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Title
Im Olymp der Ökonomen. Zur öffentlichen Resonanz wirtschaftspolitischer Experten von 1965 bis 2015


Author(s)
Wehrheim, Lino
Series
Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert (7)
Published
Tübingen 2021: Mohr Siebeck
Extent
XVI, 404 S.
Price
€ 99,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena / Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI)

Ursprünglich im Geist der Technokratie in den 1960er-Jahren entstanden, zog der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit seinen „fünf Wirtschaftsweisen“ schon immer viel Aufmerksamkeit auf sich – auch dann, wenn gerade keine Personal- und Besetzungsquerelen Schlagzeilen machten. Die Ansprüche, die der Gesetzgeber an die Beratungseinrichtung stellte, sind nämlich doppelt paradox: Zum einen soll der Rat (vom Bundespräsidenten ernannt, finanziell gut ausgestattet und zudem mit umfassenden Anhörungsrechten ausgestattet) ausdrücklich politisch unabhängig sein und nach rein wissenschaftlichen Maßstäben agieren. In der Praxis hingegen war es schon immer so, dass Parteien, Gewerkschaften und Verbände „ihre“ Ratsmitglieder nominierten, und gar nicht so selten kam es darüber zum Streit. Zum anderen zielen die Gutachten des Rates nicht nur auf Regierung und Parlament, sondern sprechen die breite Öffentlichkeit an, während ihnen das Gesetz ausdrücklich verbietet, konkrete Empfehlungen auszusprechen, weil es sich dabei um letztlich politische Entscheidungen handele.

Welche öffentliche Resonanz die wirtschaftswissenschaftliche Expertise des Sachverständigenrates (SVR) tatsächlich hatte, war dabei bisher eine zwar wichtige, aber meist nur anekdotisch beantwortete Frage. Die Regensburger Dissertation von Lino Wehrheim adressiert sie jetzt für einen langen Zeitraum (1965 bis 2015), mit innovativen Methoden und auf einem breiten Quellenfundament. Sie räumt gleich mit einer ganzen Reihe von Mythen auf, die teils von den Akteuren selbst, teils aus der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Literatur stammen und die mitunter auch von der historischen Forschung ungeprüft übernommen wurden. Empirische Basis dafür ist ein Textkorpus gewaltigen Ausmaßes, das mit den Methoden der Digital History systematisch ausgewertet wurde: Es umfasst neben sämtlichen Jahresgutachten und Sondergutachten des SVR auch eine Auswahl von 12.000 Presseartikeln, die in „Frankfurter Allgemeine“, „Handelsblatt“, „Spiegel“, „Wirtschaftswoche“ und „Zeit“ erschienen. Zentrale Quelle für die politische Resonanz ist zudem das digital vorliegende Plenarprotokoll des Bundestages.

Einige Befunde: Quantitativ gesehen erreichte die mediale Resonanz des SVR schon am Ausgang der 1960er-Jahre einen Höhepunkt und stagnierte danach während der 1970er-Jahre zunächst auf hohem Niveau. Daran schloss sich ein relativer Bedeutungsverlust an, und erst in den späten 1990er-Jahren stieg die öffentliche Aufmerksamkeit für die Gutachten wieder. Auch im Parlament war der direkte Bezug auf die Expertise der Ökonomen in der Ära Kohl besonders rar, allerdings fiel der Rückgang dort nicht ganz so dramatisch aus. Wehrheim kann zeigen, dass die Intensität, in der die Inhalte der Ratsgutachten rezipiert wurden, im gesamten Untersuchungszeitraum zurückging. Wenig überraschend fiel das politisch-mediale Interesse an der Expertise in politischen Umbruchsituationen stärker aus. Durchaus überraschend ist aber, dass dies für den Umbruch von 1989/90 gerade nicht zu gelten scheint.

Standen am Ausgang der 1960er-Jahre die Inhalte der Gutachten und der eigentliche Beratungsprozess noch im Mittelpunkt des medialen Interesses, ging die steigende Resonanz an der Jahrtausendwende eher auf die Reformstau- und Agenda-Debatten zurück; hinzu kam jetzt auch eine verstärkte Personalisierung der Berichterstattung und die mediale Dauerpräsenz einzelner Ratsmitglieder wie Bert Rürup. Auffällig auch: Der SVR erarbeitete sich eine solche Reputation, dass Medien und Politik selbst dann auf ihn Bezug nahmen, wenn gerade kein neues Gutachten erschien; auch beschränkte sich die Rezeption nicht auf die jeweils aktuelle Konjunkturprognose. Zwar gab es Themenkonjunkturen, die sich an aktuellen Problemen orientierten (etwa: Geld- und Wechselkurspolitik in den frühen 1970er-Jahren), aber insgesamt blieb die Themengewichtung der Expertenvoten doch bemerkenswert stabil.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Methode nur diejenigen Presseartikel erfasst, die in digitaler Form vorliegen. Neu ist auch die Einsicht nicht, dass erst die vollständige Retrodigitalisierung einiger Leitmedien wie der „Frankfurter Allgemeinen“ oder des „Spiegel“ zu massiven Ungleichgewichten in der historiographischen Repräsentation führt. Wehrheim reflektiert das Problem eingehend, und aus der Wahl der Methode folgt zwingend ein Pragmatismus im Umgang mit dem Material – der für grundlegende Veränderungen von Medien und Öffentlichkeit im langen Untersuchungszeitraum aber ebenso zwingend unempfänglich bleiben muss. Das gilt für den medialen Strukturwandel fort von den Printmedien, aber auch für Differenzierungen innerhalb des Printsektors. Dem Textmining gar nicht erst zugänglich sind viele Blätter, die im politischen Bonn noch stark beachtet wurden: Die „Stuttgarter Nachrichten“, der „Bonner Generalanzeiger“ oder gar die WAZ-Zeitungen an Rhein und Ruhr mit ihren Millionenauflagen; auch was bald vom Markt verschwand, wie die Partei- und Konfessionspresse, bleibt notgedrungen außen vor – selbst dann, wenn es von intellektueller Strahlkraft war wie „Christ und Welt“.

Diese Leerstellen in Wehrheims Quellenkorpus verweisen auf ein grundlegendes Problem der heutigen zeithistorischen Forschung: Es sind privatwirtschaftliche Entscheidungen, auf deren Grundlage einige wenige Pressequellen heute sehr bequem zugänglich und durchsuchbar und in neueren Arbeiten entsprechend überrepräsentiert sind. Andere Medienprodukte geraten hingegen zunehmend aus dem Fokus der Forschung, weil sie nur mit einem sehr viel größeren Aufwand an Zeit und Geld zugänglich sind. Und wieder andere Quellen sind faktisch nicht zugänglich, wenn man etwa an die Archivpolitik der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten denkt. Eine Arbeit der Digital History macht diese Problemkonstellation zwar besonders deutlich sichtbar, verweist damit aber nur auf ein allgemeines Problem der Geschichtswissenschaft.

Zu den Vorzügen von „Der Olymp der Ökonomen“ gehört die methodologische Selbstreflexion: Wehrheim erliegt an keiner Stelle dem Sog, den die statistischen und grafischen Möglichkeiten der Corpus-Analyse mitunter entfalten mögen, sondern ist sich der seinem Ansatz inhärenten Grenzen stets bewusst. So gelingt es ihm, die Resonanz der ökonomischen Expertise präzise zu vermessen, deren Veränderungen zu rekonstruieren und diese überzeugend zu plausibilisieren – ohne dabei Resonanz mit Wirkung zu verwechseln. Beim überraschendsten Befund der Untersuchung, nämlich der auffällig geringen Resonanz des ökonomischen Expertenrates in der Ära Kohl, regt die Arbeit deshalb nachdrücklich zu weiteren Fragen an. Dass die Ökonomen des SVR zu dieser Zeit derart ins Hintertreffen gerieten, hat einerseits wohl mit einem verschärften Wettbewerb zu tun, wie Wehrheim zeigt, weil nun auch die Wirtschaftsforschungsinstitute in die Öffentlichkeit drängten. Auch weist er darauf hin, dass der SVR in zentralen Fragen seine Linie längst gefunden hatte – seine Hinweise zur Haushaltspolitik etwa oder zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hatten also bald keinen Neuigkeitswert mehr und damit nur noch geringen Nachrichtenwert. Aber so bleibt immer noch zu fragen, wie sich diese Befunde zu jener „Ökonomisierung“ der politisch-gesellschaftlichen Debatte verhalten, die mit dem Zeitraum der geringsten politisch-medialen Resonanz des SVR ja genau zusammenfiel. Wehrheims Studie liefert in diesem Sinne ein wichtiges empirisches Fundament, um über den genauen Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen Expertise der Ökonomen und der politisch-gesellschaftlichen Durchsetzung neoliberaler Ideen im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre noch einmal neu nachzudenken.

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