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Titel
Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich


Autor(en)
Gailus, Manfred
Erschienen
Freiburg 2021: Herder Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lucia Scherzberg, Institut für Katholische Theologie, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

Der Titel des Buches ist Programm: Manfred Gailus betrachtet die Zeit des Nationalsozialismus als Epoche einer massiven Wiederkehr des Religiösen und einer allgegenwärtigen „Gläubigkeit“. Glauben versteht er als „elementare Disposition[…] von Menschen gegenüber letzten Sinnfragen nach Leben und Tod“ (S. 8). Zum Gegenstand religiöser Verehrung könnten auch säkulare Größen wie „Volk“ werden. Angesichts einer Bevölkerung, die zu 95 % den beiden christlichen Großkirchen angehörte, sei es zu einer weitgehenden Verbindung christlicher Traditionen mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus gekommen. Beides erwies sich für eine große Anzahl von Menschen als kompatibel.

Das Buch ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste befasst sich mit der religiösen Erweckung von 1933 und der Rolle von Protestanten und Katholiken, das zweite mit neuen Glaubensbewegungen, das dritte mit Judentum, Antisemitismus und Pogromnacht, das vierte schließlich mit der Haltung der Glaubensrichtungen zu Krieg und Holocaust. Ein Ausblick auf das 20. Jahrhundert schließt den Band ab.

Im ersten Kapitel schildert Gailus das Jahr bzw. die politische Zäsur 1933 als vor allem protestantisches religiöses Erlebnis. Die innerprotestantischen kirchenpolitischen Kämpfe zwischen den Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche kennzeichnet er als selbstzerstörerisch. Die Deutschen Christen gelten ihm als besonders klare Ausprägung einer „Doppelgläubigkeit“, die Bekennende Kirche als innerkirchliche, biblizistische und kulturell konservative bis rückschrittliche Opposition, der es nicht um eine Zurückweisung des Nationalsozialismus ging. Für Katholiken war 1933 kein signifikantes religiöses Erlebnis, das „Hauptereignis“ vielmehr der Abschluss des Reichskonkordates. Der Kampf der Katholiken fand nicht in den eigenen Reihen statt, sondern richtete sich vor allem gegen Übergriffe des Staates. Auch wenn die katholische Kirche im Vergleich mit den protestantischen „eine bessere Figur“ mache, sei doch das Bemühen festzustellen, in der Bejahung des neuen Staates nicht hinter den Evangelischen zurückzubleiben. In rein katholischen Gebieten könne eine hohe Kompatibilität zwischen katholischem Alltagsleben und Nationalsozialismus beobachtet werden.

Völkisch-religiöse Gruppen, „Gottgläubige“ sowie ein „Parteiglaube“ repräsentieren die im zweiten Kapitel beschriebenen neuen Glaubensbewegungen. Alle schöpfen aus dem Bereich einer „vagierenden Religiosität“ (Thomas Nipperdey). Erstere blieben eine Episode, weil sie von der NSDAP selbst nach einer Phase der Duldung wegen ihres Spaltungspotenzials bekämpft wurden. Von den Großkirchen seien sie in übertriebener Weise als Gefahr für den Bestand des Christentums empfunden worden. Die „Gottgläubigkeit“ sei trotz großer Schnittmengen nicht identisch mit den Völkisch-Religiösen, sondern eine „kirchenfreie deutsche Religiosität“ (S. 65) vor allem von jüngeren Parteimitgliedern und Angehörigen des Öffentlichen Dienstes ohne eigene Organisation und religiöse Praxis. Der Glaube an Partei und „Führer“ dränge die traditionelle christliche Prägung in den Hintergrund. In einigen Städten erreichten die „Gottgläubigen“ beachtliche Anteile zwischen 5 und 16 % der Bevölkerung (S. 66). Als „Parteiglauben“ beschreibt Gailus die religiöse Überhöhung säkularer Größen wie Volk, Vaterland, „Rasse“ etc. mit dem Ziel, das Christentum fortschreitend zu verdrängen. Diese Strategie habe die NSDAP nie öffentlich propagiert, sondern über verschiedene Wege durchzusetzen versucht, zum Beispiel durch die Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens, die Schaffung neuer Riten für Lebensübergänge und die Veränderung des Festkalenders durch nationalsozialistische Feste und Gedenktage. Dieser „neue“ Glaube habe vor allem in der Parteiführung dominiert, während die mittleren und unteren Ebenen der Partei eher von der Kompatibilität von Nationalsozialismus und Christentum geprägt gewesen seien.

Zwischenbilanz: Aus dem konfessionellen Zweikampf der Großkirchen sei ein Dreikampf geworden, wobei hier zwischen Gottgläubigkeit und Parteiglaube nicht mehr differenziert wird. Trotz dieser Situation seien die christlichen Kirchen nicht zu einer Zusammenarbeit fähig gewesen.

Das dritte Kapitel thematisiert die Ausgrenzung des Judentums. Die völkisch-nationalistische Diskriminierung und Verfolgung kam gleichwohl nicht ohne eine religiöse Komponente aus und war begleitet von einem religiösen Antijudaismus. Die religiöse Erweckung war ein direkter Angriff auf das Judentum, der „neue“ NS-Glaube bediente sich eines Erlösungs-Antisemitismus (Saul Friedländer), der im Judentum die Verkörperung des Bösen sah. Die christlichen Kirchen leisteten mit Hilfe ihrer Kirchenbücher wesentliche Hilfsdienste für die Verfolgung; sie schwiegen zu Boykott, Diskriminierung und Verfolgung bis auf ganz wenige ihrer Mitglieder. Hier erwähnt Gailus unter anderem die Lehrerin Elisabeth Schmitz und ihre anonyme Denkschrift gegen die Judenverfolgung. Zur Pogromnacht 1938 äußerten sich auch Theologen zustimmend – „der neue völkische Gottglaube und der alte christliche Glaube der Kirchen, die als religiöse Akteure in einem rivalisierenden Dauerkonflikt standen, befanden sich im Moment der akuten ‚Kristallnacht‘-Ereignisse in einer befristeten, partiellen und zugleich prekären Übereinstimmung“ (S. 111).

Die Kriegsjahre führten, so das vierte Kapitel, auf protestantischer Seite zu einer Befriedung der inneren Auseinandersetzungen hin zu einer gemeinsamen Bejahung des Krieges in allen kirchenpolitischen Lagern – der Krieg im Westen galt als Revanche für Versailles, im Osten als Kampf gegen den „gottlosen“ Bolschewismus. Auch in der katholischen Kirche wurde die Legitimität des Krieges nicht in Frage gestellt. Die „Helden- und Opfererzählung“, die die Nachkriegssituation bestimmte, muss durch eine Geschichte der Billigung und Mitwirkung ersetzt werden. Gottgläubigkeit als Konfession befand sich spätestens seit 1942 im Rückgang und die neuen nationalsozialistischen rites de passage wurden umso weniger angenommen, je mehr die Zahl der Toten an der Front und im Luftkrieg stieg. Innerhalb der NSDAP gab es keinerlei Einigkeit hinsichtlich der „religiösen Frage“, deren Lösung auf die Zeit nach dem Sieg verschoben wurde.

Das Wissen um den Holocaust war in den Kirchen vorhanden und verbreitet, führte jedoch nicht zu öffentlichem Protest, sondern allenfalls zu einer Eingabenpolitik. Die Kirchen beteiligten sich an der Ausgrenzung ihrer Mitglieder jüdischer Herkunft. Die Vernichtung des Judentums, so Gailus, geschah aus einer christlichen Gesellschaft heraus, ihre Protagonisten und Hauptakteure waren jedoch Anhänger des „neuen“ NS-Glaubens, die allein fähig gewesen seien, darin etwas Gutes zu erblicken. Unter der Mehrheit der „christlichen Nationalsozialisten“ hätte dies keine Zustimmung gefunden. Der Protest gegen die Verfolgung der Juden kam nicht aus der christlichen Mehrheitsgesellschaft, sondern nur von Einzelnen.

Im Ausblick betont Gailus, dass der Holocaust „nur im Kontext eines radikalisierten religiösen Fanatismus zu verstehen“ sei (S. 166). Insofern sei „die Performance der allzu gläubigen Deutschen […] eine lehrreiche historische Lektion über die gefährlichen Ambivalenzen des Religiösen“ (S. 167).

Das Buch ist, wie beabsichtigt, eine gelungene Zusammenfassung der bisherigen Forschung des Autors, die viele wichtige Ergebnisse anführt, zum Beispiel das Phänomen der Doppelgläubigkeit, die Entmythisierung des Kirchenkampfes, die Charakterisierungen von Deutschen Christen und Bekennender Kirche sowie die Ergebnisse vielfältiger biographischer Forschungen, etwa zu Elisabeth Schmitz. Die Kombination von allgemeinen Ausführungen und illustrierenden Beispielen macht es gut lesbar und insbesondere für „Einsteiger:innen“ ins Thema sehr geeignet. Hervorzuheben ist, dass Gailus immer wieder Genderaspekte anführt, wie die männliche Dominanz unter den Deutschen Christen und die vorwiegend weibliche Basis der Bekennenden Kirche oder die mehrheitlich männlichen „Gottgläubigen“.

Die Kapitel(teile), die sich mit dem Katholizismus befassen, bedürften – etwa in einer Neuauflage – einiger Ergänzungen, zum Beispiel zur Rolle des politischen Katholizismus / der Zentrumspartei, die überhaupt nicht erwähnt werden. Auch meine eigenen Forschungen zu einer radikalisierten NS-Priestergruppe in Deutschland und Österreich und deren „ökumenischen Beziehungen“ mit Deutschen Christen und Völkisch-Religiösen, vor allem mit Ernst Graf zu Reventlow, wären inhaltlich zu rezipieren.1 Das Bild der „katholischen Performance“ würde dadurch differenzierter und manches mit Ergebnissen zu den protestantischen Kirchen vergleichbarer.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den theoretischen Rahmen der Ausführungen, der undeutlich bleibt. Erkennbar sind Elemente diverser Säkularisierungs- bzw. Resakralisierungstheorien, das Konzept des Erlösungs-Antisemitismus von Saul Friedländer oder die Debatte um den Nationalsozialismus als politische Religion. Gerade die Hauptthesen am Schluss des Buches, dass die Protagonisten des Holocaust Anhänger des „neuen“ Glaubens gewesen seien oder dass der Holocaust im Kontext eines radikalisierten religiösen Fanatismus gesehen werden muss, beruhen auf diesen Theorien. Hier wäre eine systematische Darlegung und Auseinandersetzung wünschenswert, sie würde die Diskussion über die Tragweite der Thesen erleichtern.

Anmerkung:
1 Lucia Scherzberg, Zwischen Partei und Kirche. Nationalsozialistische Priester in Österreich und Deutschland 1938–1944, Frankfurt am Main 2020; dies., Katholizismus und völkische Religion 1933–1945, in: Uwe Puschner / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 299–334, bes. S. 327–333.

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