Der Klappentext dieses Interviewbandes kündigt einen Beitrag zu „historiographischen Einordnungen der 1990er-Jahre“ an, und zwar durch fachliche Introspektion. 20 Historiker:innen aus dem Feld der deutsch-polnischen Geschichte geben gesprächsweise Auskunft über ihre persönlichen und beruflichen Wege in den Jahren vor, während und nach den politischen Umbrüchen von 1989/90. Ins Zentrum dieser Festschrift für den Gießener Professor Hans-Jürgen Bömelburg rücken damit die bei allen bilateralen Belastungen doch zuversichtlichen Jahre des Dialogs und der Europäisierung.
In der Tat liefern die Gespräche facettenreiche Retrospektiven auf die Subdisziplin der deutsch-polnischen Studien in einer ereignisreichen Zeit, die von ersten fachlichen Annäherungen im Zuge der sozialliberalen Ostpolitik – etwa der hochspannenden Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission ab 1972 – bis zur staatsoffiziellen Gründung eines Deutschen Historischen Instituts 1993 in Warschau reichte, und dann zur kontroversen Aufarbeitung der Vertreibungen als öffentlich-politischen Streitfall.
Wie ein fachliches Defilee reihen sich die verschiedenen generationellen und geografischen Positionierungen alphabetisch aneinander: die Hälfte der Gesprächspartner:innen sind deutsche Historiker:innen, dazu kommen sechs polnische Kollegen, sowie einzelne aus anderen Ländern. Alle sind sie fachliche Grenzgänger:innen, die mit ihren Forschungsthemen vor 1989/90 eher am Rande ihrer jeweiligen Zünfte standen, sich danach aber durch die Prominenz und Chancen der deutsch-polnischen Kooperationen, durch Institutsgründungen und Forschungsprojekte, beruflich entfalten konnten.
Dabei gibt es selbstverständlich viel Stoff für den autobiografischen Rollenkonflikt zwischen Historiker:innen und Zeitzeug:innen, vor allem zu den politischen Umbrüchen selbst, die beileibe nicht für jeden Fachmann und jede Fachfrau die eigene Selbsterzählung strukturieren. „Gar nicht so wahnsinnig wichtig“, fand die spätere Transformationsforscherin das Jahr 1989 damals: „Das würde ich jetzt, aus der Rückschau natürlich anders sehen!“ (Claudia Kraft, S. 242) Erst „im Nachhinein muss man natürlich feststellen, dass das Jahr 1989 unheimlich wichtig war“, stimmt der polnische Neuzeithistoriker ein, dem der Solidarność-Bruch 1980/81 persönlich „fast noch wichtiger“ war (Edmund Kizik, S. 219). Dass polnische Historiker bei der Überwindung des Staatssozialismus eine so sehr viel prominentere Rolle als ihre deutschen Kollegen gespielt hatten, wird regelmäßig erwähnt (Hans Henning Hahn, S. 140).
Als alternative Chronologie stechen auch viele „epistemische“ Ereignisse hervor, wie etwa die Einführung der „Beziehungsgeschichte“ durch Klaus Zernack in West-Berlin, dessen programmatischer Aufsatz von 1976 gewiss der am häufigsten erwähnte Schlüsseltext ist und dessen Name im Personenregister die meisten Einträge bereithält. Zernacks Programm öffnete die deutsche „Ostforschung“ für polnische Spiegelblicke und nahm damit unbewusst schon vieles vorweg, was Jahre später in den Hochkonjunkturen der deutsch-französischen Transferforschung zur Blüte kam – er wird zum Wegbereiter, ja zum „gesetzten Helden“ im disziplinären Gedächtnis (S. 451).
Stark zur Geltung kommen auch die alltäglichen und materiellen Dimensionen grenzüberschreitender Forschungspraxen, die sich in den hier erzählten Jahren erheblich wandelten, etwa als die plötzliche Visafreiheit 1991 das Feld der bilateralen Kollegenkontakte revolutionierte, oder als der Laptop vom Westen her seinen Eintritt in die östlichen Archive und Lesesäle machte. In kleinen Anekdoten steckt manchmal viel Symbolik: Ein junger Breslauer Historiker war zum Einheitsfest zufällig in Bonn und sang in der Menge „als braver Pole“ die deutsche Nationalhymne mit (Krzysztof Ruchniewicz, S. 381). Eine französische Kollegin war in den 1990er-Jahren „bestürzt, wie gering die Zahl an polnischen Doktorandinnen in den [Austausch-]Programmen war“ (Morane Labbé, S. 265). Auch an deutscher Seite war das Forschungsfeld sehr stark von Männern geprägt, was die Herausgeber durch gezielte Nachfragen zu thematisieren suchen, mit allerdings durchwachsenen Ergebnissen.
Eingeleitet werden die Gespräche durch eine ambitionierte, aber leider wenig entschiedene Einführung der Herausgeber, die anfangs zwar mit einer Reihe spannender Fragen zur fachlichen Selbsthistorisierung aufwarten, dann aber im Laufe der über 50 Druckseiten allzu weit ausholen und im Eklektizismus versanden. Immerhin weckt die Tour d’Horizont einer letztlich bunten Sammlung von Interviews weder falsche Kohärenzerwartungen, noch drücken die Herausgeber den Gesprächspartner:innen straffe eigene Ordnungen auf.
Eine glücklichere Hand bewiesen sie hingegen beim Schlusswort, für den sie mit Friedrich Cain und Dietlind Hüchtker (beide Wien) zwei wissenschaftshistorisch ausgewiesene Kollegen gewannen. Ihnen gelingt eine stärker analytische, weiterführende Gesamtschau, bei der sie sich den Interviews mit wissens-ethnologischem Blick nähern und „die Entwicklung der Soziokultur dieser Gruppe in ihrer spezifischen Zeit-Umwelt“ aus einer forcierten Distanz heraus zu begreifen suchen (S. 443). Das ergibt eine anregende Diskussion einiger „diskursiven Knotenpunkte“ und „blinden Flecken“ in dieser Forschungslandschaft, die fast als Einführung empfohlen werden könnte – oder wahlweise gar als mitgelieferte Buchrezension.
Daran anknüpfend möchte ich zum Schluss zwei allgemeine Beobachtungen hervorheben. Zum einen: Es überwiegt bei allen Gesprächspartner:innen die Erfahrung des Aufbruchs nach 1989/90, sowie der Lust auf neue Möglichkeiten. Perspektiven des Karriereendes und des fachlichen Aus nach dem Systemumbruch sind in diesem Band nicht vertreten. Das ist eine direkte Folge des gewählten Ansatzes, aus der Gegenwart heraus vor allem erfolgreiche Berufswege nachzuzeichnen, und zugleich ein Beleg dafür, dass in den Verdichtungen dieses Wissensnetzwerks ostdeutsch sozialisierte Akademiker:innen gänzlich fehlen. Wie Cain und Hüchtker richtig feststellen, geht es hier fast wie selbstverständlich um eine westdeutsch-polnische Fachgruppe, und es ist die Selbstverständlichkeit, die im Lichte des immer wieder bemühten „Bruchs von 1989“ geradezu verblüfft: Die DDR wird hier tatsächlich wie eine „Leerstelle“ behandelt (S. 448). Bei allen methodischen Bemühungen werden diese kaum zufälligen ostwestlichen Formatierungen nirgends mitreflektiert und auch durch Nachfragen in den Gesprächen nicht zielbewusst einbezogen, so wie es stets mit der anderen offensichtlichen Asymmetrie (der „Männerdominanz“) geschieht. Immerhin war zu dieser Zeit Last der „Abwicklungen“ omnipräsent, etwa am Leipziger Forschungsschwerpunkt Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, das als eine der Nachfolgeinstitutionen der DDR-Akademie das neue Feld mitprägte, oder auch an der von Zernack mitgeprägten Historischen Kommission zu Berlin. Wenn die Herausgeber feststellen, dass in der Forschung bislang „der Blick auf diejenigen, die in den 1990er eben nicht zu den Gewinnern zählten“, oft zu kurz kam, so bildet auch dieser Band dieses Defizit trefflich ab (S. 13).
Zum anderen berühren viele Historiker:innen der Osteuropaforschung das Wechselverhältnis von großer Politik und fachlicher Wissenschaft. Unter den hier versammelten Grenzgänger:innen und Brückenbauer:innen überwiegen bei allen diversen Akzentuierungen natürlich vermittelnde Stimmen, die in der gemeinsamen historischen Forschung auch einen Weg der deutsch-polnischen Verständigung erblickten. Aber die Erfahrungen in den prominenten Kontroversen etwa um das Vertriebenenzentrum von Erika Steinbach, der „deutsch-polnischen Reizfigur schlechthin“ (S. 37), waren oft entmutigend. Ein Historiker, der eine umfangreiche, zweisprachige Quellenpublikation zum Thema herausbrachte, musste dann feststellen, „dass niemand in der Umgebung der Entscheidungsträger auch nur einige Seiten des Werkes wenigstens durchgeblättert hatte. Keine Übertreibung: Aus der Sicht der Politik waren die acht Bände Makulatur, überflüssig und inakzeptabel, weil man lieber davon sprach, was der jeweilige Nachbar noch alles aufzuarbeiten habe.“ (Włodzimierz Borodziej, S. 70)
Auf dieser Ebene des Navigierens nationaler Empfindlichkeiten und in der oft ambivalenten Haltung des professionellen Feldes zu politischen Inszenierungen lassen sich dann auch am ehesten strukturelle Dissensen im Fach verorten – gerade auch wenn es um die allesdurchdringenden Symboliken des Dialogs ging, die in solch bilateralen und europäisierten Subfeldern der 1990er-Jahre zugleich fördernd wie drückend wirken konnten. Das von Klaus Bachmann 1993 kritisch geprägte Wort des „Versöhnungskitsches“ evozierte eine ganz andere Art von Distanz zwischen politischer Gestik und fachlichem Expertenwissen. In den hier gebündelten Gesprächen wird dazu genug gesagt, um die damalige Explosivität des Schimpfwortes zu erahnen, auch wenn fast alle im Rückblick der kritischen Diagnose zustimmen. Es ist schade, dass Bachmann selbst in der Gesprächssammlung fehlt.
Heute jedenfalls wird nationalistisch überhöhte „PiS-Geschichtspolitik“ (S. 245) unter deutsch-polnischen Forscher:innen so einhellig abgelehnt, dass sie in den Gesprächen kaum Erwähnung findet. Dies verleiht dem Rückblick auf die auf europäische Öffnung orientierten 1990er-Jahre fast auch etwas Wehmütiges.