B. Hales u.a. (Hrsg.): Rethinking Jewishness in Weimar Cinema

Cover
Titel
Rethinking Jewishness in Weimar Cinema.


Herausgeber
Hales, Barbara; Weinstein, Valerie
Reihe
German Cinema in an International Context (24)
Erschienen
Oxford 2021: Berghahn Books
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
$ 145.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Hofmann, Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig

Das Kino der Weimarer Republik übt auch heute noch eine besondere Anziehung aus. Filmklassiker wie Metropolis oder Der blaue Engel werden aufwendig restauriert und die Werke von bekannten Regisseuren wie Fritz Lang oder Ernst Lubitsch erscheinen in neuen Editionen für die heimischen Bildschirme. Auch das Leben und die Schriften herausgehobener Filmkritiker:innen wie Lotte Eisner und Siegfried Kracauer erfreuen sich weiterhin breiter Beachtung und werden selbst zum Ausgangspunkt oder Gegenstand von Dokumentarfilmen.1 Dass zahlreiche Filmschaffende der Weimarer Zeit jüdischer Herkunft waren, ist zwar weithin bekannt, doch wurden damit verbundene Themen in der Filmwissenschaft lange Zeit vermieden, während Arbeiten zur jüdischen Geschichte das Medium Film vernachlässigten. Erst seit den 2000er-Jahren sind zunehmend wissenschaftliche Studien entstanden, die die Selbstbilder jüdischer Filmschaffender, die Behandlung oder Vermeidung jüdischer Fragen in ihrem Schaffen sowie die Darstellung von Juden im Film der Weimarer Republik behandeln.2

Mit Rethinking Jewishness in Weimar Cinema liegt nun ein Sammelband vor, der sich gänzlich auf Untersuchungen zu jüdischen Fragen im Kino zwischen Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus fokussiert. Der von Barbara Hales und Valerie Weinstein herausgegebene Band ist in drei thematische Abschnitte unterteilt, die jeweils vier bis fünf Beiträge enthalten: Der erste Teil befasst sich mit der Frage, wie Filmschaffende mit ihrer jüdischen Zugehörigkeit in ihren Werken sowie abseits der Leinwand umgingen, sie ansprachen oder verbargen. Teil zwei ist der impliziten Thematisierung jüdischer Fragen im Film durch codierte Markierungen jüdischer Zugehörigkeit gewidmet. Schließlich beschäftigt sich der dritte Teil mit antisemitischen Imaginationen in der Produktion und Rezeption von Filmen. Die Aufsätze in den einzelnen Abschnitten spiegeln auch in methodischer Hinsicht die ganze Bandbreite filmhistorischer Arbeiten mit Bezug zur jüdischen Geschichte wieder. Einige Beiträge widmen sich dem Close Reading einzelner Filme, andere untersuchen in Vergessenheit geratene Filme, Personen und Konstellationen, während andere Texte stärker auf die zeitgenössische Rezeption eingehen.

Zahlreiche Beiträge zeichnen sich durch innovative Ansätze aus. So diskutieren verschiedene Aufsätze, wie sich Fragen jüdischer Sichtbarkeit im Film niederschlugen. Margrit Frölich zeigt etwa in ihrem Text über Alexander Granach (1890–1945), dass dessen jüdische Zugehörigkeit, Herkunft aus Galizien sowie proletarischer Hintergrund einen wesentlichen Teil seines Selbstverständnisses ausmachten und seine Arbeit als Theater- und Filmschauspieler prägten. Obwohl Granach zahlreiche Bemühungen unternahm, sich an die Erwartungen eines deutschen Publikums anzugleichen, seinen Namen änderte und sich in einer äußerst schmerzvollen und risikoreichen Operation die Beine geradebrechen ließ, stellte er in seinem Spiel beständig die eigene Differenz heraus und suchte Antisemitismus auf Bühne und Leinwand zu begegnen. 1930 plante er sogar ein Filmprojekt über die Pogrome an den Juden der Ukraine am Ende des Ersten Weltkriegs. Des Weiteren befassen sich mehrere Beiträge mit der Praxis des typecasting, die dazu führt, dass Schauspieler:innen immer wieder mit denselben Rollen betraut werden, da sie der Vorstellung eines Typus zu entsprechen scheinen, der mit der Filmfigur verbunden wird. So thematisieren Maya Barzilai und Kerry Wallach, inwiefern diese Besetzungspraxis dazu führte, dass jüdische Schauspieler:innen Stereotype über Juden reproduzierten oder diese durchbrechen konnten.

Dass die offene Auseinandersetzung mit jüdischen Fragen auch vom erwarteten Publikum abhängig gemacht wurde, zeigt Mila Ganeva in ihrem Aufsatz über den heute vergessenen Schauspieler Siegfried Arno (1895–1975). Arno spielte in seinen Kabarettauftritten oftmals selbstironisch mit Vorstellungen über Juden und führte mit sogenannter Jargonkomik antijüdische Imaginationen ad absurdum. In seinen Filmen wurden mit seiner wachsenden Bekanntheit explizit jüdische Rollen immer seltener, was einerseits als die Suche nach einem möglichst breiten Publikum, andererseits als Einfluss des immer weiter zunehmenden Antisemitismus Anfang der 1930er-Jahre gedeutet werden kann. Eine ähnliche Entwicklung beschreibt Lisa Silverman in ihrer Analyse des Films Die freudlose Gasse (1925), den sie mit der Romanvorlage von Hugo Bettauer (1872–1925) und dem Drehbuch vergleicht. Dabei kann sie zeigen, dass die im Roman offen thematisierten jüdischen Bezüge im Drehbuch immer weiter zurücktraten und im Film komplett gestrichen wurden, wodurch die ursprüngliche Aussage des Romans über Misogynie und Antisemitismus im Film entscheidend verändert wurde.

Der Einfluss von Antisemitismus auf die Öffentlichkeit der Weimarer Republik wird in verschiedenen Aufsätzen deutlich. So arbeitet Brook Henkel in seinem Beitrag über die Rezeption des Wissenschaftsfilms Über die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie (1922) heraus, dass für die antisemitischen Vorwürfe gegen den Film nicht nur die bekannten Ressentiments gegen Albert Einstein (1879–1955) und dessen Arbeit maßgeblich waren, sondern diese sich vor allem an den abstrakten Animationen entzündeten, die grundlegende physikalische Phänomene der Relativität erklärten, die vor Einstein bekannt waren. Dadurch zeigt Henkel, wie diffuse Ängste über Begleiterscheinungen des modernen Lebens, die sich im Begriff der Relativität trafen, auf den Film projiziert wurden. Die Aufsätze von Christian Rogowski und Andréas-Benjamin Seyfert arbeiten anhand der Rezeptionsgeschichte von Ludwig Bergers (1892–1969) Film Der Meister von Nürnberg (1927) sowie der kurzfristigen Zulassung und des anschließenden Verbots von Robert Siodmaks (1900–1973) Brennendes Geheimnis (1933) heraus, wie sich die antisemitische Filmpolitik zum Ende der Weimarer Republik und in den ersten Monaten nach der Machtübertragung erst konkret ausformte.

Abgerundet wird der Band von einem kurzen Einblick in die aufwendigen Restaurierungsarbeiten der Filme Das alte Gesetz (1923) und Die Stadt ohne Juden (1924) durch Cynthia Walk. Darin verweist sie auf die einschlägigen Differenzen von Exportfassungen der Filme, die darauf hindeuten, dass Filme in Bezug auf die Darstellung von Juden und Antisemitismus auf den vermuteten Publikumsgeschmack oder auf politische Vorgaben in dem Exportland zurechtgeschnitten wurden. Damit benennt Walk ein neues Forschungsthema, zu dem bisher noch keine Arbeiten existieren.

Leider sind die Beiträge in dem Band nicht durchgehend von hoher Qualität. Während die Herausgeberinnen etwa in der Einleitung den Konstruktionscharakter der Kategorie „Jewishness“ hervorheben, schreiben manche Autorinnen und Autoren beständig von Juden als „ethnic group“, obwohl nur ein geringer Teil der Juden in der Weimarer Republik ein ethnisches Selbstverständnis aufwies. Hier scheinen statt historisch passender Termini die Begriffe der amerikanischen Gegenwart genutzt worden zu sein. Zudem wird bei mehreren Filmanalysen, die zu dem Schluss kommen, dass in den Filmen antisemitische Stereotype reproduziert wurden, nicht deutlich, ob dies auch von Zeitgenossen so wahrgenommen wurde. Trotz der in der Einleitung von den Herausgeberinnen angemahnten historischen Kontextualisierung bleiben die Untersuchungen an diesem Punkt stehen. Dabei wäre es interessanter zu fragen, warum ein Film, eine Filmfigur oder eine spezifische Konstellation zu einer bestimmten Zeit als antisemitisch wahrgenommen wurde oder nicht.

Letztendlich schmälern diese Kritikpunkte jedoch nicht die Bedeutung des Sammelbands, an dem zukünftig niemand vorbeikommt, der über jüdische Fragen im Weimarer Kino arbeitet. Sowohl methodisch als auch inhaltlich stellen die darin versammelten Beiträge eine wahre Fundgrube dar, die sich für weiterführende Forschungen anbietet und zugleich Lust darauf macht, die erwähnten Filme (noch einmal) zu sehen. Nur der Preis des Buchs scheint übertrieben hoch vor dem Hintergrund, dass relativ dünnes Papier verwendet wurde, das eng bedruckt ist, und auch die wenigen Abbildungen sich nicht durch eine hohe Qualität auszeichnen.

Anmerkungen:
1 Von Caligari zu Hitler, D 2014, R: Rüdiger Suchsland, 118 Min.; Ein Leben für den Film – Lotte Eisner, D/F 2020/2021, R: Timon Koulmasis, 55 Min.
2 Siehe beispielhaft die drei ausführlichsten Publikationen in diesem Bereich: Irene Stratenwerth / Hermann Simon (Hrsg.), Pioniere in Celluloid. Juden in der frühen Filmwelt, Berlin 2004; S.S. Prawer, Between Two Worlds. The Jewish Presence in German and Austrian Film, 1910–1933, New York 2005; Ofer Ashkenazi, Weimar Film and Modern Jewish Identity, New York 2012.

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