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Titel
Eine Nation und ihre Denkmäler. Erinnerungskultur im postsowjetischen Aserbaidschan


Autor(en)
Jivazada, Elnura
Reihe
Historische Mitteilungen (102)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melanie Hussinger, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Die vorliegende Arbeit untersucht das Zusammenwirken von Nationsbildung und Erinnerungskultur in einem Land, dessen vergleichsweise junge nationale Identität aus den Sezessionsbewegungen der frühen 1990er-Jahre hervorgegangen ist: das postsowjetische Aserbaidschan. Das 360 Seiten umfassende Werk basiert auf Elnura Jivazadas 2018 an der Universität Mainz eingereichter Dissertation „Denkmäler und nationale Identität in Aserbaidschan 1990-2013“. Jivazada sucht darin Antworten auf die Fragen, „welche Rolle das Erbe der Vergangenheit in einem Transitland zwischen Großregionen für die Gemeinschaft spielt“ (S. 11), wie sich die nationale Identität in Aserbaidschan manifestiert und wie sich diese von Denkmälern ablesen lässt.

Der auf Johann Gustav Droysen zurückgehende Begriff des Denkmals als „historisches Material“ steht im Mittelpunkt der Publikation. Denkmäler, so schrieb Droysen in seiner Historik, seien die Kombination aus „Überrest“ und „Tradition“.1 Dienlich sei das Medium Denkmal, so Jivazada, um die Struktur der Geschichtsbilder, der Machtverhältnisse und der Werte einer Gesellschaft zu verstehen. Jivazada zeigt damit die Vielschichtigkeit von Intention, Funktion und Perzeption der Denkmäler. Sie kombiniert kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien mit der Nationalismusforschung, worin gleichsam einer der großen Mehrwerte dieser Arbeit zu sehen ist. Die Publikation reiht sich in das breite Feld der osteuropäischen Erinnerungskultur ein, die in den letzten Jahren durch zahlreiche Forschungsarbeiten beleuchtet wurde.2 Aserbaidschan und seine Erinnerungslandschaft indes wurden in der historischen Forschung kaum betrachtet, was die Lektüre Jivazadas umso vielversprechender macht.

Auf theoretischer Ebene stützt sich die Arbeit auf den Begriff des „verletzten Gedächtnisses“ (Paul Ricœur), um die Erinnerungskultur im Zusammenhang von Nationsbildungsprozessen etwa unter Bezug auf Mirsolav Hrochs „Europa der Nationen“ in Aserbaidschan besser zu verstehen. Hroch unterteilt darin die Herausbildung der nationalen Identität in drei Phasen, der ein emanzipatorisches Verständnis von Nationalismus zugrunde liegt.3 Ricœurs „verletztes Gedächtnis“, das die Missbrauchsanfälligkeit des nationalen Gedächtnisses aufgrund von Identitätskrisen beschreibt, bildet das Scharnier zum nation building.4 So versteht Jivazada die Erinnerung in der von Zwangsumsiedlungen und Grenzverschiebungen geprägten neueren Geschichte Aserbaidschans „als Medium der Konfliktaustragung“ (S. 15).

Elnura Jivazada untersucht Akteure und Praktiken der Erinnerungen im Aserbaidschan der Jahre 1990 bis 2013. Doch welche Personenverbände bestimmen die von ihr untersuchte aserbaidschanische Erinnerungslandschaft? Grundsätzlich unterteilt Jivazada in staatliche Akteure, soziale Gruppen und Vereine. 14 Akteursgruppen prägen den Erinnerungsdiskurs, darunter die Heidar-Alijew-Stiftung, der Schriftstellerverband (AYB), die Hinterbliebenen der Gefallenen des Karabach-Krieges oder etwa Historiker.

Neben dem Denkmal als Quelle, welchem 35 angehängte Abbildungen gewidmet sind, führte Jivazada Oral-History-Interviews durch, um die Wirkung der neu errichteten Denkmäler auf die Zivilbevölkerung zu erfassen. Das Gros der Interviews führte die Autorin mit Vertretern staatlicher Institutionen, Historikern, Künstlern, Zeitzeugen sowie Vereinsvertretern. Recherchen in dem Archiv der politischen Parteien und Bewegungen in Baku, Verwaltungsakten sowie staatliche Enzyklopädien und Schulbücher gaben Aufschlüsse über die staatliche Erinnerungspolitik.

Der empirische Hauptteil der Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Ein hinführendes zweites Kapitel legt die kulturellen Voraussetzungen der kollektiven Erinnerung in Aserbaidschan dar. Darunter subsummiert Jivazada die Schriftreform, die kontrovers diskutierte Bezeichnung der Sprache sowie die Religion und ihre Rolle in der Erinnerung.

Der Implementierungs- und Perzeptionsgeschichte sozialistischer Denkmäler gilt das zweite Kapitel der Abhandlung. Wie in anderen post-sozialistischen Staaten kam es auch in Aserbaidschan zu verschiedenen Phasen von Denkmalstürzen. Die erste Etappe von 1988 bis 1992 sei von einer Renaissance der nationalen Idee im Lichte des armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes begleitet worden, wobei die sowjetische Historie eine Umdeutung als Geschichte der Fremdherrschaft erfahren habe. Die zweite Phase seit Ende der 2000er-Jahre richtete sich gegen die verbliebenen kommunistischen Denkmäler. Eines der prominentesten Standbilder des sozialistischen Staates, das Sergej-Kirow-Denkmal, wurde unter großer medialer Inszenierung demontiert. Kirow war von 1921 bis 1925 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Aserbaidschan, sein Name ist mit der Sowjetisierung Aserbaidschans verbunden. Der performative Denkmalsturz am 5. Januar 1991 – kurz vor dem ersten Jahrestag des Einmarsches der sowjetischen Armee am 20. Januar 1990 – habe den medial inszenierten Sturz als „Akt der symbolischen Bestrafung des kommunistischen Staates“ (S. 86) für die Opfer des sowjetischen Einmarsches ausgewiesen. Auch dem Denkmal für Nariman Narimanow, dem ersten Ministerpräsident der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik, drohte während der Unabhängigkeitsbewegung die Demontage, verkündete doch der Sockel des Monuments Narimanows russisch-aserbaidschanische Zukunftsversion.

Auch bisweilen unrealisierte Denkmalprojekte wie jenes für den osmanischen General Nuru Paşa nimmt Elnura Jivazada im vierten Kapitel zu konkurrierenden Narrativen über die Gründer der Republik unter die Lupe. Bereits nach der Unabhängigkeit forderten politische Parteien und Intellektuelle ein Denkmal für den „Retter von Baku“ (S. 144). Konkretisiert wurde die Idee für ein Denkmal letztlich vom türkischen Präsidenten Abdulla Gül, wobei der große Zuspruch auf das positive Bild der türkischen Soldaten im aserbaidschanischen kollektiven Gedächtnis zurückgehe. Daneben habe dieser Vorschlag Bedeutung als Projektionsfläche für außenpolitische Sicherheitsbedenken wie dem Wunsch einer Distanzierung von der russischen Vormachtstellung in Aserbaidschan gefunden.

Auch Monumente, die das „Opfer-Bewusstsein“ der aserbaidschanischen Nation ausdrücken, finden Berücksichtigung, darunter der Karabach-Konflikt, traumatische Erlebnisse im Ersten Weltkrieg oder der Stalinismus. Letzterer blieb im Wesentlichen auf die Erinnerung an die politische Führung und Intellektuelle beschränkt. Die Bedeutung der Erinnerung an und Auseinandersetzung mit Tätern und Opfern für die Gegenwart sei – wie Jivazada unter Bezug auf Reinhart Kosellecks „negatives Gedächtnis“ betont – von einzelnen Akteuren als Reaktion auf die Wiedereinführung sowjetischer Repression in der Justiz artikuliert worden. Dennoch blieb das Standbild für den Dichter Hüseyn Cavid bis in die 2010er-Jahre das einzige Denkmal im Bakuer Stadtraum, welches die Stalin-Ära thematisierte. Die öffentlich materialisierte Erinnerung an den Stalinismus in Aserbaidschan ist weiterhin kaum ausgeprägt. Die Überlagerung durch die Erlebnisse im Kriegsgeschehen in Karabach Anfang der 1990er-Jahre habe eine deutliche Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen einmal mehr verhindert.

Die Unabhängigkeit 1991 brachte auch eine Neubewertung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit sich, dessen Denkmälern das sechste Kapitel gewidmet ist. Während sich im Denkmal für den „populärsten Helden der Sowjetunion aus Aserbaidschan“ (S. 230) Mehdi Hüseynzade kontroverse historische Debatten um die Rolle der Wehrmachtslegionäre im Zweiten Weltkrieg kristallisiert haben, ließe sich das moderne Richard-Sorge-Denkmal als Abbild der Bakuer kosmopolitischen Vergangenheit verstehen, die von nationalistischen Kreisen als Fremdherrschaft wahrgenommen wurde.

Das letzte Kapitel gilt Vorbildern einer nationalen Identität, die Jivazada als Helden und Staatssymbolen einführt. Jivazada konzentriert sich hierbei vor allem auf neuere Denkmäler aus den 2010er-Jahren, die etwa eine Rückbesinnung auf ein Großaserbaidschan (Denkmal für Schah Ismail) intendieren oder die Absicht der amtierenden Regierung ausdrücken, die Nation in monumentalen Denkmälern festzuschreiben (Denkmal für das Epos „Dede Korkut“). Obgleich kein Denkmal im eigentlichen Sinne, widmet Jivazada dem Kult und der Verehrung der Nationalflagge ein ausführliches Unterkapitel, der sie eine herausragende identitätsstiftende Bedeutung beimisst.

Elnura Jivazada gelingt es, einen facettenreichen Einblick in die Bakuer Denkmallandschaft zu geben, der durch die verschiedenen Zäsuren – etwa den Karabach-Krieg als überlagerndes Ereignis – Rückschlüsse auf die Identität des jungen Staates bereithält. Prägnante historische Epochen werden auf einer Mikroebene anhand der Denkmäler nachgezeichnet und analysiert. Die oftmals diskursreiche Implementierungsgeschichte findet Einbettung in einem größeren historischen Kontext und zeigt situativ die relevanten politischen Fragestellungen auf. Die untersuchten Denkmäler können dabei als Spiegel verstanden werden, aus dem sich wandelnde und überlagernde Bedeutungszuschreibungen, insbesondere mit Blick auf das sich stetig ändernde Verhältnis zwischen Annäherung und Abgrenzung zu Russland, ablesen lassen. Fraglich bleibt jedoch, inwiefern die Denkmäler tatsächlich als Ergebnis eines Aushandlungsprozess verschiedener, auch zivilgesellschaftlicher Akteure verstanden werden können. So verdeutlicht Jivazadas gründliche Darstellung eher das Bild eines vom aserbaidschanischen Staat gestifteten Entwurfs nationaler Identität, wie es besonders das letzte siebte Kapitel zu Helden und Staatssymbolen zum Ausdruck bringt. Nur ein Denkmal – jenes für das Massaker in Chodschali, das sich im Februar 1992 ereignete – wurde dagegen von den Bürgern selbst finanziert, dieses Ereignis hatte sich besonders schmerzhaft ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Angemerkt sei zudem, dass die theoretischen Konzepte, die Jivazada in der Einleitung vorstellt, in den durchaus minutiösen empirischen Ausführungen kaum angewendet werden. Dennoch überzeugt das Einfangen verschiedener Stimmen im Denkmaldiskurs von der Intention zur Rezeption, was das Buch zu einer lohnenden Lektüre macht.

Anmerkungen:
1 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 1868, §.21.
2 David L. Hoffmann (Hrsg.), The Memory of the Second World War in Soviet and Post-Soviet Russia, London 2022; Ljiljana Radonić, Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid, Berlin 2021; Guido Hausmann / Iryna Sklokina (Hrsg.), The Political Cult of the Dead in Ukraine. Traditions and Dimensions from the First World War to Today, Göttingen 2021. Für Ende April ist ferner angekündigt: Franziska Davies / Katja Makhotina, Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs, Darmstadt 2022.
3 Miroslav Hroch, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005.
4 Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 98–130.

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