Cover
Titel
Playing the Market. Retail Investment and Speculation in Twentieth-Century Britain


Autor(en)
Heinemann, Kieran
Erschienen
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Eisenberg, Großbritannien-Zentrum, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit dem Begriff retail investment im Titel des Buches ist das Finanzmarktengagement von individuellen – im Unterschied zu institutionellen – Anlegerinnen und Anlegern gemeint. Kieran Heinemann, dessen Studie auf einer 2017 in Cambridge eingereichten Dissertation basiert, interessiert sich für diese Privatanleger aus zwei Gründen. Zum einen werden ihre Aktivitäten in der britischen Politik und Publizistik als Maß für die Demokratisierung des Kapitalismus betrachtet; zum anderen betrachten viele ihre Marktaktivitäten nicht nur als Einkommensquelle, sondern auch als ein unterhaltsames Spiel. Der Autor fokussiert insbesondere auf die sogenannten Kleinanleger, die sich Zugang zum Markt nicht über ihren Bankberater, sondern über außerhalb der Börse tätige outside brokers und sogenannte bucket shops verschafften. Bei Letzteren handelte es sich um Agenturen in größeren Städten, die auch Sportwetten und andere spekulative Geschäfte vermittelten und mitunter einen zweifelhaften Ruf hatten.

Mit dem ersten Boom dieser bucket shops in den 1920er-Jahren beginnt der Untersuchungszeitraum der Studie, und mit dem Boom des Handelsplatzes im Homeoffice während der Covid-Pandemie 2020–22 endet er. In dem dazwischen liegenden Jahrhundert bildete die Spezies der Privat- bzw. Kleinanleger eine Kerngruppe der Akteure auf dem – zeitweise auch regional ausdifferenzierten – Aktienmarkt des Vereinigten Königreiches, und noch heute entfallen auf sie an der London Stock Exchange (LSE) 19 Prozent der Aktien britischer Unternehmen – gegenüber 8 Prozent der jeweiligen „domestic shares“ in Kontinentaleuropa (S. 1). Dazu hätte man gern Genaueres erfahren, zumal sich die britisch-europäische Diskrepanz auch aus der besonderen Schwerpunktsetzung der LSE auf den Optionshandel erklärt. Doch Heinemann betrachtet die Situation aus der entgegengesetzten Blickrichtung, trete in eben diesem Spezifikum doch die Vorliebe britischer Anleger für das risikoreiche Format des spread betting zutage, welches ihnen ermöglichte, Wetten auf die Kursentwicklung von Aktien, Währungen oder Rohstoffen zu platzieren, ohne die jeweiligen Finanztitel erwerben zu müssen.

Die Welt der Kleinanleger präsentiert sich als schwer zu durchdringende Grauzone zwischen Finanzspekulation und Glücksspiel, Profit und Entertainment, und bereits die naheliegende Frage nach der Sozialstruktur seiner Protagonisten konfrontiert den Autor mit den Grenzen der historischen Erforschbarkeit seines Themas. Denn für den Untersuchungszeitraum existieren nur wenige Erhebungen und Befragungen, die einigermaßen verlässliche Daten liefern. Diese verweisen auf zwei Gruppen von Kleinanlegern.

Eine erste Gruppe bildeten solche vom Typus Spekulant. Nach einer Erhebung von Sozialwissenschaftlern Ende der 1950er-Jahre waren sie in der „lower middle“ und „upper working class“ zu verorten, investierten maximal £ 1.000 und tauschten sich mit Kollegen und in der Familie über günstige Gelegenheiten aus. Als Informationsbasis diente ihnen zumeist die Finanzpresse; einen Broker nahmen nur die „higher occupational grades“ in Anspruch. Einige investierten in Aktien des eigenen Arbeitgebers, doch lagen die Motive weniger – jedenfalls nicht primär – in der Erwartung eines Zusatzeinkommens in Form einer Dividende. Ein mindestens ebenso wichtiges Motiv war der gewisse Thrill, der von der Ungewissheit des Kursverlaufs und dem Näherrücken des Fälligkeitstags von Optionsgeschäften in ähnlicher Weise erzeugt wurde wie von Pferdewetten oder der Beteiligung an Football Pools. Diese Sicht des „stock market as merely another betting format” war, wie Heinemann betont, mitunter auch bei „middle class investors” zu finden (S. 71–74, Zitat S. 73). Sie erklärt, warum manche Befragten mitteilten, dass sie auf ein weitergehendes Engagement am Finanzmarkt weniger aufgrund von Kapitalmangel als wegen attraktiver anderer Spekulationsgelegenheiten verzichteten. Auch die soziale Barriere der Börse als Institution und die professionelle Arroganz ihrer Mitglieder gegen das angeblich amateurhafte Marktverhalten der Kleinanleger, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts nachließ, hätten sich immer wieder als Faktoren erwiesen, die einen Weggang vom Finanzmarkt veranlassten (S. 74).

Eine etwas anders strukturierte zweite Gruppe bildeten die Investoren unter den Kleinanlegern, die Mitte der 1960er-Jahre auch 800.000 Inhaber britischer Staatsanleihen umfasste. Sie waren besser ausgebildet und tendenziell älter als die Spekulanten, übten Tätigkeiten als Manager und Führungskräfte, auch in der Verwaltung, aus und lebten überwiegend im wohlhabenden Süden Englands, wo sie auch in kreditfinanziertes Hauseigentum investiert hatten (S. 75). Auch Frauen waren stark vertreten. Wie stark, bleibt unklar; doch entfiel auf sie selbst unter den shareholders von Industrieaktien ein Anteil von 43 Prozent. Eine Erhebung der LSE aus dem Jahr 1966, auf die dieser Befund zurückgeht, zeigt darüber hinaus, dass weibliche Anleger sich im Allgemeinen risikoaverser als männliche verhielten und damit im Durchschnitt auch erfolgreicher als diese waren – ein Umstand, der sich möglicherweise daraus erklärt, dass sie sich in sogenannten „investment clubs“ austauschten und ihr Geld in „investment pools“ bündelten (S. 75–77).

Die Spärlichkeit vergleichbarer Daten für andere Perioden des 20. Jahrhunderts hat Heinemann veranlasst, den Großteil seines Buches auf die Analyse des gesellschafts- und finanzpolitischen Diskurses über die Möglichkeiten, Grenzen und die Wünschbarkeit einer Förderung und Unterstützung des populären Engagements am Finanzmarkt zu verwenden. Auf diese Weise versucht Heinemann, den kulturellen Habitus, den Niedergang religiöser Überzeugungen und die Tendenz zur Individualisierung zu erfassen – eine Vorgehensweise, die ihm zugleich ermöglicht, die darstellungstechnisch schwierige Situationsbezogenheit marktrelevanter Entscheidungen zu umgehen und auf der Zeitschiene voranzukommen. Für die 1920er-Jahre legt er den Schwerpunkt auf die erwähnten outside brokers und bucket shops, um die randständige Spekulation auf Finanztitel genauer zu analysieren. Die Leserin erfährt hier, dass die Risikostruktur dieser Geschäfte angeblich identisch mit denen von Pferdewetten war. Diese Aussage erscheint gerade im Rahmen einer sozial- und kulturgeschichtlich angelegten Untersuchung sehr ‚technisch‘ – eine Differenzierung hätte hier weitere Erkenntnismöglichkeiten geschaffen.1 In weiteren Kapiteln untersucht Heinemann unter anderem die Finanzpresse und die seit den 1930er-Jahren entstehende Ratgeberliteratur von Finanzexperten; ferner das Anlageverhalten der Church of England, die den „Cult of Equity“ in den 1950er-Jahren aktiv mitgestaltete und moralisch legitimierte; und schließlich die sowohl unterschiedlichen als auch wechselnden Meinungen von Repräsentanten der Labour und der Conservative Party. Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Amtszeit von Margaret Thatcher (1979–1990), teils weil in den 1980er-Jahren eine Privatisierung von Staatsunternehmen wie British Telecom und British Gas sowie die Umwandlung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit in Aktiengesellschaften erfolgten, sodass sich eine Vielzahl neuer Investitions- und Spekulationsmöglichkeiten eröffnete, teils weil sich die Premierministerin aufgrund ihrer Herkunft aus einer methodistischen Kleinhändlerfamilie persönlich eher der protestantischen Arbeitsethik als dem ‚arbeitslosen Einkommen‘ verbunden fühlte. Dass die Kleinanleger, mit deren Geldern Frau Thatcher die Staatsfinanzen sanieren wollte, ihrerseits eher den kurzfristigen Gewinn anstrebten, hatten sie und ihre Berater nicht erwartet, wie Heinemann nachweist.

Alle diese Kontextanalysen sind aus den Quellen erarbeitet. Sie folgen außerdem in Kenntnis des säkularen Trends des populären Finanzkapitalismus, der sich unterschiedlich darstellt, je nachdem ob man Köpfe oder Geld zählt: Während die Personenzahl der Kleinanleger Heinemann zufolge längerfristig zunahm, war der Anteil am Aktienbesitz, den sie repräsentierte, rückläufig. Allein zwischen 1963 bis 1997 sank dieser Anteil von 54 auf 16,5 Prozent (S. 68) – eine Folge insbesondere der Entstehung von Pensionsfonds und der Konzentration von Kapital in der Versicherungsbranche. Die Vermutung, dass die Spekulationsfreude der Kleinanleger davon beeinträchtigt wurde, wäre nach Heinemann allerdings verfehlt. Indem er in das Schlusskapitel eine konzise Beschreibung des populären Anlageverhaltens unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie einflechtet, unterstreicht er vielmehr als Ergebnis seiner Studie, dass im britischen Finanzkapitalismus „(t)he affinity between speculation and gambling“ als eine „elementary driving force“ zu betrachten sei (S. 229).

Die sich aufdrängende Frage, ob denn die „affinity between speculation and gambling“ beim Personal der Trading Rooms von Investmentbanken und anderen institutionellen Anlegern, die mit beträchtlich größeren Summen hantieren als die Kleinanleger, ähnlich ausgeprägt war (und ist), weil ja auch viele dieser Profis als Briten sozialisiert waren, spart Heinemann leider aus – was völlig legitim ist; niemand kann alles zugleich erforschen. Die immer wieder bemühte Analogie von Pferde- und Finanzwetten wird so jedoch letztlich nur durch das Buchcover illustriert. Ebenso bleiben die Bezugnahmen auf Football Pools und Kasinospiele metaphorisch. Das ist deshalb schade, weil die gegenwartsbezogene Finanzsoziologie, deren bevorzugte Methode die teilnehmende Beobachtung der Sozialbeziehungen in solchen mit Computerbildschirmen tapezierten Trading Rooms ist, die von Sport- und anderen Männerphantasien geprägten Spielweisen der Profi-Spekulanten seit Längerem als Thema entdeckt hat.2 Damit die sozialhistorisch informierte Finanzgeschichte hier Anschluss findet, wäre zu wünschen, dass künftige Forscher und Forscherinnen, deren Interesse an der Finanzmarktthematik Kieran Heinemann mit dieser außerordentlich verdienstvollen Pionierstudie hoffentlich wecken wird, an dieser Stelle weiterarbeiten.

Anmerkungen:
1 Auch wenn in beiden Fällen ein Verlust des Einsatzes drohte, handelte es sich doch um unterschiedliche Spiele. Bei Pferderennen kehren die punters mit jeder neuen Wette an die Ausgangssituation zurück, sodass sie Regelmäßigkeiten beobachten und Erfahrungswissen akkumulieren können. Am Finanzmarkt greift jede einzelne Wette demgegenüber in einen kontinuierlichen Prozess ein, der sich obendrein aufgrund von Skaleneffekten mitunter erratisch verhält. Hinter die so erzeugten Veränderungen können die punters nicht zurück. Die Gewinnchancen (odds) sind daher schwer zu berechnen und Prognosen über den weiteren Verlauf des Prozesses nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Ob sich die wettfreudigen Kleinanleger dieses Unterschieds von Pferde- und Finanzwetten bewusst waren, ist eine offene Frage, die nur empirisch zu beantworten ist.
2 Vgl. stellvertretend die Beiträge in Part II des Oxford Handbook of the Sociology of Finance, hrsg. Karin Knorr-Cetina / Alex Preda, Oxford 2012.

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