L. Achtelstetter: Prussian Conservatism

Cover
Titel
Prussian Conservatism 1815–1856. Ecclesiastical Origins and Political Strategies


Autor(en)
Achtelstetter, Laura Claudia
Erschienen
Cham 2021: Springer
Anzahl Seiten
XV, 270 S.
Preis
€ 96,29
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Amerigo Caruso, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Historisch und politisch ist Konservatismus ein Thema, das einerseits Schlagzeilen und Forschungstrends selten beherrscht, andererseits aber in wissenschaftlichen und publizistischen Diskussionen immer präsent ist und nicht als ganz „ausdiskutiert“ oder „auserforscht“ gilt. Die historische Forschung zum Konservatismus erlebte im Gegensatz etwa zur Arbeiter- und Bürgertumforschung der 1980er-Jahre oder zur Geschlechter- und Globalgeschichte Anfang des 21. Jahrhunderts nie eine richtige Hochkonjunktur. Dennoch zeigen Historikerinnen und Historiker immer wieder Interesse für die Geschichte des deutschen und insbesondere des preußischen Konservatismus. Während der deutsch-amerikanische Historiker Klaus Epstein bereits 1966 ein Standardwerk vorlegte, setzte sich in den letzten Jahren die Tendenz durch, Konservatismus-Geschichte immer stärker europäisch zu denken und die Bedeutung von Verflechtungen und transnationalen Aspekten hervorzuheben (ein globalgeschichtlicher turn steht hier noch bevor).1 Die meisten Studien gingen und gehen dabei ideen- und diskursgeschichtlich vor. Angekurbelt durch die alte und neue Relevanz der Sonderwegsdebatten zog und zieht der preußische Konservatismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert besondere Aufmerksamkeit auf sich.

Laura Claudia Achtelstetters Cambridger Dissertation reiht sich in diesen Forschungskontext ein: Sie untersucht Ideen und Netzwerke der preußischen Konservativen und thematisiert, wenngleich nur am Rande, auch transnational-gesamteuropäische Zusammenhänge. Im Gegensatz zu den meisten Studien über Konservative und politische Rechte im „langen“ 19. Jahrhundert, die der Epoche zwischen den Revolutionen von 1848/49 und dem Ersten Weltkrieg gewidmet sind, untersucht Achtelstetter die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ziel ist es, Kontinuität und Wandel konservativer Ideen im politischen sowie religiös-kirchlichen Bereich und ihre öffentliche Resonanz zu rekonstruieren. Die Monografie beschäftigt sich zwar primär mit konservativer Ideen- und Parteibildung, leistet aber darüber hinaus auch einen Beitrag zur Geschichte der Staatsbildung und vor allem zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Der Themenkomplex Politik-Religion-Kirche ist zentral: „This book illuminates the religious dimensions of early nineteenth-century Prussian conservative thought“ (S. 11). Dabei stützt sich die angestrebte „Mikroanalyse“ des konservativen Diskurses auf eine umfangreiche, wenngleich bereits mehrfach untersuchte Quellenbasis an Pamphleten, Aufrufen, Zeitungsartikeln und Abhandlungen der zentralen Figuren des frühen Konservatismus, etwa Friedrich Julius Stahl, die Gebrüder Gerlach und den Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung, Ernst Hengstenberg.

Nach der Einleitung folgen vier Hauptkapitel, die die Zeit zwischen den antinapoleonischen Kriegen und den frühen 1850er-Jahren behandeln. Zunächst unterstreicht Achtelstetter die zentrale Bedeutung der hoch emotionalisierten Erfahrung der antinapoleonischen Kriege und der damit verknüpften Meinungsmobilisierung für die Entstehung des konservativen Milieus in Preußen. Innerhalb dieser Gruppe der „romantischen“ Konservativen (meist jung, adelig bzw. nobilitiert, männlich) war eine Vielfalt an Themen vertreten, die von der Revolutionsgegnerschaft und der Begeisterung für die Koryphäe des frühen Konservativismus Edmund Burke bis hin zu Aufklärungsskepsis, Kritik der preußischen Reformen und neupietistischen Religiosität reichen. Bis Mitte der 1830er-Jahre handelt es sich um eine Gruppe auf der Suche nach einer politischen, aber vor allem nach einer religiösen und spirituellen (Neu)Orientierung. Achtelstetter beleuchtet die damals sehr intensiv geführten, wenngleich heute von Historikerinnen und Historikern oft übersehenen Debatten um die sogenannte „Preußische Union“ (der Zusammenschluss der evangelischen Kirchen in Preußen) und die preußische Kirchenverfassung. Die sich im Zusammenhang mit kirchenpolitischen Themen herauskristallisierenden Konflikte zwischen liberalen und konservativen Theologen bildeten, so Achtelstetters These, eine wesentliche Grundlage für die Entstehung des preußischen Konservatismus. Hier kann die Autorin zeigen, dass neben den bereits bekannten Kontexten der konservativen Meinungsmobilisierung, wie den antinapoleonischen Kriegen und den Revolutionen von 1848/49, die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der 1820er- und 1830er-Jahre eine kaum zu überschätzende Rolle spielten. Sie führten dazu, dass sich das konservative Milieu von einer losen pietistisch-romantischen Gruppierung in Richtung einer kirchen-politischen Partei entwickelte.

Die entscheidende Phase der Politisierung und Parteibildung begann dennoch in den 1840er-Jahren mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. und kulminierte dann nach der Märzrevolution in der Gründung des politischen Flaggschiffs des preußischen Konservatismus – der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung). Ernst Ludwig von Gerlach und Friedrich Julius Stahl avancierten zu politischen Schlüsselfiguren innerhalb der Partei. Achtelstetter hebt dabei insbesondere der politische Einfluss Stahls auf die preußische Politik um 1850 hervor. Die systematische Verknüpfung von kirchlich-religiöser und politischer Diskurs- und Akteursebene im konservativen Milieu bildet weiterhin einen roten Faden und wird auch am Beispiel der Ehereform in den frühen 1850er-Jahren umfassend thematisiert. Achtelstetter präsentiert die Debatten um die Reform als paradigmatisch für die engen Verflechtungen von religiösem und politischem Denken. Die Erkenntnis, dass Religion, Konfession und christliche Wertorientierungen eine zentrale Bedeutung im konservativen Diskurs hatten, ist sicherlich nicht neu.2 Achtelstetter kann dies jedoch nicht nur ideengeschichtlich belegen, sondern sie rekonstruiert genau Schwerpunkte, Akteure und Kanäle der „religiösen Politik“. Ihre These, dass die Ehereform den Höhepunkt des politischen Einflusses des (alt)konservativen Milieus darstellt, der seit Mitte der 1850er zugunsten von Nationalliberalen und konservativen Realpolitiker abnahm, scheint bisherige Erkenntnisse zu bestätigen.3

Achtelstetters Dissertation will die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und den Themenkomplex Religion-Kirchengeschichte wieder ins Zentrum der historiografischen Debatte zur preußischen Geschichte rücken. Sie zeigt detailliert, wie wichtig diese Aspekte zusammen mit der „Jugendbewegung“, die im Zusammenhang mit den antinapoleonischen Kriegen entstand, für die Formation des konservativen Milieus waren. Ob diese Befunde, wie von Achtelstetter angestrebt, zu einer Neubewertung der preußischen Geschichte im 19. und sogar im 20. Jahrhundert beitragen, ist zweifelhaft. Zumal die Autorin die Chance verpasst, ihre Arbeit im Kontext aktueller Forschungsschwerpunkte wie der Sicherheitsgeschichte Europas nach dem Wiener Kongress oder der deutschen Parlamentarismus- und Demokratiegeschichte zu profilieren. In diesem Sinne hätte das fünfseitige Schlusskapitel aufgebaut werden können. Hier wäre auch eine Einordnung der Befunde auf transnational-vergleichender Ebene wünschenswert gewesen: Welche Aspekte der „politischen Theologie“ bzw. „religiösen Politik“ sind als spezifisches Merkmal des konservativen Milieus in Preußen anzusehen, welche eher als konfessions-und landesübergreifende Phänomene?

Anmerkungen:
1 Klaus Epstein, The Genesis of German Conservatism. Princeton University Press, Princeton 1966. Für einen Überblick über die aktuellen Forschungsprojekte und -trends vgl. Matthijs Lok / Friedemann Pestel / Juliette Reboul (Hrsg.), Cosmopolitanism Conservatism. Countering Revolution in Transnational Networks, Ideas and Movements (c. 1700–1930), Leiden 2021.
2 Vgl. etwa Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971.
3 Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, Göttingen 1994.

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