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Titel
From Sithiu to Saint-Bertin. Hagiographic Exegesis and Collective Memory in the Early Medieval Cults of Omer and Bertin


Autor(en)
Defries, David
Reihe
Studies and Texts (219)
Erschienen
Turnhout 2019: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 95,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Müsegades, Universität Heidelberg

Hagiographische Texte werden von der Forschung schon lange als Zugänge zu den Lebenswelten des frühen Mittelalters genutzt.1 Gerade zur Geschichte geistlicher Gemeinschaften bieten entsprechende Quellen wichtige Einblicke. In diesen Kontext ist die Studie von David Defries, Associate Professor an der Kansas State University, einzuordnen. Er richtet den Fokus auf die Entwicklung von Heiligenkulten im Umfeld des Klosters Sithiu, das später als Saint-Bertin bezeichnet wurde (heute Region Hauts-de-France, Frankreich), insbesondere auf die beiden Heiligen Audomar (französisch Omer, gestorben vor 683) und Bertin (gestorben um 709).

Audomar hatte als Bischof von Thérouanne um die Mitte des 7. Jahrhunderts in Sithiu eine Marienkirche (Notre-Dame) errichten lassen, an die eine monastische Gemeinschaft angebunden war. Bertin wurde 659 zweiter Abt des Klosters. Er war auch an der Errichtung einer dem Heiligen Martin geweihten Kirche (Saint-Martin) vor Ort beteiligt, die ebenfalls wie das ursprüngliche Gotteshaus von den Mönchen geistlich betreut wurde. Dabei sollte die Kirche Notre-Dame besondere Prominenz erreichen, weil der Gründer Audomar dort begraben wurde. Saint-Martin hingegen wurde zur letzten Ruhestätte Bertins.

Im Zuge einer Reform unter Ludwig dem Heiligen in den 820er-Jahren wurden in der Marienkirche Kanoniker installiert, während die Mönche die Martinskirche erhielten. Jedoch blieben die beiden Gemeinschaften bis 944 miteinander verbunden, als sie durch eine weitere Reform dauerhaft voneinander getrennt wurden. Hieraus entstanden nachfolgend das Kollegiatstift Saint-Omer und das Kloster, das aufgrund des Kults um den zweiten Abt in den nachfolgenden Jahren als Saint-Bertin bezeichnet wurde.

David Defries entwickelt in seiner Untersuchung drei zentrale Thesen: Erstens, dass erst nach der Reform von 944 Konflikte zwischen den Kanonikern von Saint-Omer und den Mönchen von Saint-Bertin ausbrachen, sich diese Auseinandersetzungen aber – anders als von der Forschung bisher weitestgehend angenommen – zuerst nicht in der Ausgestaltung der lokalen Heiligenkulte niederschlugen. Zweitens müssten die der letzten Reform vorangehenden Jahrhunderte stärker im Kontext der späteren Konflikte gesehen werden, wobei Defries die Bedeutung der kollektiven Erinnerung besondere Bedeutung zumisst. Diese manifestierte sich nach seiner Darstellung in unterschiedlichen Identitäten, die sich auf verschiedenen Ebenen überschnitten. Drittens leitet der Autor aus seinen Beobachtungen den Schluss ab, „that the methodology used in most studies of early medieval collective memory offers a distorted image of the partnership between Omer and Bertin“ (S. 3). Dies habe grundlegende Auswirkungen auf die Einordnung der hagiographischen Überlieferung: „paradigm, not narration, structured early medieval collective memory at the abbey“ (S. 3). Gerade die letzte These ist für das Verständnis seiner Ausführungen zentral und geht in ihrer Bedeutung weit über seine Fallstudie hinaus.

Nach einer konzisen Einleitung (S. 1–18) widmet er sich im ersten Kapitel „Constructing the Exegetical Past“ (S. 19–57) der Entwicklung der die Geschichte Sithius und seine Heiligen umgebenden Narrative. Defries weicht dabei von der verbreiteten Annahme ab, dass im Mittelpunkt hagiographischer Texte ein Narrativ stand, das mit allegorisch zu lesenden Ausführungen zu übernatürlichen Ereignissen kombiniert wurde. Er geht vielmehr davon aus, dass in entsprechenden Texten geistliche Paradigmen durch allegorische Exegese herausgearbeitet und dann mit einem historischen Narrativ versehen wurden.

In den nachfolgenden fünf Kapiteln werden, jeweils orientiert an einzelnen Zeiträumen, die Entwicklungen in Sithiu bzw. Saint-Omer und Saint-Bertin dargestellt. Es ist dabei auffällig, dass der Autor darauf verzichtet, die traditionellen Einschnitte durch die beiden Reformen in den 820er-Jahren und 944 als Ausgangs- oder Endpunkte zu wählen, sondern diese zeitlichen Schwellen in größere Zusammenhänge einordnet. In Kapitel 2 „Scola Christi, c. 638−750“ (S. 58–116) untersucht er vor allem die Vita Audomari, Bertini, Winnoci, die teils miteinander verwobenen Lebensbeschreibungen der beiden zentralen Figuren der Frühgeschichte von Sithiu, sowie des unter Bertin in die Gemeinschaft eingetretenen Winnoc. Er erkennt hierin ein „tripartite cultic schema“ (S. 78) der frühen kollektiven Erinnerung in Sithiu, wobei seines Erachtens jeweils ein unterschiedlicher „typos“ der kolumbanischen „familia“ durch die Heiligen dargestellt wird: Bischof (Audomar), Abt (Bertin) und Mönch (Winnoc). Darüber hinaus sieht Defries die Vita durch verschiedene intertextuelle Bezüge zur Regula Magistri geprägt. Abweichend von der bisher allgemein akzeptierten Datierung der Vita um 811 geht er davon aus, dass diese ca. 740 entstand. Grundlage seiner Überlegungen ist vor allem, dass er von einer kolumbanischen Identität der Gemeinschaft bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts ausgeht. Der Fokus des Texts auf die Schreine der drei Heiligen sowie die Betonung der bischöflichen Autorität über Sithiu sieht er ebenfalls als zentrale Indizien für eine entsprechende Datierung.

Die nachfolgenden mehr als 100 Jahre behandelt Defries im Kapitel „Loca regiminis, 750−861“ (S. 117–156). Einzelne Viten der drei mit Sithiu verbundenen Heiligen wurden zwischen circa 800 und 825 verfasst, Mitte des 9. Jahrhunderts zudem eine Vita III s Bertini und eine Vita III s Audomari. Dabei wurden die ursprünglichen Lebensbeschreibungen durch Wundererzählungen erweitert. Für ihn spiegeln diese Viten das Konzept eines „bipartite ecclesial schema“ (S. 155) wider, in dem Winnoc zwar nach wie vor kultische Verehrung erfuhr, aber der Fokus auf dem Gründer Audomar und dem zweiten Abt Bertin lag. Die „Geminae columnae“ stehen im nachfolgenden Kapitel zu den Jahren von 861 bis 900 im Mittelpunkt (S. 157–189). In diesem Zeitraum ragt besonders das Entstehen der Vita metrica s Bertini prima sowie des Libellus miraculorum s Bertini heraus. Beide Texte sind vor allem im Kontext der skandinavischen Angriffe auf Sithiu zu sehen. Defries erkennt in den neuen Viten Bertins kein Abrücken vom zweiseitigen Schema der Gemeinschaft. Das vollkommene Fehlen Winnocs in den Texten wertet er hingegen als Resultat der Translation seiner Reliquien in die Kirche der Kanoniker, Notre-Dame.

Zentraler Gegenstand der Analyse in Kapitel 5 „The Memory of Loss, 900−965“ (S. 190–229) sind Folcuins Gesta abbatum Sithiensium, entstanden wahrscheinlich um 962. Die hiermit in Zusammenhang stehende Reform von 944 bringt der Autor neben den Entwicklungen in Sithiu und in anderen Klöstern auch mit der stärkeren Ausbildung weltlicher Herrschaften im Gebiet des heutigen Nordfrankreichs und Belgiens in Verbindung. Auch wenn möglicherweise ein Großteil der Mönche die Gemeinschaft in dieser Zeit verlassen habe und durch neue ersetzt wurde, habe doch die kollektive Erinnerung an die lokalen Heiligen überdauert.

Im letzten chronologischen Kapitel „Saint Bertin, 965−1007“ (S. 230–279) nimmt der Autor den Beginn der korporativen Trennung des Kollegiatstifts Saint-Omer und des Klosters Saint-Bertin in den Blick. Besonderes Augenmerk richtet er dabei auf die Handschrift Boulogne-sur-Mer, Ms. 107, ein zwischen 986 und 1007 entstandenes Legendarium der Abtei. Zu erkennen sind hier in einer bildlichen Darstellung Bertin sowie Folcuin und Silvin, deren Reliquien das Kloster ebenfalls besaß. Die hagiographischen Texte in dieser Handschrift behandeln das Leben jener drei Heiligen sowie Winnocs. Deutlich wird durch das Fehlen von Hinweisen auf Audomar der neue Fokus auf die vor Ort verfügbaren Heiligenüberreste und die Trennung von Saint-Omer. Dabei datiert der Autor um 1000 die endgültige Veränderung in der bisherigen kollektiven Erinnerung: „by roughly 1000, the abbey at Sithiu had become the abbey of Saint-Bertin“ (S. 284).

Insgesamt hat David Defries mit seiner Untersuchung zur frühmittelalterlichen Geschichte von Sithiu eine wichtige Arbeit zur Entwicklung und Bedeutung mehrerer frühmittelalterlicher Heiligenkulte vorgelegt. Er bezieht dabei auf breiter Basis die englisch-, französisch- und deutschsprachige Forschung sowohl zu Kloster und Kollegiatstift im Allgemeinen, als auch zu hagiographischem Schrifttum im Besonderen ein. Hilfreich sind eine Übersicht im Anhang (S. 289–293) zu den zentralen Viten, ihrer Datierung und Überlieferung, das Orts-, Personen- und Sachregister sowie drei gut gearbeitete Karten zu Sithiu und seiner Umgebung am Anfang des Buchs.

Sein Umgang mit der hagiographischen Überlieferung weiß zu überzeugen. Dabei müssten die Überlegung von Defries, dass nicht narrative, sondern paradigmatische Strukturen kollektive Erinnerung in monastischen Gemeinschaften tragen, auch an anderen Fallbeispielen exemplarisch untersucht werden. Erst dann könnte guten Gewissens darüber befunden werden, inwiefern entsprechende Ansätze allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Aber schon alleine für den Denkanstoß gebührt dem Autor Dank.

Anmerkung:
1 Nicht nur zum Frühmittelalter: Robert Bartlett, Why Can the Dead Do such Great Things? Saints and Worshippers from the Martyrs to the Reformation, Princeton/Oxford 2013, S. 504−586. Vgl. als klassische Studie Friedrich Lotter, Methodisches zur Gewinnung historischer Erkenntnisse aus hagiographischen Quellen, in: Historische Zeitschrift 229 (1979), S. 298–356.

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