Cover
Titel
Warschau. Ein Wiederaufbau, der vor dem Krieg begann


Autor(en)
Popiołek-Roßkamp, Małgorzata
Reihe
FOKUS. Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas (1)
Erschienen
Paderborn 2021: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Röttjer, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Das immense Ausmaß der Zerstörung Warschaus im Zweiten Weltkrieg durch gezielte Kampagnen der deutschen Besatzer war beispiellos. Die Entscheidung, Warschau als Hauptstadt wiederaufzubauen, fiel bereits im Januar 1945, lange vor Beendigung des Kriegs. Opfer der gewaltigen Zerstörung geworden zu sein und zugleich die enorme Aufgabe des Wiederaufbaus gemeistert zu haben – daraus entstand ein über Jahrzehnte wirkmächtiger Gründungsmythos für die Volksrepublik Polen, in dem Warschau für die ganze Nation steht; er wirkt bis heute weiter. Diese Erzählung und die Leistungen des Wiederaufbauprogramms wurden dabei nach innen und außen als Projekt des Kulturerbes erfolgreich vermarktet. Das Beispiel Warschau erlangte weltweite Geltung für einen in vielen Parametern als „authentisch“ beurteilten, flächendeckenden Wiederaufbau eines zerstörten historischen Stadtensembles.

Die nationale Meistererzählung von „Zerstörung und Auferstehung“ vollständig zu verlassen und eine umfassende, historisch und kunsthistorisch informierte Dekonstruktion des „Wiederaufbaus“ von Warschau vorzulegen, das war bisher eine Forschungslücke. Auch die Planungen und die wieder errichtete Architektur als solche wurden noch keiner profunden kunsthistorischen Einordnung unterzogen. Beides leistet jetzt die Dissertation von Małgorzata Popiołek-Roßkamp, die im binationalen Promotionsverfahren an der Technischen Universität Berlin und der Universität Breslau entstanden ist. Sie greift die in den 2000er-Jahren von Andrzej Tomaszewski angestoßene architekturhistorische Einordnung des Wiederaufbauprogramms1 und dessen kritische Untersuchung durch Forscher:innen wie Małgorzata Omilanowska, Arnold Bartetzky, Tomasz Torbus, Piotr Majewski, Beate Störtkuhl u.a. auf. Obwohl die Literatur zu Warschau Legion ist, liefert die am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung tätige Popiołek-Roßkamp etwas Neues, das über die bisherigen Arbeiten2 zur Entmythologisierung Warschaus hinausgeht. Dies gelingt der Autorin nicht zuletzt, indem sie viele andere Aspekte einbezieht, etwa die biografischen und konzeptuellen Verflechtungen der Architekt:innen.

„Ein Wiederaufbau, der vor dem Krieg begann“? Die bereits im Untertitel vorweggenommene starke Hauptthese der Arbeit lautet erstens: Es gab eine direkte Kontinuität der polnischen Denkmalpflege von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit. Und zweitens war – der historischen Ausnahmesituation und dem politischen System zum Trotz – die Wiederaufbaukampagne in einen europäischen Kontext eingebettet; sie interagierte auf zahlreichen Ebenen mit europäischer Theorie und Praxis der Architektur und des Städtebaus. Wie genau sahen diese Kontinuitäten und Verflechtungen aus? In welcher Weise wurde das Erbe Warschaus beim Wiederaufbau „neu konstruiert“? Die dichte, historisch und kunsthistorisch angelegte Forschungsarbeit analysiert die architektonischen, städtebaulichen, denkmalpflegerischen und politischen Ideen, die in das Konzept des Wiederaufbaus einflossen und erhellt diese Fragen (und noch viel mehr).

Die Arbeit ist schlüssig strukturiert und argumentiert. Aus dem Forschungsvergnügen, bestehende Mythen zu entkleiden und stattdessen neue, kluge Zusammenhänge zu entdecken, wird in diesem Buch ein Lesevergnügen. Das gilt für die am Anfang dargelegte Entwicklung der polnischen Denkmalpflege ebenso wie für die Entstehung des „Warschau-Mythos“, aber auch für alle anderen Kapitel. Immer wieder wird das Spannungsverhältnis zwischen Expert:innen bzw. der Zirkulation von Expertenwissen und politischem Kontext herausgearbeitet, etwa wenn es um die „zwiespältige Wahrnehmung der Deutschen als Besatzer und Fachleute“ (S. 63) geht. Der unvoreingenommene Blick auf die Akteure erweist sich dafür als unverzichtbar: Sie gewährleisteten nicht nur die Kontinuität über Zäsuren hinweg, sie prägten grundlegende Narrative über ihr eigenes Werk, sie vermittelten erste Forschung hierzu. Wertvolle Einsichten ergeben etwa die differenzierte Behandlung der Architekt:innen der Moderne einerseits und der als „Denkmalpfleger“ charakterisierten Akteure andererseits, sodass die oft zu lesende dichotome Vorstellung, es habe zwischen beiden Gruppen keinerlei gemeinsame Vorstellungen von den Bedarfen der Stadt und ihrer Einwohner:innen gegeben, in sich zusammenfällt.

Auf diesem historischen Geflecht aufbauend werden die Um- und Aufbauplanungen während der deutschen Besatzung, die Zerstörung und der eingeleitete Wiederaufbau analysiert. Es zeigt sich eindrucksvoll, wie weit diese, in einen breiten europäischen städtebaulichen Kontext eingebetteten, Planungen davon entfernt waren, sich 1945 auf eine imaginierte „Stunde Null“ reduzieren zu lassen. Eine der besonderen Stärken in der Verbindung historischer und kunsthistorischer Methoden liegt in der detaillierten Analyse sowohl konkreter städtebaulicher Lösungen als auch einzelner Bauobjekte, darunter Altstadtmauer, Königsschloss, Ost-West-Magistrale. Die Fallstudien zeigen die Ergebnisse des Stadtumbaus und die jenseits des ideologischen Überbaus verwendeten Methoden, die bis hin zur teilweise völligen Rücksichtslosigkeit der Architekt:innen gegenüber den Notwendigkeiten der Bewohner:innen reichten.

Zu den bis heute reproduzierten Mythen, die Popiołek-Roßkamp dekonstruiert, gehört auch derjenige der Vergemeinschaftung des Bodens im Dekret vom Oktober 1945 als „sowjetisches Verbrechen“. Ebenso zählt die – offenbar völlig überschätzte – Bedeutung des Plans von Hubert Groß, Warschau abzureißen und in eine Stadt von 40.000 Einwohnenden zu verwandeln, dazu – was nicht heißt, dass die stattdessen von den Deutschen für Warschau geschmiedeten Pläne der maximalen ökonomischen Ausbeutung weniger menschenverachtend gewesen seien, wie die Autorin anmerkt.

Besonders hervorzuheben ist, dass durch die stets in einen reichen Forschungskontext eingebettete intensive Beschäftigung mit in Teilen völlig neuen Quellen immer wieder Brüche und Lücken in den gängigen Narrativen aufgezeigt werden, etwa wenn es um die Fortsetzung der Arbeit der Städtischen Kommission für Denkmalpflege durch Stanisław Lorentz unter deutscher Besatzung geht. Die aufgespürten Verflechtungen und (Dis-)Kontinuitäten in den Institutionen waren nicht nur für den Wiederaufbau Warschaus, sondern auch für den politischen, denkmalpflegerischen sowie Modernisierungsdiskurs vor und nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend. Anders als in bisherigen Veröffentlichungen zeigt sich, dass alle relevanten Planer:innen die ersten Zerstörungen als eine Chance für die architektonische und städtebauliche Verbesserung begrüßten – Architekt:innen der Moderne und „Denkmalpfleger“ gleichermaßen.

Die kunsthistorische Analyse des Wiederaufbauprogramms für die Altstadt belegt die Kontinuität zu den Plänen vor 1945, die auf Verbesserung der Wohnbedingungen und Harmonisierung der Architektur abzielten. Kulturelle Funktionen wurden dem Viertel neu hinzugefügt. Nach dem Krieg war zwar nicht mehr von einer „elitäreren“ Bevölkerung die Rede. Aber die in der sozialistischen Propaganda hervorgehobene Arbeiterklasse wurde vorrangig um den Marktplatz herum angesiedelt, der Rest der Wohnungen an Beamte verteilt. Der schon zuvor von den Planer:innen angestrebte Bevölkerungsaustausch war möglich geworden, weil ein großer Teil der Einwohner:innen der Altstadt im Krieg umgekommen oder unter deutscher Besatzung ermordet worden war, darunter so gut wie alle Jüdinnen und Juden, mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Altstadt. Im Ergebnis wird deutlich, dass der historisch wiederaufgebaute Stadtkern vor allem als „ein Denkmal seiner Zeit“ (S. 340) zu verstehen ist, das Vorstellungen von Geschichte und Architektur und den Stand der Bautechnik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeige. Popiołek-Roßkamp bringt es auf die konzentrierte Formel: „[B]eim Wiederaufbau [ist] ein künstliches, homogenes Bild der architektonischen (ohne Historismus), wirtschaftlichen (ohne Kapitalismus), politischen (ohne russische Besatzung), sozialen (ohne Arme) und ethnischen (ohne Juden) Vergangenheit der Stadt entstanden.“ (S. 341)

Die einzigen, wirklich wenigen Stellen, an denen der Lesefluss etwas holpert, sind diejenigen, an denen sehr rasch die Ebenen gewechselt werden, von zitierten zeitgenössischen Diskursen zur heutigen geschichtswissenschaftlichen Analyse. Hier setzt die Autorin teils zu viel bei den Leser:innen voraus. Ein etwas strengeres Lektorat in Bezug auf diese Formulierungsfragen hätte davor geschützt. Die Kraft der Analyse kann dies allerdings nicht schwächen.

Das Buch leistet am Ende sogar noch mehr, als die Hauptthesen nahelegen. Aus der Dichte der Quellen entsteht mit der erwähnten Interdisziplinarität der Methoden ein neues Bild nicht nur des Wiederaufbaus der polnischen Hauptstadt. Małgorzata Popiołek-Roßkamp reißt die magische Zäsur von 1945 nieder und ersetzt sie durch einen Einblick in das differenzierte Geflecht von Kontinuitäten und Brüchen. Auf diese Weise ermöglicht sie ein besseres Verständnis gleich auf mehreren Ebenen. Dies gilt zuvorderst für die Entwicklung von Architektur, Denkmalpflege und Städtebau in Polen, aber auch für deren europäisches Gesamtverständnis. Darüber hinaus erbringt die Studie einen erheblichen Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Interaktion zwischen Architektur, Denkmalpflege und Politik sowie ganz allgemein das Funktionieren (nicht nur) der polnischen Gesellschaft unter den Bedingungen von Besatzung und Krieg einerseits und am Beginn einer neuen Gesellschaftsordnung andererseits. Das Buch leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht nur Architekturhistoriker:innen und denjenigen unbedingt zur Lektüre empfehlen, die die Entstehung historischer Mythen untersuchen, sondern ohne Einschränkung allen an europäischer Zeitgeschichte Interessierten.

Anmerkungen:
1 Andrzej Tomaszewski, Legende und Wirklichkeit. Der Wiederaufbau Warschaus, in: Dieter Bingen / Hans-Martin Hinz (Hrsg.), Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen, Wiesbaden 2005, S. 165–173.
2 Vgl. u.a. Tomasz Fudala (Hrsg.), Spór o odbudowę Warszawy. Od gruzów do reprywatyzacji, Warszawa 2016; Piotr Majewski, Ideologia i konserwacja: architektura zabytkowa w Polsce w czasach socrealizmu, Warszawa 2009; Grzegorz Piątek, Najlepsze miasto swiata. Warszawa w odbudowie 1944–1949, Warszawa 2020.

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