D. Schostakowitsch: Briefe an Iwan Sollertinski

Cover
Titel
Briefe an Iwan Sollertinski.


Autor(en)
Schostakowitsch, Dmitri
Herausgeber
Sollertinski, Dmitri; Kownazkaja, Ljudmila
Erschienen
Hofheim am Taunus 2021: Wolke Verlag
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Belge, Departement Geschichte, Universität Basel

„Er ist gestorben, und ich bin zurückgeblieben“. Mit diesen prägnanten Worten beschrieb Dmitri Schostakowitsch in einem Brief an die Witwe Olga Sollertinskaja vom 15. Februar 1944 seine Trauer über den frühen Verlust seines „am nächsten stehende[n] und […] liebste[n] Freund[es]“ Iwan Sollertinski (1902–1944) (S. 154). Der Tod des Theaterhistorikers, Literaturwissenschaftlers, Musikologen und künstlerischen Leiters der Leningrader Philharmonie gilt den Biograph:innen des Komponisten als besonders tief einschneidendes Erlebnis, weil Schostakowitsch sein intellektuelles Gegenüber und sein enger Vertrauter genommen wurde.1 Die Schostakowitsch-Forschung hat von den Briefen Schostakowitschs an Sollertinski seit Jahrzehnten Gebrauch gemacht. 2006 wurden sie erstmals auf Russisch publiziert. Dmitri Sollertinski (der Sohn Iwan Sollertinskis) und Ljudmila Kownazkaja gaben damals eine wissenschaftliche Edition mit einem detaillierten Anmerkungsapparat heraus.2 Irina Schostakowitsch, die Witwe des Komponisten, förderte die Übersetzung der Briefe ins Deutsche. Der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft und im Besonderen der Übersetzerin Ursula Keller ist es zu verdanken, dass diese fundamentale Quelle nun auch auf Deutsch zugänglich ist.

Die Wege von Schostakowitsch und Sollertinski kreuzten sich erstmals 1921 am Leningrader Konservatorium. Der vier Jahre ältere Sollertinski war bereits ein aufsteigender Stern am Leningrader Kulturhimmel, Schostakowitsch noch ein schüchterner und unbekannter angehender Komponist. Wenige Jahre später war Schostakowitsch selbst unter den führenden sowjetischen Komponisten. Als Schostakowitsch im Jahr 1927 seinen ersten Brief als Freund an Sollertinski schrieb, hatte er mit seiner 1. und 2. Symphonie („An den Oktober“) für Furor und Aufsehen gesorgt. Mit dem Universalgelehrten Sollertinski und dem aufstrebenden Komponisten fanden in den kommenden Jahren zwei Gleichgesinnte zueinander.

Schostakowitsch vernichtete grundsätzlich alle an ihn gerichteten Briefe. Der Band enthält deshalb ausschließlich Briefe von Schostakowitsch an Sollertinski – insgesamt 171 –, von kurzen Notizen bis hin zu ausgedehnten Schreiben. Schostakowitsch sandte den ersten datierten Brief am 20. August 1927 (die Sammlung enthält einen früheren undatierten Brief), den letzten Brief erhielt Sollertinski wenige Wochen vor seinem Tod am 11. Februar 1944. Die Briefe entstanden also in zwei Jahrzehnten, die fundamentale Umwälzungen in der sowjetischen Gesellschaft und Kultur sahen – die stalinistische Gewaltherrschaft, die erzwungene Zentralisierung der Kulturverbände, die Politisierung des künstlerischen Schaffens durch die Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ und den Beginn des „Großen Vaterländischen Kriegs“. Soviel sei bereits gesagt: Wer danach fragt, wie sich diese Prozesse und Ereignisse im Leben von Dmitri Schostakowitsch niederschlugen, wird in seinen Briefen keine eindeutige Antwort finden.

Finden sich zum Beispiel Spuren des „Prawda“-Skandals von 1936 um eine Oper Schostakowitschs in den Briefen? Noch am 9. Januar hielt Schostakowitsch seinem Freund „ungesunde[m] Pessimismus“ in Bezug auf die Entwicklungen im sowjetischen Kulturleben vor und plante gemeinsam mit ihm „an der Umgestaltung der musik[alischen] Front in Leningrad“ zu arbeiten (Brief Nr. 103, S. 109). Am 28. Januar 1936 schrieb Schostakowitsch einen Brief an Sollertinski. Er informierte seinen Freund darüber, dass „der Genosse Stalin und die Genossen Molotow, Mikojan und Shdanow“ bei einer Aufführung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ anwesend gewesen seien. Die Aufführung „war gut“, er selbst sei am Ende der Darbietung herausgerufen worden (Brief Nr. 104, S. 109f.). Noch am gleichen Tag druckte die „Prawda“ ihren berüchtigten Artikel „Chaos statt Musik“, in dem sie dem berühmten und unionsweit verehrten Komponisten anlässlich der Opernaufführung in der meistgelesenen Tageszeitung der Sowjetunion unterstellte, „linkes Chaos“ zu veranstalten und „kleinbürgerliche ‘Neuerungssucht’“ zu betreiben. Dies bedeutete für Schostakowitsch eine existentielle Bedrohung inmitten von Stalins „Großem Terror“. Die „Prawda“ warnte Schostakowitsch sogar explizit: „Dieses Spiel kann böse enden“.3 Aus dem Brief vom gleichen Tag wird deutlich, wie sehr Schostakowitsch davon überrascht worden war. Über die Wirkung dieses Frontalangriffs auf Schostakowitsch erfährt man aber nichts – die der Sammlung folgenden Briefe sprechen über andere Themen.

Die Schostakowitsch-Forschung hat sich über Jahrzehnte abgemüht, seinen Platz in der sowjetischen Kulturpolitik zwischen den Bildern des „Staatskomponisten“ und des „musikalischen Dissidenten“ näher zu bestimmen.4 Die Briefe an Sollertinski geben auf diese Frage nicht immer Antworten. Gewiss, wie Bernd Feuchtner in der Einleitung zur deutschen Ausgabe treffend bemerkt, „Ironie, Satire und Sarkasmus“ prägen sowohl die Briefe als auch die Musik des Komponisten (S. 16). Aber wie passt das Bild eines vom Regime komplett entfremdeten Schostakowitschs zum Brief vom 17. November 1935, in dem Schostakowitsch schreibt, er habe „das riesige Glück“ gehabt, „der Abschlusssitzung des Kongresses der Bestarbeiter beizuwohnen“. Weiter berichtet er, er habe „den Genossen Stalin, die Gen. Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow […] und Shdanow im Präsidium gesehen“. „Nach Stalins Rede“ habe er „jegliches Maß verloren und mit dem gesamten Saal ‘Hurra’ gebrüllt und endlos applaudiert“. Dies sei „der glücklichste Tag meines Lebens: Ich habe Stalin gesehen und gehört“ (Brief Nr. 99, S. 105). Spricht hier ein rundum sarkastischer Beobachter? Oder hatte sich Schostakowitsch doch von der Mitte der 1930er-Jahre maß- und grenzenlosen Stalin-Begeisterung anstecken lassen? Der Brief vermag beide Thesen zu bestätigen.

Zu anderen Themen sprechen die Briefe dagegen sehr viel: Schostakowitsch schrieb Sollertinski vor allem auf Reisen, die er vor Beginn des Zweiten Weltkriegs unternahm. Das Bild Schostakowitschs als „Leningrader“ und später „Moskauer“ Komponist erfährt in den Briefen eine wichtige Nuancierung. Schostakowitsch reiste nach Odessa, von dort aus über das Schwarze Meer, besuchte Gudauty in Abchasien und Batumi in Georgien und tourte nach Swerdlowsk. Wir erleben einen Komponisten, der bereits in den 1930er-Jahren Teil des kulturellen Establishments war und die Annehmlichkeiten von Flugreisen und Sanatorien genoss. Mit der Evakuierung Leningrads kam Schostakowitsch nach Kuibyschew im Ural und die Wege von Schostakowitsch und Sollertinski, der nach Nowosibirsk evakuiert worden war, trennten sich. Die Briefe sind nicht zuletzt Ausdruck einer tiefen Freundschaft, in der sich Schostakowitsch und Sollertinski zwar in der Tradition der Petersburger Gelehrsamkeit mit Vor- und Vatersnamen ansprachen, sonst aber einen innigen und vertrauten Ton miteinander pflegten. Viele Briefe Schostakowitschs sind mit einem auf Russisch unverfänglichen, aber intimen «ich küsse (Dich)» (russ. zeluju) unterschrieben.

Der Übersetzung von Ursula Keller gelingt das Kunststück, den vertrauten, anspielungsreichen Tonfall des russischen Originals ins Deutsche zu übertragen. Weil die Briefe mitunter sehr voraussetzungsvoll geschrieben sind und eine nahezu unüberschaubare Zahl von Namen und Begriffen enthalten, ist der Anmerkungsapparat des Buches ein unverzichtbares Hilfsmittel. Er ist den Briefen in Form von Endnoten angefügt, und das Hin- und Herblättern gestaltet sich mitunter mühevoll. Eventuell wären die Anmerkungen als Fußnoten oder jedem einzelnen Brief hintangestellt besser platziert gewesen (wie dies in der russischen Ausgabe von 2006 der Fall ist). Außerdem ist fraglich, ob sich die Übersetzung einen Gefallen darin getan hat, feststehende sowjetische Begriffe und Titel von Zeitschriften ins Deutsche zu übersetzen. In der Forschung ist es jedenfalls gebräuchlich, das Zentralorgan des Komponistenverbandes, die „Sowjetskaja musyka“, russisch zu schreiben. Was die „Sowjetische Musik“ sein soll, die Sollertinski und Schostakowitsch lasen, erschließt sich dagegen nicht unmittelbar. Das Abkürzungsverzeichnis gleich zu Beginn des Buches liefert dafür wertvolle Orientierung in der mitunter überfordernden Ansammlung von Abkürzungen und Akronymen, wie sie für die sowjetische Kulturwelt so typisch war.

Dieses Buch ist eine unverzichtbare Quelle für Forschung und Lehre und es ergänzt hervorragend die bereits auf Deutsch übersetzten Briefe Schostakowitschs an Isaak Glikman, einem Schüler Sollertinskis.5 Den Herausgeber:innen ist zu danken, dass über die Briefe Schostakowitschs an Sollertinski nun auch mit jenen nachgedacht, diskutiert und gestritten werden kann, die des Russischen nicht mächtig sind. Über Schostakowitsch wird wohl nie alles gesagt sein, aber die Briefe halten vielversprechende Antworten für unterschiedlichste Fragestellungen bereit.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Pauline Fairclough, Dmitry Shostakovich, London 2019, S. 84; Laurel E. Fay, Shostakovich. A Life, Oxford 2000, S. 140, 148; Bernd Feuchtner, Und Kunst geknebelt von der groben Macht. Dmitri Schostakowitsch, Hofheim 2017, S. 186; Sofija M. Chentova, Šostakovič. Žizn’ i tvorčestvo, tom 2, Leningrad 1986, S. 176; Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Band II, Teilband 2, Laaber 1994, S. 563.
2 Russ. Originalausgabe: D. D. Šostakovič, Pis’ma I. I. Sollertinskomu, Sankt Petersburg 2006.
3 Der Prawda-Artikel vom 28. Januar 1936 ist u.a. in deutscher Übersetzung hier zu finden: https://www.schostakowitsch.de/.cm4all/iproc.php/Chaos%20statt%20Musik.pdf?cdp=a&cm_odfilefile (01.07.2022).
4 Vgl. zu den Auseinandersetzungen das Themenheft Manfred Sapper / Volker Weichsel (Hrsg.), Dmitrij Šostakovič. Grauen und Grandezza des 20. Jahrhunderts, Osteuropa 56 (August 2006), 8, und Allan Benedict Ho / Dmitry Feonfanov (Hrsg.), Shostakovich Reconsidered, London 1998.
5 Dmitri Schostakowitsch, Chaos statt Musik? Briefe an einen Freund, hrsg. von Isaak D. Glikman, a.d. Russischen von Thomas Klein und Reimar Westendorf, dt. Ausg. hrsg. von Reimar Westendorf, Berlin 1995.

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