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Titel
„Menschenökonomie“. Arbeitswissen und Arbeitspraktiken in Deutschland 1925–1945


Autor(en)
Becker, Frank
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Hachtmann, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Vorzustellen ist eine spannende Studie zum Themenspektrum „Menschenökonomie“. Bereits dieser titelgebende Begriff und mehr noch die im Untertitel avisierten 20 Jahre verweisen auf die Institution, die im Zentrum der Untersuchung steht: das 1925 gegründete „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung“ (DINTA), das sich nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten voller Enthusiasmus der Deutschen Arbeitsfront (DAF) anschloss und zum Kern des 1935 entstandenen DAF-Zentralamtes „Amt für Betriebsführung und Berufserziehung“ (AfBuB) wurde.

Der vom DINTA extensiv verwendete Begriff „Menschenökonomie“ verweist auf einen Primat der Ökonomie (über „die Arbeit“), den dieses „Institut“, das weniger eine Forschungseinrichtung als vielmehr eine Koordinationsinstanz über zahlreiche Lehrwerkstätten und Weiterbildungseinrichtungen sowie eine eng mit der „deutschen Rationalisierung“ verbundene, ideologiegetriebene Einrichtung war, zur Prämisse hatte. Becker zeigt ausführlich, dass das 1925 zunächst vor allem für die Eisen- und Stahlindustrie gegründete, von Albert Vögler (Vereinigten Stahlwerke) protegierte sowie von Carl Arnhold bis 1942 geführte DINTA/AfBuB bei seinen Initiativen zur kontinuierlichen Verbesserung der Ökonomisierung der Arbeit vor allem drei Prinzipien folgte: Erstens sollte „die Arbeitsenergie als Ressource nicht übernutzt“ werden. Damit wollte das DINTA das, „was gegen Ende des Ersten Weltkriegs eingetreten war: ein kollektives Ausbrennen der Menschen an der Front und in der Heimat“ (S. 9, S. 11), vermeiden. Der Erste Weltkrieg als Erfahrungshorizont für die Ausrichtung des DINTA war nicht abstrakt. Er hatte die maßgeblichen Akteure des „Instituts“ unmittelbar geprägt: Arnhold war Kriegsfreiwilliger an der Westfront, als Offizier einer Division „Leiter des „vaterländischen Unterrichts“ [gewesen]“, und profilierte sich während der Revolution 1918/19 als „Antibolschewist“. Seinen essenziellen Bellizismus konnte Arnhold niemals ablegen. Der weit über den üblichen Nationalismus hinausgehende Bellizismus, der im „idealisierten Bild des Weltkriegsoffiziers“ seinen zugespitzten Ausdruck fand, war auch dem DINTA eingeschrieben. Seiner Freikorpszeit und seinem anschließenden „völkischen“ Engagement verdankte Arnhold zudem viele Kontakte zu Spitzenpolitikern der NS-Bewegung, nicht zuletzt ab 1931/32 zu Hitler (S. 33 f., S. 304).

Zweitens fußt die Tätigkeit des in Düsseldorf ansässigen DINTA auf den Rationalisierungsbewegungen, die „in den 1920er-Jahren breitenwirksam“ zu werden begannen (S. 10). Das DINTA, das einer missionarischen Bewegung glich und sich bis 1933 in einer Kampfstellung gegenüber den Gewerkschaften wähnte, „predigte“ freilich einen eigenen Typus von „Rationalisierung“. Diese „Weltanschauung“ und die daraus resultierenden Aktivitäten markieren den dritten Strang, den Becker in das Zentrum seiner Arbeit gestellt hat.

Becker legt das Schwergewicht auf die vom DINTA entwickelten Konzepte zur „Arbeitsgestaltung“ sowie auf deren „kurz- wie mittelfristigen Wirkungen“ (S. 12). Präsentiert werden in seinem Buch zahlreiche bis dato unbekannte Fakten und Zusammenhänge. So streicht Becker die zentrale Rolle Oswald Spenglers heraus, der zum rechtskonservativen Stichwortgeber auch für die Ideologiebildung des DINTA wurde (S. 26 ff.). Ausführlich geht er auf die Gründe ein, warum das DINTA dem Sport in der – „betreuten“ – Freizeit wie im Betrieb einen sehr hohen Stellenwert beimaß. Der sportliche „Wettkampf simuliere die Drucksituation“, in der sich wie zwischen 1914 und 1918 an den militärischen Fronten „positive“ männlich-kriegerische, auch für den zivil-industriellen Alltag nützliche „Charaktereigenschaften offenbarten“. Der Sport sei „Erziehungsmittel“ für ein „Stahlbad der Jugend“, das „im Beruf und öffentlichen Leben Führer und Kämpfer“ forme. Zudem sollte leistungsorientierter Sport das einzelne Belegschaftsmitglied an die „Werks-“ bzw. – wie es ab 1934 offiziell hieß – „Betriebsgemeinschaften“ binden und „die Identifikation mit dem eigenen Unternehmen stärken“. Überdies „begleitete [er] das rassenhygienische Programm“ des NS-Regimes (S. 205, S. 228, S. 230). Kein Zufall ist – darauf geht Becker gleichfalls ausführlich und mit vielen neuen Informationen ein – , dass die reichsdeutsche Sportpsychologie und -physiologie eng mit den Arbeitswissenschaften kooperierte.

Ähnlich interessant wie Beckers Ausführungen zur „Versportung der Arbeit“ sind die zu „Arbeit und Geschlecht“. Für das DINTA stand „die Ehe gänzlich im Zeichen der Frage nach der Arbeitsfähigkeit des [männlichen] Beschäftigten“ (S. 269). Vor dem Hintergrund der hohen Scheidungsraten während der Weimarer Republik suchte die Einrichtung, unter dem Diktum „das Ausbrennen des Arbeiters“ und „Überanstrengungen zu vermeiden“, auch die Sexualität der Arbeitnehmer zu dosieren und so deren „Energiebilanz“ auszutarieren. (Mit welchem Erfolg, ist unklar.) Becker spricht in diesem Zusammenhang von „Versachlichung des weiblichen Liebesdienstes“. „Die Tätigkeit in der Familie [wurde] von einer Privatangelegenheit in eine (Arbeits-)Leistung verwandelt“, spätestens ab 1933 „für die Reproduktion der ‚Volksgemeinschaft’“. Bereits Ende der 1920er-Jahre „erlaubte“ das DINTA dem weiblichen Geschlecht immerhin die Ausübung solcher Berufe, die als „frauengemäß“ galten (Textil, Bekleidung); die schon früh aufgebauten „Hauswirtschaftsschulen wurden nach und nach in Lehrwerkstätten verwandelt“ (S. 270f.).

Konturenschärfer als die bisherige Forschung beschreibt Becker die institutionellen Hauptstränge des DINTA: dessen Lehrwerkstätten, Werkschulen und Einrichtungen zur beruflichen Weiterbildung, aus denen dann die von der DAF getragenen „Berufserziehungswerke“ wurden. Die Reichweite der Aktivitäten des DINTA war (so lässt sich resümieren) noch viel größer, als es die bisherige Forschung bisher festgestellt hat. Manches wird freilich nur angedeutet. Gern hätte man zum Beispiel mehr über die Essays Ernst Jüngers erfahren, dessen „Vision eines kriegerischen Arbeitsstaates“ Arnhold und sein DINTA offenbar zu verwirklichen trachteten (S. 312). Aufschlussreich ist auch das unter den Titel „Kommunikation und Veranschaulichung“ gestellte Kapitel zur Öffentlichkeitsarbeit und zur Vernetzung des DINTA. Becker geht dort nicht nur auf dessen breite Publikationstätigkeit ein, sondern ausführlich auch auf die vielfältigen Ausstellungsaktivitäten, namentlich auf die ab 1926 in Düsseldorf präsentierte Dauerausstellung „GESOLEI“, aus der zwei Jahre später das „Reichsmuseum für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde“ wurde (S. 94–106).

Der „‚ethnographischen’ Blick auf historische Formen des Arbeitens“, den Becker auf das DINTA wirft, eröffnet ihm in mancherlei Hinsicht neue Perspektiven, verstellt ihm mitunter aber auch die Sicht, etwa bei der Frage: Wie stark unterschied sich das DINTA ideologisch und politisch-praktisch von den Protagonisten des NS-Regimes? Becker markiert hier eine Differenz, die bei Lichte besehen keine ist: Beim DINTA habe es „keine Ansätze [...] einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik“ gegeben. Unter dem NS-„Führerstaat“ sei die private Wirtschaft dagegen „massiven Formen der staatlichen Regulierung ausgesetzt“ gewesen. Becker suggeriert damit, die angeblich „doppelte Gegnerschaft“ des Nationalsozialismus an der Macht zum „westlichen“ Kapitalismus und „Bolschewismus“ sei eine gravierende Differenz zum DINTA gewesen (S. 48). Tatsächlich war das von Arnhold in Abgrenzung insbesondere zu den USA vorgebrachte Diktum von der „deutschen Rationalisierung“ (S. 58) vor allem Rhetorik. Dass sich das NS-Regime, die DAF und auch das aus dem DINTA hervorgegangene AfBuB ab 1935/36 auf US-amerikanische betriebliche Produktionsregime (Fließfertigung) orientierten und Henry Ford nicht nur als Antisemit, sondern auch als technologischer und arbeitsorganisatorischer Pionier schon früh ein Heros Hitlers und seiner Bewegung war, bleibt bei Becker unberücksichtigt.1

Das NS-Wirtschaftssystem war kein „Dritter Weg“, sondern zwischen 1933 und 1939 eine „Kriegswirtschaft zu Friedenszeiten“. Aufrüstung und Kriegswirtschaft änderten nichts daran, dass Hitler bis 1945 ein enthusiastischer Anhänger des „liberalen Konkurrenzprinzips“ blieb. Henry Ashby Turner hat dies schon frühzeitig markiert.2 Die Reprivatisierung der 1931/32 verstaatlichten Großbanken und der Vereinigten Stahlwerke, die von Anbeginn praktizierten indirekten Anreizsysteme, die der Industrie die Aufrüstung „schmackhaft“ machen sollten, und die „wirtschaftliche Selbstverwaltung“ während des Krieges verweisen auf eine im Vergleich zu anderen Staaten sogar stärkere „Liberalität“ der deutschen Kriegswirtschaft. Ergo: Die Nähe des DINTA zum Nationalsozialismus war noch weit enger, als Becker dies ohnehin feststellt.

Das „Institut“ Carl Arnholds war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die NS-Arbeitsideologie so rasch scharfe Konturen gewinnen konnte. Ideologie und Praxis des DINTA wurden, so resümiert Becker, „praktisch unverändert in die Arbeitskultur des NS-Staates überführt“. Sie prägten Zielsetzungen und Praxis des NS-Regimes und hier besonders die der DAF. Wenig bekannt ist in diesem Zusammenhang, dass das DINTA bereits früh auch im Freizeit- und Kulturbereich aktiv wurde – und damit zentrale Elemente der später größten Suborganisation der DAF, der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, vorwegnahm. Ab 1933, so pointiert Becker, wurde das DINTA mit seiner „wahren Betriebssolidarität“ zu einem „bestens eingefügten Baustein des NS-Herrschaftsgefüges“ (S. 140, S. 306).

Manchmal allerdings basiert Becker seine Darstellung zu sehr auf den Selbststilisierungen des DINTA und ebenso des NS-Regimes. So behauptet er beispielsweise, dass die „völkische Vergemeinschaftung“ – vom DINTA bereits in den 1920er-Jahren gepredigt und vom NS-Regime ab 1933 dann massiv vorangetrieben – eine „Egalisierungstendenz“ verstärkt habe, die „mit der nationalen Idee schon seit ihren Ursprüngen einhergegangen“ sei. Dass von „Egalität“ nicht die Rede sein konnte, konstatiert Becker selbst wenige Zeilen später, wenn er feststellt, dass ab 1933 nicht mehr „das Herkommen“, sondern „persönlicher Einsatzwille und erbrachte Leistung“ für die soziale Einstufung und Einkommenshöhe zentral wurden (S. 14f.). Berücksichtigt man zudem, dass das NS-Regime die sozialen Hierarchien über ein sozialdarwinistisches Leistungsprinzip weiter aufsplitterte und eher Räume für Elitenbildungen unterschiedlichster Couleur schuf, drängt sich vielmehr folgender Eindruck auf: Das NS-Regime beseitigte die während der Weimarer Republik noch starken Reste ständischer Abschottung. Es begünstigte die weitgehende Durchsetzung einer „bürgerlichen Klassengesellschaft“, für die die Durchlöcherung sozialer (ständischer) Trennwände sowie die Belohnung „von persönlichem Einsatzwillen und erbrachter Leistung“ charakteristisch sind. „Egalität“ – auch auf rassistischer Grundlage – war jedenfalls von Hitler und seiner Entourage nicht angezielt. Frank Beckers Buch ist nicht zuletzt deshalb verdienstvoll, weil es den Blick auf die fatalen Folgen lenkt, die falsch verstandene Gemeinschaftsideale in Krisenzeiten haben können, nicht nur zwischen 1933 und 1945. Mit seiner (aller Kritik zum Trotz) ganz vorzüglichen Studie zum DINTA bahnt Becker künftigen Forschungen zur „Menschenökonomie“ und zu über Gemeinschafts-Termini ideologisierten „Arbeitspraktiken“ weit über die NS-Zeit hinaus den Weg.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu bereits Rüdiger Hachtmann, „Die Begründer der amerikanischen Technik sind fast lauter schwäbisch-allemannische Menschen“: Nazi-Deutschland, der Blick auf die USA und die „Amerikanisierung“ der industriellen Produktionsstrukturen im „Dritten Reich“, in: Alf Lüdtke / Inge Marßolek / Adelheid von Saldern (Hrsg.), Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 37–66.; Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, Stuttgart 1997, S. 87–103, S. 148–163.
2 Henry Ashby Turner, Hitlers Einstellung zu Wirtschaft und Gesellschaft vor 1933, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), S. 89–117, hier S. 95. Vgl. auch (resümierend mit Blick auf die vorgeblich besonders „antikapitalistische“ Führung der DAF): Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront, Göttingen 2007, S. 566–579.

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