartsch erhielt 1971 in einem Revisionsprozess wegen vierfachen Mordes eine zehnjährige Zuchthausstrafe. Die beiden letzten Täter waren zum Zeitpunkt, als sie ihre Verbrechen begingen, selbst noch Jugendliche. Bei den Opfern aller vier Serienmörder handelte es sich um Jungen bzw. junge Männer. Schon aus diesem Grund ist die Arbeit von Brückweh bemerkenswert, wurde doch in der historischen Forschung bisher vor allem sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen thematisiert.

Die Studie umfasst drei große Teile. Zunächst geht Brückweh vom physischen Gewaltakt aus, um sich von dort immer weiter vom Täter und seinem direkten Umfeld zu entfernen und sich den indirekt Betroffenen zuzuwenden. Es folgt eine ausführliche Betrachtung der juristischen Auseinandersetzungen um die Serienmorde; dies vor allem unter dem Gesichtspunkt, welche Bedeutung der Rechtsprechung für die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung beigemessen wurde. Im abschließenden Teil thematisiert Kerstin Brückweh, welche Resonanzen die Serienmorde auf der medialen Ebene hervorriefen.

Im ersten Teil "Physische Gewalt – konkrete Opfererfahrung und imaginierte Täterbilder" untersucht Brückweh anhand von Gerichtsakten die Gewalterfahrungen der Opfer. Dabei greift sie vor allem auf Vernehmungsprotokolle zurück. Sie betrachtet diese mit Hilfe des alltagsgeschichtlichen Programms von Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger, das sich Gewalttaten und -erfahrungen mit den Instrumenten der qualitativen Beschreibung und Interpretation annähert. Die Studie widerlegt die weit verbreitete Vorstellung vom „fremden Täter“. Häufig waren die Männer in ihrem sozialen Umfeld bereits durch Gewalttaten auffällig geworden. Bemerkenswert erscheint jedoch in allen Fällen, dass eben dieses soziale Umfeld die Verhaltensweisen des Täters als „normal“ registrierte und sich für dessen Handlungen offenkundig kaum interessierte.

Der zweiten Teil "Rechtsprechende Gewalt – Wiederherstellung der Ordnung" behandelt die Aufarbeitung der Verbrechen durch die Justiz und die anschließende Strafverfolgung. Brückweh betrachtet die Gerichtsverhandlungen und die Urteile nicht allein unter rechtstaatlichen Aspekten, sondern erkennt darin auch Versuche, den scheinbar irrationalen Taten einen Sinn zuzuschreiben. Eine wichtige Rolle spielten dabei die psychiatrischen Gutachter, die bei allen Prozessen tätig wurden. Ihnen kam angesichts des großen Medieninteresses eine außerordentliche Bedeutung zu. Für die Gutachter wurde der Prozess zu einer prestigeträchtigen Angelegenheit. Bisweilen entwickelten sich regelrechte Machtkämpfe zwischen den Vertretern verschiedener psychiatrischer Ansätze. Als bemerkenswert galt der zweite Prozess gegen Jürgen Bartsch unter anderem, weil erstmals in der deutschen Justizgeschichte ein Psychoanalytiker als Gutachter zugelassen wurde. Auch in den Prozessen in der DDR und während des Nationalsozialismus kamen psychiatrische Gutachter zum Einsatz. Alle Gerichtsverfahren waren durch den Widerspruch zwischen der Tendenz zur Pathologisierung des Täters und der für dessen Verurteilung notwendigen Anerkennung seiner Zurechnungsfähigkeit gekennzeichnet. Die Urteilssprüche offenbaren die Problematik der Konstruktion der Kriminalfälle als schlüssige Geschichten. Bis auf Jürgen Bartsch wurden alle Täter zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bartsch starb jedoch bald nach dem Prozess im Verlauf einer Kastrationsoperation aufgrund eines zu hochdosierten Narkosemittels.

Im dritten Teil "Medial vermittelte Gewalt – emotionale Aneignungen im öffentlichen Raum" stehen die Akteure im Mittelpunkt, die keinen direkten Kontakt zu den Tätern hatten. Es handelt sich um Vertreter der Medien, Künstler und Einzelpersonen, die auf die Taten reagierten. Auf vielfältige Weise kam es zur gegenseitigen Beeinflussung von Medien und Öffentlichkeit. Im Fall Jürgen Bartsch analysiert Brückweh Leserbriefe, die Zeitungen in Folge ihrer Berichte erhielten. Hier entwickelten sich direkte Wechselwirkungen zwischen emotionaler Berichterstattung und Leserbriefreaktionen. Dabei lassen sich die Briefe als emotionale „Ad-Hoc-Reaktionen“ interpretieren. Die Medienberichterstattung über Seefeld im Nationalsozialismus war aufgrund der gleichgeschalteten Medien relativ widerspruchslos. Die nationalsozialistische Presse versuchte jedoch vergeblich, Seefeld als jüdischen Ritualmörder zu konstruieren. Darüber hinaus wurde der Fall dazu genutzt, die Weimarer Republik zu diskreditieren, die mit ihrer angeblich zu liberalen Gesetzgebung die Mordtaten erst ermöglich habe. In der DDR wurde der Prozess gegen Erwin Hagedorn so weit wie möglich von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Der Fall galt als hochgradig problematisch, denn nach herrschender Auffassung wurde Kriminalität als dem Sozialismus wesensfremd betrachtet. Dass ein junger Mann wie Erwin Hagedorn, der eine DDR-Erziehung durchlaufen hatte, derartig grausame Verbrechen begangen hatte, war der Öffentlichkeit nach Ansicht der Funktionäre kaum zu vermitteln. Doch auch hier blieb der Einfluss der Medien nicht ohne Wirkung. Als der westdeutsche Journalist Friedrich Werremeier ein Buch über den Fall veröffentlichte, rief dies einen fast panischen Reflex auf Seiten der zuständigen Ermittlungsbehörden und der Staatssicherheit in der DDR hervor. Unter dem Vorwurf des Verdachts des „Geheimnisverrats“ wurde nach Werremeiers Informanten gesucht, dabei gerieten auch die Eltern der Opfer in den Fokus der Fahnder. Im Fall Haarmann zeigt Brückweh, wie ein Serienmörder noch Jahrzehnte nach seiner Hinrichtung Gegenstand emotionaler Diskussionen werden konnte. Als die Stadt Hannover Anfang der 1990er-Jahre die Skulptur „Haarmann-Fries“ des Künstlers Alfred Hrdlicka erwarb, kam es zu einer hochgradig emotionalen Diskussion um die Themen Gewalt, Sexualmord, Verschwendung öffentlicher Gelder und NS-Vergangenheit, an der sich zahlreiche Personen mit Leserbriefen beteiligten.

Anhand der Auswertung umfangreicher Quellen gelingen Kerstin Brückweh aussagekräftige Beobachtungen über juristische Praktiken, Psychologie und die Funktionsweise von Medien und Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten in unterschiedlichen politischen Systemen. Sie ergänzt mit ihrer Arbeit die historische Forschung zu Medien und Gewalt in gewinnbringendem Maße. Bisher waren es vor allem literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Untersuchungen, die sich dem Serienmordphänomen widmeten.1 Mit dem Instrument des historischen Vergleichs liefert sie überzeugende Einblicke in das dynamische Wechselspiel von Emotionen und medialen Darstellungen. Sie vermeidet die bei einem solchen Verfahren oftmals festzustellende Schematisierung oder gar Reduktion der einzelnen Fälle. Vielmehr finden Besonderheiten ihre angemessene Berücksichtigung, Nuancen werden präzise dargestellt. Sie zeigt die komplexe Dynamik von Gewalt und Emotion im öffentlichen Raum. Ohne Medialisierung gäbe es den modernen Serienmörder nicht. Die Faszination, die ihm viele Menschen nicht absprechen können, speist sich aus vielen Quellen.

Anmerkung:
1 Wegweisend auf dem Gebiet der historischen Untersuchung von Serienmordfällen ist die kulturwissenschaftliche Studie über das spätviktorianische London in der Konfrontation mit Jack the Ripper von Walkowitz, Judith R., City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, 4. Auflage (1992), London 2000.

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