Radebold, Hartmut; Bohleber, Werner; Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Weinheim 2008 : Beltz Juventa, ISBN 978-3-7799-1735-9 262 S. € 23,00

Ruchniewicz, Krzysztof; Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Zwischen Zwangsarbeit, Holocaust und Vertreibung. Polnische, jüdische und deutsche Kriegskindheiten im besetzten Polen. Weinheim 2007 : Beltz Juventa, ISBN 978-3-7799-1733-5 196 S. € 18,50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lu Seegers, SFB 434 "Erinnerungskulturen", Justus-Liebig-Universität Gießen

Beide Bücher basieren auf Tagungen, die die Studiengruppe "Kinder des Weltkrieges"1 im Jahr 2006 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen durchgeführt hat. Während der Band von 2007 am Beispiel polnischer, jüdischer und deutscher Kriegskinder der Geschichte des Weltkriegs im besetzten Polen und den späteren Verarbeitungsformen nachgeht, widmet sich der Band von 2008 der transgenerationalen Weitergabe von Kriegserfahrungen bei deutschen und jüdischen Kindern.

Auf dem Territorium des heutigen Polen wirkten sich der militärische Überfall des nationalsozialistischen Deutschland, die mehr als fünfjährige Besatzungszeit mit rassistischer Ausgrenzung, Zwangumsiedlungen, Zwangsarbeit, Kinderraub, Holocaust und Massenmord sowie die sowjetisch-stalinistischen militärischen Besatzungen, Deportationen, Vertreibungen auf polnische, jüdische und deutsche Kinder ganz unterschiedlich aus. Den vielfältigen Kriegskindheiten nähern sich polnische, jüdische und deutsche Historiker und Kindheitsforscher in dem Band "Zwischen Zwangsarbeit, Holocaust und Vertreibung" auf Grundlage von Archivdokumenten, biografischen Interviews sowie Autobiografien und anderen literarischen Quellen.

Der erste Teil enthält zwei Beiträge, die sich mit der Erinnerungskultur in Polen seit 1945 und den diesbezüglichen Debatten seit den 1980er-Jahren beschäftigen. Der Literaturwissenschaftler Karol Sauerland zeigt, inwieweit das persönliche Erinnern an den Krieg durch offizielle Erinnerungsverbote nach 1945 zum Beispiel in Bezug auf die Soldaten der Armia Krajowa (Heimatarmee) konterkariert bzw. sanktioniert wurde. Ab 1946 wurden in Polen, so Sauerland, ähnlich wie in der Sowjetunion Techniken des Vergessens praktiziert. Umso stärker seien die stillschweigenden Erinnerungen in der Zeit der Solidarnosc Bewegung aufgebrochen und erstmals auch die Deportationen von Polen in die Sowjetunion thematisiert worden.

Der Journalist Thomas Urban erörtert unter dem Titel "Deutsche, Polen und Juden - eine verzwickte Dreiecksbeziehung" bis heute bestehende Dissonanzen in der polnischen Erinnerungskultur, die vor allem aus der "Konkurrenz der Opfer zwischen Polen und Juden" und der Sorge resultierten, dass die Verfolgung der polnischen Bevölkerung im Allgemeinen und der katholischen Intelligenz im Besonderen durch die Nationalsozialisten in der Bundesrepublik nicht genügend Beachtung finde. Am Beispiel der Diskussionen um den Roman "Die schöne Frau Seidenmann" von Andrzej Szczypiorski (1986), dem Dokudrama "Auge um Auge" von John Sack (1995) und dem historischen Essay "Nachbarn" von Jan Tomasz Gross (2000), der die Debatte um die Erschießungen von Juden durch Polen in Jedwabne anstieß, zeigt Urban, dass die polnische Öffentlichkeit mit Blick auf deutsche Reaktionen immer dann äußerst sensibel reagiert, wenn bekannte Täter-Opfer-Kategorien durchbrochen werden.

Die Historikerin Joanna Michlic stellt eine Quellensammlung mit Zeugnissen jüdischer Kinder in Polen vor, die bereits im Jahr 1946 von der Jüdischen Historischen Kommission in Krakau veröffentlicht wurde. Am Beispiel dieser in der Forschung nur wenig beachteten Quellen erörtert sie, warum kindliche Schilderungen erst seit kurzem Eingang in den "Holocaust-Kanon" finden. Sie kommt dabei zu dem durchaus verallgemeinerbaren Ergebnis, dass die geschilderten Erfahrungen von Kindern lange Zeit als nicht ,realitätsgetreu' wahrgenommen wurden und die Geschichte des Holocaust vor allem anhand von Täter-Quellen geschrieben worden sei.

Der zweite Teil ("Kindheiten in Polen zwischen Nationalsozialismus, Stalinismus und Krieg") weist neben einigen sehr reflektierten Aufsätzen auch analytische Schwächen auf. Wieslaw Tomasz Theiss beschreibt das Idealbild der kommunistischen Pädagogik in den 1950er Jahren und seine repressive Umsetzung. Ein Teil der Kinder und Jugendlichen sei diesem System jedoch mit deutlicher Distanz begegnet und habe an religiösen und familiären Werten festgehalten. In einem weiteren Beitrag bietet Theiss einen Überblick der polnischen Forschungen zum Thema Kindheit im Zweiten Weltkrieg seit 1945. Untersuchungen, die ab 1956 entstanden, seien einer tiefgreifenden ideologischen Kontrolle unterworfen gewesen. Erst das Jahr 1980 markierte eine Befreiung der wissenschaftlichen Forschung von der Kontrolle der politischen Zensur. Nunmehr wurden Kinder auch als Opfer des Kommunismus untersucht. Demgegenüber lassen andere Beiträge eine gesellschaftlich-politische Einbettung der Entstehung von Dokumentensammlungen und Forschungen vermissen. So stellt beispielsweise der Beitrag von Andrzej Kracher, Wanda Musialik und Dorota Schreiber-Kurpiers veröffentlichte Kriegserinnerungen von Jugendlichen aus Oberschlesien der Jahre 1945 bis 1989 vor, ohne die Gründe ihrer Entstehung und Publikation quellenkritisch zu beleuchten.

Im dritten Kapitel ("Kindheiten in Polen in biographischen Interviews und Zeitzeugengesprächen") untersucht die Soziologin Kaja Kazmierska, ob und wie Menschen, die während des Krieges in Polen umgesiedelt wurden, ihre ehemaligen Wohnorte noch als "Heimat" imaginieren. Problematisch ist jedoch, dass sich die Autorin dabei nur auf ein einzelnes Oral-History-Interview bezieht. Ähnliches gilt für den Beitrag von Eulalia Rudak und Roza Krzywoblocka-Laurow, die die von ihnen initiierte Stiftung "Meine Kriegskindheit" vorstellen und zugleich als Betroffene dem Schicksal polnischer Kinder in den Konzentrationslagern anhand eigener Erfahrungsberichte nachgehen.

Im vierten Kapitel steht die Verarbeitung von Kriegskindheiten in Deutschland und Polen in Romanen und Autobiografien im Mittelpunkt. Die Literaturwissenschaftlerin Jana Mikota reflektiert die Literatur von Angehörigen der deutschen "Kriegskinder"-Generation und geht der Frage nach, warum die Perspektive des Kindes zurzeit eine so große Rolle spielt. Dabei verweist sie unter anderem darauf, dass Kindheit seit der Romantik in westlichen Gesellschaften mit einer Poetik der Unschuld verbunden sei - ein Motiv, dass auch in der aktuellen bundesrepublikanischen Erinnerungskultur relevant sei. Parallel dazu beschäftigt sich Joanna Obrusnik-Jagla mit der Darstellung der Kriegs- und Nachkriegskindheit in der polnischen autobiografischen Literatur seit 1945. So seien in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten nach dem Krieg verstärkt Autobiographien publiziert worden, die aus Ausschreibungen und Wettbewerben hervorgingen, allerdings auch Gegenstand ideologischer Manipulationen waren. Seit den 1980er- und 1990er-Jahren seien demgegenüber neue literarische Formen wie die Dokumentarerzählung aufgekommen, um die Erfahrungen von polnischen und jüdischen Kindern in Konzentrationslagern und in Ghettos aufzuzeigen.

Das Fazit nach der Lektüre des Buches ist gemischt. Einerseits werden interessante Perspektiven auf das Thema und neue Zugänge zu weiteren Forschungen eröffnet. Andererseits beruhen einige Beiträge nur auf wenigen Quellen und/oder lassen notwendige Kontextualisierungen vermissen. Zudem weist der Band einige Mängel auf, die bei der "Serienproduktion" von Sammelbänden leider häufig vorkommen: der Abdruck kaum veränderter Vortragstexte und stilistisch nicht immer einwandfreie Übersetzungen.

In dem von Hartmut Radebold, Werner Bohleber und Jürgen Zinnecker herausgegebenen Band "Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten" wird auf interdisziplinäre Weise Neuland beschritten. Der Band zeigt, dass die Frage, ob und wie Kriegserfahrungen unbewusst oder bewusst von einer Generation zur nächsten "vererbt" werden könnten, ebenso kontrovers wie anregend ist. Im Mittelpunkt stehen dabei die Begriffe "transgenerationale Weitergabe", "Trauma" und "Gewalt".

Ausdrücklich gehen die Herausgeber in ihrer Einleitung davon aus, dass Kindheitserfahrungen im Zweiten Weltkrieg stets im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg zu sehen seien. Jürgen Reulecke und Barbara Stambolis führen dies in ihrem Beitrag "Kindheiten und Jugendzeit im Zweiten Weltkrieg. Erfahrungen und Normen der Elterngeneration und ihre Weitergabe" plastisch aus. So sei die Erziehung zu Nationalismus und heroischer Männlichkeit noch nach 1945 bei der generationellen "Staffelübergabe" verbal und habituell relevant gewesen. In diesem Sinne plädieren die Autoren dafür, unter dem Aspekt der generationalen Transmission von Überzeugungen, Werten und deren habituellen Ausdrucksformen während der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik den Begriff "Generativität" in die historische Forschung einzuführen.

Die Soziologin Bettina Völter rät in ihrem Beitrag zum Thema Mehrgenerationenanalyse zu einem vorsichtigen Umgang mit dem Begriff der "transgenerationalen Weitergabe", weil dieser Terminus Bilder einer bestimmten Linearität suggeriere. Angehörige jüngerer Generationen erschienen dadurch allzu leicht als passive Rezipienten, womöglich als Opfer der Geschichte ihrer Eltern, während ihnen eine eigene aktive Rolle nicht zugestanden werde. Auch der Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker spricht sich dafür aus, "kulturelle Transmission" als eine Form reziproker Tauschbeziehungen zu konzeptualisieren, in der die Bedeutung und Übernahme des kulturellen Erbes zwischen der älteren und der jüngeren Generation aktiv ausgehandelt werde, wobei insbesondere auch die sozialisatorischen Rückwirkungen der jüngeren auf die ältere Generation beachtet werden müssten.

In Zusammenhang mit dem Begriff der transgenerationalen Weitergabe wird in dem Band auch der Begriff des Traumas unterschiedlich angewendet und kontrovers diskutiert. Der israelische Psychoanalytiker Natan P. F. Kellermann zeigt, dass und wie Menschen, die den Holocaust als Kinder erlebt haben, und ihre eigenen Kinder die erfahrenen Traumata immer wieder neu durchleben. Allerdings sei keineswegs davon auszugehen, dass alle Kinder von Holocaust-Opfern dem generationellen "telescoping" in gleicher Form unterworfen seien. Vielmehr seien eine klare jüdische Identität, eine offene Kommunikation über die Vergangenheit und eine vorteilhafte Sozialisation in der Schule erleichternde Faktoren beim Umgang mit der Familiengeschichte.

Der Psychoanalytiker Werner Bohleber schreibt den Tätern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ebenfalls Traumata zu, von denen auch nachfolgende Generationen betroffen seien. Letztere seien "Container" für das unverarbeitete Leid und die traumatisierungen, für abgewiesene Schuld und Verantwortung der Eltern. Zwischen der Erlebnis-Generation des Nationalsozialismus und der Generation der "Kriegskinder" sei daher eine besonders narzisstische Bindung entstanden, weil die verunsicherten Älteren die Jüngeren vielfach als"Selbstobjekte" funktionalisiert hätten, um sich ihre Selbstachtung und Identität zu sichern. Es bleibt zu fragen, ob das Bild vom "Generationen-Container" nicht ebenso unterkomplex ist wie die Beschreibung einer traumatisierten deutschen Nachkriegsgesellschaft irreführend, weil die Mitläufer und Täter des Nationalsozialismus den Gewalttaten eben nicht hilflos und ohnmächtig ausgeliefert gewesen waren, sondern sie im Gegenteil mehr oder weniger aktiv mitgetragen hatten.

In diesem Sinne diskutieren einige Beiträge den Begriff des Traumas kritisch. So wendet der Psychoanalytiker Hartmut Radebold den Begriff auf deutsche "Kriegskinder" zwar an, geht aber davon aus, dass Kinder bis zum 6. bis 8. Lebensjahr noch keine posttraumatischen Belastungsstörungen entwickelten, sondern charakterneurotische Störungen. Folglich unterscheidet er zwischen belastenden, beschädigenden und traumatisierenden Kriegserfahrungen.

Harald Welzer geht noch einen Schritt weiter und kritisiert, dass der Begriff des Traumas, der individualpsychologisch zunächst nur für die Opfer des Holocaust und seit den 1970er-Jahren auch für Soldaten des Vietnamkriegs verwendet wurde, in Wissenschaft und Gesellschaft unreflektiert als Modewort zur Beschreibung nahezu jeder Form von einschneidenden Erlebnissen verwendet werde. Unter dem Mantel des Traumadiskurses finde eine zunehmende Angleichung von Tätern und Opfern statt, die nicht zuletzt dem Umbau der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur hin zur Betonung deutschen Leids diene. Wesentlich interessanter sei es - und dabei ist Welzer zuzustimmen -, die Verarbeitung und Weitergabe der nationalsozialistischen Gewalterfahrung zu untersuchen. Zugänge dafür würden literarische Verarbeitungen bieten, wie beispielsweise Stephan Wackwitz' Roman "Unsichtbares Land" (2003), der zeige, wie subtil sich die nationalsozialistische Vergangenheit im Medium der Familie, in der alltäglichen Überlieferung sowie in Habitus und Gesten fortschreibe.

Der transgenerationellen Weitergabe von Gewalterfahrung widmet sich auch der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen. Er geht in seinem Beitrag von einer "Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen" aus. Darunter versteht Müller-Hohagen eine spezifische psychische Disposition in labilen Situationen wie Partnerschaftskrisen oder angesichts der Unüberschaubarkeit komplexer Arbeitsprozesse. Hier gebe es eine stärkere Kontinuität zur Zeit des Nationalsozialismus als bisher vermutet. Allerdings macht Müller-Hohagen dies ausschließlich an einzelnen Fall-Geschichten aus seiner psychotherapeutischen Praxis fest und verweist damit indirekt auf die bestehenden Probleme bei der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Historikern und Psychoanalytikern.

Als diesbezüglich richtungsweisend erscheint das interdisziplinäre Projekt "Zeitzeugen des Hamburger ,Feuersturms' und ihre Familien", das zurzeit von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) in Kooperation mit Psychoanalytikern des Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE) bearbeitet wird. Es geht der Frage nach, inwieweit Kriegserlebnisse zu langfristigen Traumatisierungen führen, wie diese individuell, familiär und gesellschaftlich bearbeitet werden und was davon über Generationen weitergegeben wird. Dabei sprechen sich die Autoren und Autorinnen dafür aus, Bezüge zwischen individuellen und familiären Verarbeitungsformen und öffentlichen Deutungsangeboten zum Hamburger "Feuersturm" herzustellen. Denn die öffentliche Erinnerungskultur präsentiere jeweils zeitspezifisch bestimmte Bilder und Topoi des Ereignisses, so Malte Thießen, was für die intergenerationale Tradierung besonders wichtig sei. Auf diese Weise könnte es in der Tat gelingen, den familiären Raum in die Gesellschaft hinein zu öffnen und zugleich die Bedeutung familiärer Muster für die Deutung der außerfamiliären Welt zu verstehen, wie es Dorothee Wierling formuliert.

Insgesamt zeigt der Band, wie wichtig die Frage nach transgenerationalen Weitergaben für eine interdisziplinär angelegte Geschichte der Kriegserfahrungen und ihrer Folgen ist. Dabei müssen die jeweils betroffenen Gruppen allerdings ebenso differenziert betrachtet werden wie die verwendeten Begrifflichkeiten.

Anmerkung:
1 <http://www.weltkrieg2kindheiten.de> (18.09.2008).

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