M. Dörr: "Der Krieg hat uns geprägt"

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Titel
"Der Krieg hat uns geprägt". Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten


Autor(en)
Dörr, Margarete
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
2 Bde., 1.085 S., 190 SW-Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lu Seegers, SFB 434 „Erinnerungskulturen“, Justus-Liebig-Universität Gießen

Ohne Zweifel: Die „Generation der Kriegskinder“ ist in Deutschland seit Ende der 1990er-Jahre und besonders seit dem 60. Jahrestag des Kriegsendes 2005 in aller Munde. Es waren vor allem die Bücher „Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation“ und „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ der Journalistinnen Hilke Lorenz und Sabine Bode, die 2003 und 2004 erschienen und dazu beitrugen, eine neue Generation mediengerecht auszurufen. Gemeinsam mit dem Buch „Söhne ohne Väter“ (von Hermann Schulz, Jürgen Reulecke und Hartmut Radebold), das 2004 den kriegsbedingten Verlust von Vätern behandelte, bildeten diese Publikationen den Auftakt zu einer enormen Konjunktur des Themas auf dem Buchmarkt und in den Massenmedien. Nachdem die amerikanische Erziehungswissenschaftlerin Emmy E. Werner bereits 2000 eine global angelegte Erfahrungsgeschichte von Kriegskindheiten in Europa, Asien und Amerika publiziert und der britische Historiker Nicholas Stargardt den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von Kindern in Deutschland und Osteuropa anhand von Briefen, Kinderbildern, Tagebüchern und anderen Quellen beschrieben hat1, legt mit Margarete Dörr erstmals eine bundesrepublikanische Historikerin, zugleich langjährige Gymnasiallehrerin, eine umfassende Erfahrungsgeschichte deutscher Kriegskindheiten vor.

Dörr versteht die beiden Bände als Fortsetzung ihrer dreibändigen Dokumentation „’Wer die Zeit nicht miterlebt hat …’ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach“ aus dem Jahr 1998. Im Mittelpunkt stehen nun deutsche „Kriegskinder“ verschiedener sozialer Schichten und Konfessionen, wobei auch die vom NS-Regime aus rassischen oder politischen Gründen verfolgten Juden, Sinti und Roma, Kinder aus sozialdemokratischen und kommunistischen Familien sowie von verfolgten religiösen Minderheiten (Zeugen Jehovas) berücksichtigt werden. Bislang ebenfalls kaum untersucht sind die Kindheitserfahrungen von Russlanddeutschen und Donauschwaben. Aufgrund von fehlenden Zeitzeugen nicht einbezogen werden konnten Kinder, die von deutschen Soldaten in den besetzten Ländern gezeugt worden waren, und Kinder aus Beziehungen von deutschen Frauen mit alliierten Besatzungssoldaten. Auch gibt es laut Dörr kaum Zeugnisse von im NS-Staat als „asozial“ oder „schwer erziehbar“ klassifizierten Kindern. Die verwendeten Quellen sind vielfältig – das Spektrum reicht von Berichten, die Betroffene an die Autorin geschrieben haben, über Zeitzeugeninterviews, Tagebücher, Feldpostbriefe, Kinderbilder und Schüleraufsätze. Mehr als 500 Lebensgeschichten hat die Autorin verarbeitet.

Als „Kriegskindergeneration“ versteht Dörr Angehörige der Jahrgänge 1930 bis 1945, bezieht aber gelegentlich auch die Jahrgänge ab 1927 mit ein, um die ganz unterschiedlichen Erfahrungen von Jugendlichen und Kindern während des Zweiten Weltkriegs charakterisieren zu können. Zugleich macht die Autorin in ihrer Einleitung deutlich, dass sie sich selbst als „Kriegskind“ (Jahrgang 1928) versteht und Kinder bzw. Jugendliche im Krieg immer Opfer seien, „ob sie zu den Siegern oder zu den Besiegten, ob sie zu den ‚Volksgenossen’ oder den Verfolgten gehören“. Stets seien sie „Opfer von Ereignissen, an denen sie nicht mitwirkten, oder von Manipulation, gegen die sie sich nicht wehren konnten“ (Bd. 1, S. 21).

In 22 thematisch gegliederten Kapiteln, die hier nur ansatzweise resümiert werden können, zeigt die Autorin, wie weit gefächert die Erfahrungen der Angehörigen dieser Altersgruppe waren, so dass von einer „Generation der Kriegskinder“ eigentlich nicht die Rede sein könne. So macht bereits das erste Kapitel „Der Krieg – ein fernes Erdbeben“ deutlich, dass zwei Drittel der deutschen nicht-jüdischen Kinder während des Krieges auf dem Land lebten und den Krieg die längste Zeit eher als fernes Grollen und als Abenteuer erlebten. Indem sie den Stimmen der Zeitzeugen breiten Raum lässt (dabei wird leider nicht immer deutlich, ob es sich um Passagen aus einem Bericht oder aus einem Interview handelt) und nur vorsichtig kommentiert, schildert Dörr in den nächsten Kapiteln eindrücklich, wie tief sich der in vielen deutschen Familien inhärente Militarismus und der Stolz auf den eigenen Soldaten-Vater in die Kinderseelen eingegraben hat und wie sie sich den Krieg „spielend“ aneigneten. Die tiefe Verwobenheit von Krieg und Kindheit belegen auch die abgedruckten Zeichnungen, Feldpostkartenmotive und Fotos aus dem Privatbesitz, wie zum Beispiel das Foto eines kleinen Mädchens in der Uniform ihres Vaters, die einer eigenen Analyse wert wären. In weiteren Kapiteln dokumentiert Dörr, dass Kinder und Jugendliche aktiv an Ausgrenzungen von anderen, zum Beispiel jüdischen Kindern beteiligt waren und zum Teil billigende Augenzeugen von Verfolgungen wurden. Eher ungewollt belegt die Autorin damit, dass nicht-deutsche jüdische Kinder eben nicht nur stumme und traumatisierte Opfer des Krieges waren. Der Krieg drang vielmehr, wie es der Historiker Nicholas Stargardt formuliert hat, in ihre Vorstellungswelt ein und „focht seine Kämpfe auch in ihrem Inneren aus“.

Sensibel und eindrücklich schildert Dörr die Empfindungen und Erfahrungen von überlebenden jüdischen und anderen verfolgten Kindern. Auch zeichnet sie detailliert das Schicksal von Waisenkindern, auf der Flucht verlorenen, so genannten „Wolfskindern“ sowie in die Sowjetunion verschleppten Kindern nach, die dort mitunter jahrelang in Arbeitslagern und/oder in Waisenheimen leben mussten. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dabei russlanddeutschen Kindern und Betroffenen aus Donauschwaben.

In den Blick kommen dabei auch die Erinnerungen von Kindern, die vertrieben wurden oder flüchten mussten, und die Schwierigkeiten ihrer Integration in die west- und ostdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Ein eigenes Kapitel widmet Dörr den kindlichen Verarbeitungen des Übergangs „Von der braunen in die rote Diktatur. Grenzgänger in Deutschland“ (so die Kapitelüberschrift), allerdings ohne einen beziehungsgeschichtlichen Blick in die Bundesrepublik zu werfen.

Breiten Raum widmet die Autorin den Familienverhältnissen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei beleuchtet sie die Erfahrungen von vaterlosen Halbwaisen ebenso wie das Verhältnis der Kinder zu ihren Müttern und das schwierige, in vielen Fällen unmögliche Zusammenwachsen der Familien nach der Rückkehr des Vaters. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das Kapitel „Die Nazis – ‚das waren die anderen’? – ‚Täter-Kinder’“, in dem Dörr eindrücklich schildert, wie sehr sich deutsche Kriegskinder der politischen Auseinandersetzung mit der Eltern-Generation noch heute verschließen: „Wer die Kinder nach der Einstellung ihrer Eltern zum Nationalsozialismus befragt“, so Dörr wörtlich, „gerät in eine Landschaft mit dichten Nebelschwaden, zuweilen auch in ein Niemandsland“ (Bd. 2, S. 234). So intensiv bei vielen Betroffenen das Erzählbedürfnis sei, so sehr schwiegen sie sich aus über die Aktivitäten und Verstrickungen der Eltern im Nationalsozialismus – sei es, weil ihnen von der älteren Generation eine Mauer des Schweigens entgegentrat; sei es, weil eine intensivere Beschäftigung das Bild der Eltern zerstören, aber auch das eigene Selbstbild beschädigen könnte. So würden die Eltern, wenn sie Mitglieder der NSDAP gewesen waren, oftmals als bloße „Mitläufer“ charakterisiert, die sich innere Residuen bewahrt hätten, oder aber als „gute“ Nationalsozialisten, die in ihrem „Idealismus“ getäuscht worden seien. Ohne dies eigens auszuführen, bestätigt Dörr damit zumindest in Teilen Harald Welzers These, dass die Erlebnis-Generation des Nationalsozialismus von den nachfolgenden Generationen viktimisiert oder heroisiert werde.2

Auch wenn aus analytischer Perspektive noch einige Desiderate offen bleiben – etwa eine stärkere Einbettung der geschilderten Erinnerungen in die schichtspezifisch sehr unterschiedlich geprägten Familiengedächtnisse und der weitere Lebensverlauf der Kriegskinder, die ihre Familien und Karrieren hüben wie drüben in den fortschrittsoptimistischen 1960er-Jahren begründet haben –, gebührt Margarete Dörr das Verdienst, eine ebenso perspektivenreiche wie vielstimmige Dokumentation vorgelegt zu haben, die schon aufgrund der Vielzahl der verwendeten Quellen für jede weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema unerlässlich ist.

Anmerkungen:
1 Deutsche Erstausgaben: Werner, Emmy E., Unschuldige Zeugen. Der Zweite Weltkrieg in den Augen von Kindern, Hamburg 2001; Stargardt, Nicholas, „Maikäfer flieg!“ Hitlers Krieg und die Kinder, München 2006.
2 Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.