Cover
Title
Biopolitics and Historic Justice. Coming to Terms with the Injuries of Normality


Author(s)
Braun, Kathrin
Extent
191 S.
Price
€ 39,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Ulrika Mientus, Philipps-Universität Marburg

„Maybe the times believed long overcome are not so overcome after all.“ (S. 12) Diese mal mehr, mal weniger explizit formulierte Warnung durchzieht wie ein roter Faden das Buch „Biopolitics and Historic Justice“ der Politikwissenschaftlerin Kathrin Braun. Darin geht sie dem Nexus von Biopolitik, Moderne und historischer Gerechtigkeit nach, um auf deren inhärente Logik der Abwertung bestimmter Leben und auf das daraus resultierende Unrecht aufmerksam zu machen. Das Buch besteht aus einer Sammlung von sechs Aufsätzen, die in 16 Jahren und fünf unterschiedlichen institutionellen Kontexten entstanden sind, worin zugleich eine Stärke und Schwäche des Werkes liegt. Wie Braun in ihrer den Aufsätzen vorangestellten Einleitung selbst aufzeigt, sind Wiederholungen und Redundanzen ebenso wie die Weiterentwicklung ihrer Gedanken zwischen den einzelnen Kapiteln vorprogrammiert (S. 25). Der Lektüre tut dies jedoch keinen Abbruch, gelingt es ihr doch, in der Einleitung ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse und die daraus erwachsenen konzeptionellen Grundlagen klar zu umreißen.

Im Kern geht es Braun demnach um die Offenlegung einer biopolitischen Rationalität, unter der sie Strategien und Mechanismen zur individuellen und kollektiven Optimierung versteht, die in foucaultscher Manier produktiver wie auch destruktiver Natur sein können (S. 18). Biopolitik begreift Braun als genuin modernes Projekt, insofern ihr eine spezifisch moderne Konzeption von Zeitlichkeit immanent ist, die sich als Zukunftsorientierung mit einem permanenten Streben nach Optimierung und Wachstum ausdrückt (S. 19f.). Hierin aber liege die Gefahr, aus der ihr Warnruf resultiert, denn in diesem niemals abgeschlossenen Streben wird definiert, unterschieden und abgegrenzt, was als erstrebenswert zählt – und damit auch, wessen Leben als nicht lebenswert gelten. Die notwendige Kehrseite der so beschriebenen Biopolitik reicht dann von der Abwertung, Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung dieser Leben (S. 20). Ausgeführt werden diese Annahmen in den letzten zwei Kapiteln des hier besprochenen Buches, in denen Braun zunächst Michel Foucault und Hannah Arendt zusammenführt, um das Verhältnis von Biopolitik und Moderne auszuloten (Kap. 6). Anschließend verbindet sie das foucaultsche Konzept der Biopolitik mit Marx‘ Kapitalismuskritik und zeigt auf, dass Biomacht und Kapital dasselbe Ziel verfolgen: die Nutzbarmachung des menschlichen Lebens (Kap. 7).

Dass diese überwunden werden muss, begründet Braun mit Verletzungen, die die Prozesse der Abwertung und Ausschließung hervorriefen und für die sie 2017 den Begriff „injuries of normality“ eingeführt hat.1 Mit ihm erfasst sie die Verletzung von Personen, die aufgrund der Normen der Normalität, Gesundheit, Fitness, Produktivität und Nützlichkeit als anormal, deviant, defizitär oder minderwertig wahrgenommen werden (S. 22, 87). Normalität entfaltet Braun dabei in dreifacher Hinsicht: Erstens fuße die Konstruktion der Anormalen auf der biopolitischen Rationalität, infolge derer bestimmte Leben als Gefahr für das Kollektiv betrachtet werden. Diese Prozesse der Markierung, Abwertung und Verletzung seien, zweitens, nicht auf bestimmte politische Situationen wie Diktaturen und Kriege beschränkt, sondern treten gerade auch in als normal rezipierten Kontexten wie demokratischen Gesellschaften auf. Drittens verweisen „injuries of normality“ darauf, dass die Normen der Normalität derart gesellschaftlich verankert, internalisiert und naturalisiert sind, dass selbst einschneidende physische Gewaltakte nicht als Unrecht wahrgenommen werden.

Diesen beachtenswerten Verletzungsbegriff wendet Braun in drei Aufsätzen zur bundesdeutschen NS-Entschädigungspolitik an. Hier zeichnet sie in je einem Kapitel die Argumente nach, aufgrund derer Zwangssterilisierte (Kap. 3), Homosexuelle (Kap. 4) und „Asoziale“ (Kap. 5) von der Anerkennung als NS-Verfolgte ausgeschlossen wurden. Dabei fragt sie unter Rückgriff auf einen performativen Entschuldigungsbegriff, inwiefern mit den jeweiligen politischen Stellungnahmen und Anerkennungsakten ein konsequenter Bruch mit der Vergangenheit vollzogen wurde, wobei sich dieser in einem never-again-Versprechen ausdrücke.

Während die Fallbeispiele eint, dass Verfolgung und Nicht-Anerkennung aus der biopolitischen Rationalität resultierten, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Unrechtsanerkennung und Entschuldigungsakte. So steht die Aufarbeitung der Zwangssterilisationen für eine unvollständige Entschuldigung, insofern die Kontinuitäten der Stigmatisierung nach 1945 ebenso ignoriert worden seien wie das never-again-Problem (S. 74–76). Dem gegenüber sei im Umgang mit der Verfolgung männlicher Homosexueller ein konsequenter Bruch mit der Vergangenheit erfolgt, bei dem nicht nur das Unrecht vor 1945, sondern auch die Kriminalisierung seither verurteilt wurde (S. 98). Das dritte Fallbeispiel repräsentiert zunächst das gänzliche Ausbleiben einer Entschuldigung aufgrund der kontinuierlichen Stigmatisierung von Personen, die als deviant wahrgenommen werden. Wie Braun in einem Nachtrag ergänzt, wurde ihre Analyse 2020 jedoch durch eine entsprechende Erklärung des Bundestags über die unrechtmäßige Verfolgung der „Kriminellen“ und „Asozialen“ eingeholt (S. 119).

Mit ihrem Entschuldigungs- und Verletzungskonzept kann Braun nachdrücklich auf das „Unrecht zweiter Ordnung“ (S. 75) aufmerksam machen, das durch die Nicht-Anerkennung der Zwangssterilisierten, Homosexuellen und „Asozialen“ nach 1945 erfolgte. Dabei weisen ihre Analysen jedoch zwei Schwächen auf. Zum einen greift sie auf die üblichen Quellen und Akteur:innen der Entschädigungsdebatten zurück und wiederholt daher Bekanntes über die Kontinuitäten der Abwertung und Ausgrenzung. Dies sticht insbesondere im Fall der Zwangssterilisationen ins Auge, denen ein Kapitel über die Eugenik als biopolitisches Musterprojekt vorangestellt ist (Kap. 2). Hier buchstabiert Braun erneut aus, dass eugenisches Denken über politische Systemgrenzen und Parteibücher hinweg verbreitet war. Spannend wäre an dieser Stelle indes gewesen, welche Rückschlüsse sie aus dem von ihr geleiteten Projekt eugenics and restorative justice (2008–2011) auf das Zusammenwirken von biopolitischer Rationalität und Unrechtsanerkennung zieht, wurde dort doch die Aufarbeitung der Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Tschechien und Norwegen untersucht.

Hieran knüpft auch die zweite Beobachtung an. Gerade dadurch, dass sich Braun mit der NS-Aufarbeitung befasst, schöpft sie die Chancen ihres neuen Verletzungsbegriffs nicht aus, mit dem sie Gewalt in den Blick nehmen wollte, die in einer von ihr als normal definierten Situation erfolgte. Offen bleibt so die Frage, wie Gesellschaften ohne einen Systembruch in die Lage versetzt werden, ihre „injuries of normality“ als solche wahrzunehmen. Die jüngsten medialen Debatten über #metoo oder den Missbrauch in der katholischen Kirche bieten hier einen guten Ansatzpunkt und werfen die Frage auf, was sich innerhalb der von Braun skizzierten Rationalität verschoben hat, um dieses Unrecht sagbar zu machen. Einen ersten Hinweis liefert hier das Kapitel über die Verfolgung und Anerkennung männlicher Homosexueller, denn Braun argumentiert, dass letztere nur möglich wurde, da sich innerhalb der biopolitischen Rationalität ein Wahrnehmungswandel vollzog, der die Rationalität selbst nicht ins Wanken brachte. Demnach habe der Wertewandel in den 1970er-Jahren dazu geführt, dass die sexuelle Selbstverwirklichung nicht länger als Gefahr, sondern produktiver Faktor rezipiert wurde, wodurch sich nun auch in der biopolitischen Logik die Leben Homosexueller ökonomisch verwerten ließen (S. 96).

Hieran gilt es künftig mit eigenständigen historischen Analysen anzuknüpfen, um zu prüfen, inwiefern sich die biopolitische Rationalität tatsächlich als ein von kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen ebenso wie unterschiedlichen Akteur:innen unverändertes modernes Projekt erweist. Dabei gilt es die Forschung zur Historisierung von Gewalt und Opferschaft zu berücksichtigen, die explizit danach fragt, wann und warum bestimmtes Unrecht sagbar wird.2 Zudem erscheint eine stärkere Einbindung von Subjekt- und Anerkennungstheorien gewinnbringend, um nicht nur Prozesse der Abwertung, sondern auch Handlungsmacht und Wandelbarkeit in den Blick nehmen zu können. Dies würde nicht zuletzt den prominent im Buchtitel platzierten Begriff der historischen Gerechtigkeit – der nach der Lektüre unerreichbare Utopie bleibt – ernst nehmen, unter dem Braun instruktive Denkanstöße sowie einen anregenden und weiter zu diskutierenden Verletzungsbegriff vorlegt.

Anmerkungen:
1 Katharina Braun, Transitional justice, political temporality and the injuries of normality, in: IPW Working Paper 1 (2017), URL: <https://politikwissenschaft.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_politikwissenschaft/IPW_Working_Papers/IPW-Working-Paper-01-2017-Braun.pdf> (07.01.2021).
2 Vgl. Svenja Goltermann, Gewaltwahrnehmung. Für eine andere Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert, in: Mittelweg 36 29,2 (2020), S. 23–46; dies., Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne, Frankfurt am Main 2017.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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