Cover
Titel
In die Höhle des Löwen. 200 Jahre Löwendenkmal Luzern


Herausgeber
Stadelmann, Jürg
Reihe
Luzern im Wandel der Zeiten (19)
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
CHF 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rachel Huber, Historisches Seminar, Universität Luzern

Denkmäler sind multitemporal. Aus ihnen heraus kommunizieren mehrere Zeitebenen. Das Löwenmonument in Luzern nimmt sich von dieser allen Denkmälern innewohnenden Eigenheit nicht aus.1 In 50 oder 100 Jahren wird im Rückblick auf das gegenwärtige Jubiläum des sterbenden (oder ruhenden?) Löwen in der pittoresken innerschweizer Stadt eine weitere Zeitschicht sichtbar sein, die ihm immanent ist. Das Buch „In der Höhle des Löwen. 200 Jahre Löwendenkmal Luzern“, das vom Büro für Geschichte, Kultur und Zeitgeschehen Luzern herausgegeben wurde, ist insofern selbst Teil dieser Denkmalgeschichte.

Im Prolog werden unzählige, multiperspektivische Fragen aufgeworfen. So fragt der Sammelband etwa danach, wofür der Löwe eigentlich steht und wie er in den letzten 200 Jahren seit seiner Entstehung rezipiert wurde (S. 24f.). Das Buch ist chronologisch aufgebaut und behält dabei die verschiedenen Zeitebenen im Blick. So gehen die 16 Beiträge nicht nur auf die Geschichte des Ereignisses ein, an das der Löwe erinnert (1792), sondern auch auf die Zeit, in der das Denkmal konzipiert, errichtet und eingeweiht wurde (1821), und führen danach etappenweise in die Gegenwart, in der das neueste Kapitel der Rezeptionsgeschichte geschrieben wird.

Alain-Jacques Tornare beleuchtet beispielsweise im ersten Beitrag nicht nur das epochale Ereignis des Tuileriensturms in Paris vom 10. August 1792, bei dem mehrere Schweizer Gardisten ums Leben kamen, während sie den französischen König vor den Revolutionären schützten. Er ordnet auch die unmittelbare Rezeptionsgeschichte des Ereignisses aus schweizerischer und französischer Perspektive ein und macht dabei deutlich, dass bereits der Errichter des Denkmals, Carl Pfyffer von Altishofen, die vom Löwen repräsentierte Geschichte verzerrte. Gewidmet ist das Denkmal zwar allen gefallenen Gardisten, es nennt aber namentlich nur die Offiziere, von denen noch dazu viele überlebten – die einfachen Soldaten bleiben hinter der falschen Zahl namenlos. Die Verzerrung machte aus der Perspektive des Patriziers Pfyffer von Altishofen Sinn. Das Denkmal sollte die im Untergang begriffene Welt seiner Schicht repräsentieren: wohlhabende und mächtige Luzerner Familien, die durch ihre Söldnerunternehmen reich wurden und blieben und die von den Beziehungen zum französischen Königshof profitierten.

Cécile Huber kontrastiert im zweiten Beitrag die Lebenswelt der Royalisten, indem sie die Seite derjenigen beleuchtet, die den Machteliten bzw. dem Soldpatriziat der Eidgenossenschaft seit dem 16. Jahrhundert Reichtum brachten: den Söldnern. Sie geht anschaulich darauf ein, wer die Söldner waren, woher sie kamen, wie viel sie verdienten und was mit ihnen nach ihrem Dienst in der Fremde geschah. Gerade weil Huber damit die andere, unsichtbare Seite des Sandsteinlöwen beleuchtet, macht sie in der Kontrastierung deutlich: Das Löwendenkmal repräsentiert die Patrizierfamilien, die als Kriegsunternehmer die Gewinner der alten Ordnung waren. Damit büßt das majestätische Tier, das nicht stirbt, sondern nur ruht (S. 113), nichts an Aktualität ein.

Für Carl Pfyffer von Altishofen selbst bedeutete das Ende des Ancien Régime jedoch nicht das Ende seiner Stellung. Wie er und seinesgleichen nach 1792 die Strategie des „Obenbleibens“ (S. 77ff.) verfolgten, wird im Beitrag von Philippe Rogger deutlich.

Der Sandsteinlöwe ist aber nicht nur ein Denkmal, das für ein Ereignis im 18. Jahrhundert und für konservative Werte der Denkmalinitiatoren und deren Familien steht, sondern auch Dreh- und Angelpunkt für die ökonomische Ausrichtung Luzerns seit dem 19. Jahrhundert. Er ist sozusagen das Bindeglied zwischen der alten und der neuen Luzerner Wirtschaft. Bevor er im Fels Form annahm, vermochte er – unter anderem durch das Marketinggeschick und das internationale Netzwerk des privaten Errichters Pfyffer – einflussreiche Geldgeber aus der ganzen Schweiz und aus dem Ausland für sich zu begeistern. Der Löwe war von Anfang an von internationaler Bedeutung. Auch später sollte er Tourist:innen von nah und fern anziehen. So schreibt Andreas Bürgi in seinem Beitrag, der die Entwicklung der „Tourismusmeile“ rund ums Löwendenkmal und dessen Bedeutung in der Genese des Tourismusstandorts Luzern erläutert: „Das Löwendenkmal wurde zum Kristallisationskörper für die nun entstehende und bis 1870 rasch wachsende Tourismusmeile“ (S. 171).

Auch Silvia Hess geht auf die Stadtmarketingaspekte des gigantischen Monuments und somit auf das Luzerner Tourismuskonzept und seine „visuelle Ausrichtung“ (S. 213) ein. Das Löwendenkmal sei ein sogenanntes Multiple: „Multiple meint ein Kunstwerk, das aus vielen, seriell hergestellten Teilen besteht, die aufeinander verweisen“ (S. 213). Zu den Bildern und Objekten bzw. zur Gebrauchsgeschichte des Löwen führt die Autorin konzis aus, dass Serien von Löwen auf das Monument zurückwirken und den Blick darauf verändern: „vom umstrittenen Gefallenendenkmal für den Adel über ein nationales Denkmal wurde es zu einem Wahrzeichen der Tourismusstadt Luzern und zur Marke.“ (S. 224).

Der Sammelband beinhaltet als dritten Schwerpunkt auch Interviews mit verschiedenen Stakeholdern des Denkmals. Zum einen kommen die Denkmalpflegerin, eine Landschaftsarchitektin, ein Steinrestaurator und der Stadtgärtner zur Sprache, die den Löwen im Auftrag der Stadt Luzern schützen und pflegen, „weil ein Teil dieses Denkmals lebende Materie ist“ (S. 199). Dieses Kapitel vermittelt spannende Einsichten in die Fragilität des sensiblen Sandsteinkunstwerks und den alltäglichen Umgang damit. Zum andern werden scheinbar unsystematisch ausgesuchte Luzerner:innen nach der Bedeutung des Löwen für ihr (Berufs-)Leben gefragt. Eine weitere Interviewgruppe stellen die Nachkommen der Patrizierfamilien dar, die mit der Geschichte des Löwen verbunden sind. Spätestens hier wird deutlich, dass das Buch eine ausgeprägte Luzerner Perspektive auf das berühmteste Denkmal der Schweiz einnimmt. Mit wenigen Ausnahmen haben alle Autor:innen und interviewten Personen einen starken Bezug zu Luzern. Es stellt sich die Frage, ob dem Jubiläumswerk nicht auch eine Außensicht zuträglich gewesen wäre. Zu guter Letzt vermitteln die Stakeholder des Denkmals einen liebevollen und wohlwollenden Blick, den nur Stadtluzerner:innen haben können, deren Alltagsleben der Löwe und seine Denkmalfunktion auf verschiedenste Weise – in den wenigsten Fällen aber politisch – berührt. Sie fragen sich nicht, welche Seite der Geschichte unsichtbar bleibt und warum die repräsentierten Werte heute kritisch zu hinterfragen sind.

So vollzieht sich über diese Struktur des Buches eine Entpolitisierung: Das Löwendenkmal steht nun für seine Kommerzialisierung. Die vom Löwen repräsentierten reaktionären, konservativen Werte eines mächtigen Standes, der auf dem Rücken von Armen und durch Krieg zu extremem Reichtum gekommen ist, geraten in den Hintergrund. Der ebenfalls wichtige Fokus auf die Genese der geschichtslosen Tourismusattraktion „Löwendenkmal“ als Marketingaspekt des Overtourism2, der in Luzern so ausgeprägt ist wie in kaum einer anderen Schweizer Stadt, legt eine ökonomische, weniger erinnerungspolitische Betrachtungsebene wie einen Schleier über die Erkenntnisse aus den ersten Beiträgen, die Schlaglichter – auch von unten – auf die unsichtbare Seite der Geschichte des Denkmals werfen.

Manuel Menrath sinniert schließlich im letzten Beitrag, der sich selbst fast wie eine integrierte Rezension liest, ebenfalls darüber, wie Menschen dieses Buch in „weiterer Zukunft, etwa im Jahr 2221 […]“ (S. 293) lesen und wirft die berechtigte Frage auf: „Würde es sie irritieren, dass darin kritisch bemerkt wird, die einfachen Soldaten seien auf der Denkmalschrift nicht namentlich genannt, gleichzeitig aber fast nur akademisch Ausgebildete oder Nachfahren von Patriziern zu Wort kommen […]?“ (S. 294).

Es scheint ein Buch von Luzerner:innen für Luzerner:innen geworden zu sein. Während die Großwetterlage in Sachen Denkmaldebatten, die in der Schweiz vom Frauenstreik 2019, den globalen Black-Lives-Matter-Protesten 2020, des bereits lange andauernden Diskurses über koloniale Verstrickungen der Schweiz3 und der damit verknüpften Frage nach den unsichtbaren Seiten von Metanarrativen4 sowie der Bührle-Sammlung-Problematik5 in Zürich noch andauert, wäre eine etwas kritischere (und theoretische) Einordnung des Löwendenkmals wünschenswert gewesen.

Dennoch: Die verschiedenen Perspektiven des Sammelbandes nehmen eine differenzierte und kritische Sicht auf das Löwendenkmal ein und liefern damit sowohl für ein wissenschaftliches als auch für ein Laienpublikum einen breiten Überblick. Die Jubiläumspublikation dient somit als gute Ausgangslage für die Auseinandersetzung mit dem Sandsteinlöwen von Luzern.

Bücher können, zumal sie für Jubiläen herausgebracht werden, selbst Denkmäler darstellen.6 Vor dem Hintergrund aktueller erinnerungspolitischer Debatten und der damit verbundenen Frage, ob Denkmäler in Stein gemeißelt oder in Bronze gegossen für die Ewigkeit stehen müssen7, kann dieses Buch per se als ein zugängliches Denkmal erachtet werden, das wiederum selbst eigene (Luzerner) Werte repräsentiert.

Anmerkungen:
1 Bezogen auf den engen Denkmalbegriff nach: Georg Kreis, Zeitzeichen für die Ewigkeit. 300 Jahre Schweizerische Denkmaltopografie, Zürich 2008, S. 12.
2 Claudio Birnstiel, In Luzern kommt es zum ersten „Overtourism“-Showdown des Jahres, in: Zentralplus, 27.01.2021.
3 Patricia Purtschert / Barbara Lüthi / Francesca Falk (Hrsg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2012.
4 Rachel Huber, ‘General Sutter’ – Die Obskure Seite einer Schweizer Heldengeschichte, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 69,3 (2019), S. 418–433.
5 Erich Keller, Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle, Zürich 2021.
6 Georg Kreis, Zeitzeichen für die Ewigkeit. 300 Jahre Schweizerische Denkmaltopografie, Zürich 2008, S. 12.
7 Philine Erni / Sarah Grossenbacher / Rachel Huber / Vera Ryser, Denkmäler verlernen oder entfernen. Wie geht das?, in: SAGW-Blog „Décodage“, 02.12.2021.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/