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Titel
Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust


Autor(en)
Friedländer, Saul; Frei, Norbert; Steinbacher, Sybille; Diner, Dan; Habermas, Jürgen
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
90 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wildt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Fast scheint es, als hätten der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Erfahrung, dass ganz in der Nähe Kriegsverbrechen und Massengewalt verübt werden, in der deutschen Öffentlichkeit die Debatte um das Verhältnis von Holocaust und Kolonialgewalt an den Rand gedrängt. Doch wird diese Diskussion sicherlich wieder aufgenommen werden, dann nicht zuletzt beeinflusst von der „Zeitenwende“, die dieser Krieg ausgelöst hat. Die hitzige Kontroverse, die nach der Veröffentlichung des polemischen Beitrages „Der Katechismus der Deutschen“ von A. Dirk Moses, in den USA lehrender Genozidhistoriker, im Mai 2021 aufbrandete1, lässt erkennen, dass Moses eine oder mehrere Wunden im deutschen Umgang mit dem Holocaust berührt hat, die jetzt erneut aufbrachen und schmerzten. In der Vielzahl der Diskussionsbeiträge sticht der kleine, im Januar 2022 erschienene Band mit – größtenteils bereits publizierten – Texten von Jürgen Habermas, Saul Friedländer, Norbert Frei, Sybille Steinbacher und Dan Diner hervor, die sich sämtlich kritisch mit den Thesen von Dirk Moses auseinandersetzen.

Habermas sieht in der gegenwärtigen Debatte eine „Verschiebung der Gewichte“ (S. 9) und insistiert auf den grundlegenden Unterschied, dass der Holocaust sich in der „ausnahmslosen Auslöschung“ einer pseudowissenschaftlich aussortierten ‚Rasse‘ „gegen innere Feinde (Carl Schmitt)“, gegen „die eigenen Bürger“ (S. 11) gerichtet habe, die als Bedrohung für die ‚Rassereinheit‘ der deutschen Bevölkerung vernichtet wurden und nicht wie die „fremde, kolonial unterworfene Bevölkerung“ ausgebeutet werden sollte. Ein eigentümlich deutschzentriertes Argument, dem aus dem Blick gerät, dass die weitaus große Mehrheit der ermordeten Jüdinnen und Juden aus den besetzten Gebieten stammte.

Norbert Frei setzt sich in seinem gegenüber der Erstveröffentlichung erweitertem Beitrag vor allem mit der von Moses flapsig skizzierten Generationenfolge in der Erinnerung des NS-Regimes auseinander, insbesondere mit dessen Behauptung, dass in den 1980er-Jahren „viele linke und liberale Deutsche“ eingesehen hätten, „dass Deutschlands geopolitische Legitimität davon abhing, ob der neue, im Austausch mit amerikanischen, britischen und israelischen Eliten ausgehandelte Katechismus von ihnen akzeptiert wurde“.2 Frei schildert dagegen die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem Nationalsozialismus, vom „offensiven Vergessenwollen“ (S. 37) der (west-)deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der die Erinnerung an den NS in den 1950er-Jahren „eher ein Eliten- als ein Gesellschaftsprojekt“ (S. 40) war, über die Breite zivilgesellschaftlicher Initiativen, die regional und alltagsgeschichtlich orientiert, in den 1980er-Jahren das Gewaltgeschehen vor Ort recherchierten, bis hin zur staatlichen Förderung von Gedenkstätten, Denkmälern und Erinnerungsprojekten im vereinigten Deutschland.

In Erinnerung zu rufen, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stets konfliktreich war und nicht mit dem Puppets-on-a-String-Modell von Dirk Moses beschrieben werden kann, ist zweifellos richtig und angebracht. Irritierend bleibt, dass Frei die gegenwärtige Auseinandersetzung um den Holocaust nicht entsprechend seinem eigenen generationellen Entwicklungsnarrativ als neue Phase analysiert, sondern Kritik übt, als sei die Aufarbeitung erfolgreich abgeschlossen und nun bedroht. Die „überragende Aufmerksamkeit“, die der Judenmord in „Deutschland wie in der gesamten westlichen Welt“ – spielt die nicht-westliche Welt keine Rolle? – gefunden habe, solle nun „relativiert werden, um „Platz“ zu schaffen für historiographisch und politische bisher zu wenig beachtete Genozide“ (S. 46). Oder: „Der Holocaust soll in seinen „historischen Kontext“ gestellt, sprich: Er soll gegenüber anderen Genoziden relativiert werden.“ (S. 47) Wie soll ein historisches Geschehen analysiert werden, ließe sich demgegenüber fragen, wenn es nicht in seinen Kontext gestellt wird? Und ist das öffentliche Gedenken eine Art Lagerhaus, in dem nur begrenzt Platz zu Verfügung steht?

Saul Friedländer unterstreicht in seinem Artikel noch einmal, was ihm in Hinsicht auf den Holocaust als besonders und präzedenzlos erscheint: Es ging nicht um die Vernichtung von Juden als Einzelpersonen, sondern von ‚dem Juden‘ als „Prinzip des Bösen“ (S. 21). Der zwei Jahrtausende alte Hass gegen Juden im christlichen Kulturkreis habe, so Friedländer, den Boden für die Katastrophe im 20. Jahrhundert bereitet. Damit arbeitet er in der Tat heraus, dass Antisemitismus nicht in Rassismus aufgeht, sondern von einer längeren Geschichte bestimmt wird, die bis in die Gegenwart hineinreicht.

Diesen Aspekt spitzt Dan Diner in seinem Text mit einer ihm eigenen anthropologischen Argumentation weiter zu. Es müsse „zwischen Tod und Tod“ (S. 75) unterschieden werden. Anders als Massaker, ethnische Säuberungen oder durch Hunger verursachtes Massensterben sei der Holocaust „ein als absolut zu qualifizierender Genozid, bei dem, ganz jenseits von Konflikt und materiellem Begehren, gleichsam grundlos, eine verstreut lebende, durch Kennzeichnung sichtbar gemachte Bevölkerung in ihrer Gesamtheit und allerorts, mithin alle und überall, aufwendig und über lange Strecken in eigens hierfür vorgesehene Vernichtungsstätten gekarrt wird, um dort systematisch wie industriell ausgemerzt zu werden“ (S. 74f.).

Lassen wir einmal historische Einwände beiseite: Auch rassistisch definierte Roma und Sinti wurden ausnahmslos und überall verfolgt; auch psychisch kranke und behinderte Menschen wurden in eigens dafür vorgesehenen Vernichtungsstätten verschleppt, um dort schon 1940/41 systematisch mit Gas ermordet zu werden. Bemerkenswert erscheint mir, dass Diner wie in seinen frühen Schriften aus den 1980er-Jahren den Holocaust als „grundlos“ und „gegenrational“ charakterisiert und ihn damit unvergleichbar macht, quasi aus der Geschichte heraushebt.3 Dass die Deutschen die Juden töteten, obwohl sie ihre Arbeitskraft für die Kriegswirtschaft benötigten, bedeute, so Diner, ein „fundamentales Dementi sonsthin gültiger anthropologischer Gewissheiten über menschliches Handeln“ (S. 79).

Mit Saul Friedländer würde man widersprechen: Die Täter besaßen in ihrer rassistischen und antisemitischen Perspektive durchaus rational verstandene Begründungen, Juden als Feinde, als „Gegenrasse“ zu vernichten. Über Raub und Zwangsarbeit hinaus stellten Juden in den Augen der Nationalsozialisten eine immense Gefahr dar, die unbedingt beseitigt werden musste, um den Krieg gewinnen zu können. Auf seinem Besprechungszettel über die Unterredung mit Hitler am 18. Dezember 1941 notierte Heinrich Himmler als Ergebnis neben dem Stichwort „Judenfrage“: „als Partisanen auszurotten“.4

Im Ensemble des Bandes ist Sybille Steinbachers Originalbeitrag, bei aller Polemik gegen Moses‘ Wortwahl, der aufgeschlossenste gegenüber der aktuellen Debatte um Holocaust und Kolonialgewalt. Jenseits von anthropologischen Verabsolutierungen befürwortet sie ausdrücklich die wissenschaftliche Methode des Vergleichs: „Ein Vergleich relativiert und verharmlost nicht, sondern macht Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar, sorgt also für Klärung und Erkenntnis, nicht für Gleichsetzung.“ (S. 58) Steinbacher, die in Wien einen Lehrstuhl für vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozidforschung inne hatte und nun in Frankfurt Professorin für Geschichte und Wirkung des Holocaust ist (die einzige Holocaust-Professur in Deutschland), plädiert, anders als Frei, für die Einordnung des nationalsozialistischen Judenmords in die globale Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, ohne damit dem Holocaust „seine strukturellen, wenn man so will, einzigartigen, besser: präzedenzlosen Besonderheiten“ (S. 61) nehmen zu wollen.

Die Positionen in dem kleinen Band sind bei genauem Hinsehen unterschiedlicher, zum Teil widersprüchlicher, als man erwarten könnte. Alle eint die Kritik an Dirk Moses, aber die Bewertungen und Konsequenzen aus der Debatte um Kolonialismus und Holocaust sind durchaus verschieden akzentuiert. Zwar überwiegt das Festhalten an alten Gewissheiten, aber Steinbachers entschiedenes Plädoyer für vergleichende Forschung öffnet das Feld. In einem Deutschland der „Zeitenwende“, das in einer globalisierten Welt Verantwortung trägt, mit einer mittlerweile migrantisch geprägten deutschen Gesellschaft, in der eine Vielzahl von Erinnerungsnarrativen existiert, ist eine offene und selbstreflexive Debatte um erneuerte historische Vergewisserung auch dringend nötig.

Anmerkungen:
1 A. Dirk Moses, Der Katechismus der Deutschen, in: Geschichte der Gegenwart, 23.05.2021, https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ (10.04.2022).
2 Ebd., S. 3.
3 Vgl. zum Beispiel Dan Diner, Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 62–73.
4 Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42. Im Auftrag der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg bearbeitet, kommentiert und eingeleitet von Peter Witte u.a., Hamburg 1999, S. 293.

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