Seit den 1890er-Jahren etablierten amerikanische Boulevardzeitungen zahlreiche Ratgeberkolumnen, welche die Sichtbarmachung persönlicher Krisen gegenüber massenmedial vernetzten Leser:innen bezweckten. Damit transformierten sie nicht nur die amerikanische Medienlandschaft und deren Anzeigenmarkt, sondern auch die demokratische Partizipationsmöglichkeit der Leser:innen. Ihnen boten die thematisch vielseitigen Ratgeberkolumnen ein neues, interaktives Kommunikationsforum, über welches sie am öffentlichen Diskurs teilnehmen konnten.
Die Medien- und Geschlechterhistorikerin Julia Golia untersucht in ihrem Buch, wann, wie und warum Leser:innen amerikanischer Boulevardzeitungen anfangs des 20. Jahrhunderts damit begannen, sich mit ihren persönlichen Problemen an Ratgeberkolumnen zu wenden, um in der massenmedialen Öffentlichkeit Antworten auf ihre intimen Fragen zu erhalten. Im Unterschied zu früheren historischen Untersuchungen zu Ratgeberkolumnen, welche sich häufig auf Inhaltsanalysen beschränkten, setzt sich die Autorin das ambitionierte Ziel, eine Kulturgeschichte der amerikanischen Ratgeberkolumnen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben (S. 7). Dafür fokussiert Golia auf intersektionale Kontexte von Kolumnist:innen und nimmt aus einer geschlechter-, postkolonial- und migrationshistorischen Perspektive im Besonderen die bisher marginalisierte schwarze, weibliche Ratgeberkolumnistin in den Blick.
Golias Untersuchung basiert auf der Auswertung von 32 Boulevardzeitungen aus den Jahren 1895 bis 1940, die in unterschiedlich großen amerikanischen Städten situiert waren. Der Untersuchungszeitraum von 45 Jahren ermöglicht ihr neben stilistischen und inhaltlichen Veränderungen von Ratgeberkolumnen auch die Entwicklung von Frauen-Rubriken zu verfolgen. Dabei geht es Golia vor allem darum, den Beziehungswandel zwischen Leser:innen, Ratgeberkolumnist:innen und Zeitungsredaktionen als „a new kind of public forum to critique“ (S. 5) aufzuzeigen, in welchem sich ein ambivalentes Ringen mit der propagierten Vorstellung der „amerikanischen Frau“ in der „amerikanischen Kultur“ in unterschiedlichen Bevölkerungsschichten widerspiegelt.
Nach einem historischen Überblick zur Entwicklung der Ratgeberzeitungskolumne (Kapitel 1) folgen vier Kapitel, die thematisch auf die Leser:innen von Ratgeberkolumnen (Kapitel 2), auf die Ratgeberkolumnistin als Ikone und Journalistin (Kapitel 3), auf die schwarze, feministische Ratgeberkolumne (Kapitel 4) und auf das emotionale Erlebnispotential einer virtuellen Ratgebergemeinschaft fokussieren. Ein Fazit mit einem Ausblick auf die Entwicklung der Ratgeberkolumne nach 1945 schließt die Untersuchung ab (Kapitel 5).
Mit der Kommerzialisierung der amerikanischen Zeitungslandschaft um 1900 und dem damit einhergehenden expandierenden Werbeanzeigenmarkt entdeckten die Redaktionen und Marketingfirmen die weiblichen Leser:innen als Konsument:innen von kommerziellen Produkten. Bis 1925 expandierten parallel zu den auf ihre Kund:innen ausgerichteten Frauen-Rubriken auch die Ratgeberkolumnen in Boulevardzeitungen. Die Leser:innen schätzten an den Ratgeberkolumnen nicht nur die Partizipationsmöglichkeit, sondern auch die Interaktivität in einer virtuellen Kolumnengemeinschaft von scheinbar Gleichgesinnten. Denn das Paradoxe an den Frauen-Rubriken und den Ratgeberkolumnen war, dass sie zwar ein vermeintlich kollektives Ideal der „amerikanischen Frau“ entwarfen, jedoch mehrheitlich von weißen, mittelständischen Journalist:innen, Redakteur:innen, Werbemacher:innen und Verleger:innen geschrieben, finanziert, gedruckt und vertrieben wurden, die eine rassistische Segregation der amerikanische Gesellschaft propagierten. Weiße Ratgeberkolumnist:innen wie Elizabeth Gilmer alias Dorothy Dix, Marie Manning alias Beatrice Fairfax und Annie Leslie alias Nancy Brown vertraten eine „rassen“-, klassen- und geschlechterstereotype Vorstellung von einer weißen Leserin aus der Mittelschicht. Themen wie Rassismus, Armut, Klassenkampf und Sexismus vermieden sie und Leser:innenbriefe von schwarzen Amerikaner:innen wurden kaum gedruckt. Die Leser:innenschaft in den amerikanischen Städten war jedoch vielschichtig und umfasste neben armen amerikanischen Bevölkerungsschichten und Migrant:innen eine steigende Anzahl an readers of color, insbesondere weibliche, schwarze Amerikaner:innen. Der Widerspruch, welcher in Newspaper Confessions aufgedeckt wird, liegt dem kommerziell vermarkteten, rassifizierten Konstrukt einer „amerikanischen Kultur“ zugrunde, das sich einerseits in den Werbeanzeigen der Frauen-Rubriken von Boulevardzeitungen manifestierte, andererseits in den Ratgeberkolumnen von den Leser:innen selbst als Krise der „amerikanischen Kultur“ entlarvt und in den Leser:innenbriefen mehr oder weniger explizit debattiert wurde.
Newspaper Confessions ist eine sorgfältig recherchierte, detailreiche und quellenbasiert argumentierende Studie über die amerikanische Ratgeberkolumnenkultur vor dem Hintergrund tiefgreifender Transformationsprozesse wie der Industrialisierung, Modernisierung und Kommerzialisierung der amerikanischen Migrationsgesellschaft. Golia legt in ihrer Untersuchung überzeugend dar, welchen Einfluss und Wandel das Aufkommen von Ratgeberkolumnen auf die Form und das Geschäftsmodell der amerikanischen Medienlandschaft hatte und wie sie das Verständnis und den Gebrauch von Boulevardzeitungen für die Leser:innen veränderten (Kapitel 1). Mit ihrem Fokus auf die zentrale Bedeutung von gender, class und race kann sie in Kapitel 2 darlegen, wie die von ihr untersuchten weißen Ratgeberkolumnist:innen (insbesondere Gilmer, Manning und Leslie) in ihren Kolumnen eine rassifizierte Moralvorstellung vom Handeln einer weißen, amerikanischen Mittelklasseamerikanerin entwarfen und so dazu beitrugen, diese Vorbildfunktion bei ihren Leser:innen zu verbreiten. Stark ist zudem die intersektionale Darstellung der biografischen und beruflichen Widersprüchlichkeit der feministischen Errungenschaften der weißen Kolumnist:innen und Celebrities Gilmer, Manning und Leslie in Kapitel 3. Die Journalist:innen konnten sich einerseits als „Self-Made-Women“ in einer Nische des sogenannten soft journalism jahrzehntelang gegenüber ihren männlichen Kollegen behaupten, andererseits war ihren Ratschlägen das Verständnis einer konservativ-patriarchalen, christlich geprägten und heteronormativen Geschlechterordnung inhärent, die eine rassistische Segregation der amerikanischen Gesellschaft befürwortete. Ein quellenbasierter Glücksfall ist die in Kapitel 4 erforschte feministische Ratgeberkolumne von Princess Mysteria, mit welcher Golia akribisch die biografische und berufliche Ambivalenz der schwarzen, feministischen Kolumnistin und Vaudeville-Mentalistin im Vergleich zu den weißen Kolumnist:innen herausarbeitet. Princess Mysterias Ratschläge widerspiegeln, laut Golia, eine progressiv feministische Haltung, die einerseits an die afroamerikanischen Freiheits- und feministischen Autonomiediskurse des 19. Jahrhunderts erinnert, andererseits im zeitgenössischen Kontext des Black Nationalist Movements der 1910er- und 1920er-Jahre als ein modernes, schwarzes, weibliches Bewusstsein für Selbstwert und Selbstverantwortung gedeutet wird. Zudem legt die Autorin einen Konflikt der Kolumnistin dar: Im Unterschied zu ihren weißen Kolleg:innen begeht Princess Mysteria zwar einen Tabubruch mit Themen wie Abtreibung und queerer Liebe, in ihren Ratschlägen vertritt sie jedoch die Auffassung einer rassistischen Nobilitierung und reproduziert eine queerfeindliche Familienpolitik, die zusehends nicht länger mit dem in den Leser:innenbriefen artikulierten Verlangen der jungen Leser:innen übereinstimmt – ein Schicksal, welches sie mit den weißen Kolumnist:innen teilt. Erhellend ist zudem die teilweise gegenwartsbezogene Kontinuitätsthese in Kapitel 4, welche die Autorin eindrücklich anhand Browns Ratgeberkolumne „Experience“ (1919–1942) über Einsamkeit, Depressionen, Suizidgedanken und das Bedürfnis städtischer Bewohner:innen und Migrant:innen nach einer zunächst anonymen Gemeinschaft, der Column Family, die später zu real vernetzenden Aktivitäten an „Experience“-Parties überging, herausarbeitet.
Golias gelingt es über weite Strecken, den Beziehungswandel zwischen Leser:innen, Kolumnist:innen und Zeitungsredaktion als ein interaktives Kommunikationsforum darzustellen. Jedoch bleibt die Rezeption auf Seiten der nicht-mittelständischen Bevölkerungsschicht aufgrund der disparaten Quellenlage und den kaum im Original erhaltenen Leser:innenbriefen wenig geklärt. Abgesehen vom erkenntnisreichen Beitrag zur Column Family, stellt sich die Frage, ob die zuweilen kontrovers diskutierten Ratschläge der Kolumnist:innen von der breiten schwarzen und weißen Leser:innenschaft angenommen und im privaten Alltag umgesetzt wurden. Nichtsdestotrotz legt die Autorin eine äußerst lesenswerte Studie vor, die eine Bereicherung für die postkolonial-, geschlechter- und queerwissenschaftlich perspektivierende Medien-, Kultur-, und Migrationsgeschichte darstellt und zu weiterführenden Forschungen über intersektionale Kontexte von readers of color, feministischen und queeren Lebenswelten in Amerika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anregt.