Cover
Titel
Sartorius 1870–2020.


Autor(en)
Berghoff, Hartmut; Kleinschmidt, Christian; Lindner, Stephan H.; Marschall, Luitgard
Erschienen
München 2021: Piper Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tonio Schwertner, Graduiertenkolleg „Europa als Gewinn“, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Buch Sartorius. 1870–2020 von Hartmut Berghoff, Christian Kleinschmidt, Stephan H. Lindner und Luitgard Marschall wurde anlässlich des 150-jährigen Jubiläums des Göttinger Familienunternehmens in Auftrag gegeben. Das Unternehmen gewährte den Autoren unbeschränkten Zugang zu den Unternehmensquellen, um die wissenschaftliche Qualität der Schrift sicherzustellen. Ein wissenschaftsferner und unzeitgemäßer Festschriftcharakter sollte trotz des Jubiläums vermieden werden (S. 6–7). Dass es sich um eine Auftragsarbeit eines erfolgreichen Unternehmens handelt, erkennt man dennoch leicht: Die Studie wurde großformatig auf 280 Seiten und mit 55 Abbildungen in Farbe veröffentlicht. Der Einband ist dabei in demselben grellen Gelb gehalten, das das Unternehmen seit 2020 als Corporate-Identity-Farbe auf dem Firmenlogo und für den Webauftritt nutzt. Die veröffentlichte Unternehmensgeschichte ist dabei nur ein Teil der beginnenden Auseinandersetzung des Unternehmens mit seiner eigenen Geschichte. Denn anlässlich des anstehenden Jubiläums entschied die Konzernführung erst 2016. ein professionelles Unternehmensarchiv aufzubauen, und gab zusätzlich zu der Unternehmensgeschichte auch eine detaillierte Studie der Geschichte von Sartorius während des Nationalsozialismus in Auftrag. Diese Arbeit wurde von Manfred Grieger verfasst und als Monografie publiziert.1

Die Ursprünge des Göttinger Unternehmens lagen im technisch anspruchsvollen Handwerk der Herstellung mechanischer Waagen. Seitdem entwickelte sich das Unternehmen zu einem erfolgreichen, multinationalen und diversifizierten Life-Science-Konzern, der in zwei Sparten untergliedert ist: Bioprocess Solutions (Filtration, Fermentierung und Flüssigkeitsmanagement) und Lab Products & Services (Laborprodukte, Bioanalytik und eben Wägetechnik). Die Unternehmensgeschichte nachzuverfolgen, stellte die Historiker vor einige Herausforderungen, nicht nur, weil sich das Unternehmensarchiv noch im Aufbau befand, sondern auch aufgrund der über die Jahre nicht gleichmäßig vorhandenen Quellendichte. So wurde von einem rein chronologischen Aufbau abgesehen und ein „systematisch-thematische[r] Zugriff mit einer chronologischen Struktur kombiniert“ (S. 9).

Das Buch bietet drei Perspektiven auf die Geschichte des Unternehmens Sartorius. Das erste Kapitel von Hartmut Berghoff analysiert die Entwicklung des Unternehmens parallel zur Familiengeschichte der Eigentümer:innen, die für das Unternehmen große Relevanz hatte. Auch das zweite Kapitel von Christian Kleinschmidt beginnt chronologisch im 19. Jahrhundert mit den Auftritten des Göttinger Handwerksbetriebs auf internationalen Messen und vollzieht die keinesfalls kontinuierliche Internationalisierung des Unternehmens über 150 Jahre im Kontext von Wirtschaftskrisen, Welt- und sogenannten kalten Kriegen, Freihandel und Globalisierung nach. Das dritte Kapitel von Stephan H. Lindner und Luitgard Marschall analysiert die Unternehmensgeschichte im Kontext der Innovations- und Technikgeschichte sowohl bezogen auf die Wäge- als auch auf die Filtertechnik.

Hartmut Berghoff stellt sich in seinem Kapitel selbst die Aufgabe, hinter die suggerierte Kontinuität während der 150 Jahre Gründer:innenfamilienbesitz an dem Unternehmen zu blicken (vgl. S. 16). Es wird gezeigt, dass die Neuorganisationen der Unternehmensstruktur und die Pläne von Florenz Sartorius, seine Söhne in die Geschäftsführung zu übernehmen, stets eng verwoben waren. Seitdem das Unternehmen in der Hand der zweiten Generation lag, spielten innerfamiliäre Streitigkeiten und Nachfolgekonflikte immer wieder einer Rolle. Zunächst zeichnet Berghoff das schleichende Ausscheiden des einen von zwei verbliebenen Familienstämmen aus dem Unternehmen nach. Dabei wird gezeigt, dass die sich ändernden Besitzverhältnisse der zwei Linien der Familie dabei auch von Einberufungen in den Krieg und politischem Opportunismus in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt waren (S. 45). Ab den späten 1970er-Jahren prägte dann der Streit zwischen Horst Sartorius und seinen Kindern die Unternehmensgeschichte. Nach mehreren innerfamiliären juristischen Auseinandersetzungen und sich sukzessive verschlechternden Familienbeziehungen trat der eigentlich designierte Nachfolger und Sohn, Christoph Sartorius, 1989 aus dem Unternehmen aus. Der Nachfolgestreit gipfelte schließlich in der Entscheidung von Horst Sartorius, seinen Sohn Christoph offiziell zu enterben und seinen Töchtern zwar seine Anteile am Unternehmen zu vermachen, ihre Eigentumsrechte aber per verfügter Testamentsvollstreckung bis 2028 zu beschränken (S. 89). Dieser Streit, der sich zu einer veritablen Führungskrise des Unternehmens entwickelte und wichtige strategische Unternehmensentscheidungen verzögerte, hatte, so eine These Hartmut Berghoffs, langfristig allerdings auch positive Auswirkungen auf das Unternehmen. So seien durch die eingeschränkten Eigentumsrechte der Erbinnen die Vorzüge von Familienunternehmen und kapitalorientierten Unternehmen bei Sartorius gleichermaßen auszumachen. Entsprechend werde das Unternehmen seither von externen Managern mit großen Freiräumen geführt und profitiere gleichzeitig von sogenanntem geduldigem Kapital, wie es für Familienunternehmen typisch ist (S. 92).

Christian Kleinschmidt untersucht im zweiten Kapitel die Unternehmensgeschichte von Sartorius, indem er den Blick auf seine Internationalisierungsbemühungen lenkt. Dabei kontextualisiert Kleinschmidt die Geschichte des Unternehmens kontinuierlich mit wirtschaftshistorischen Entwicklungen in Deutschland und der (vor allem westlichen) Welt. Die ersten 40 Jahre der Unternehmensgeschichte fielen in die Zeit der deutschen Hochindustrialisierung und die zunehmende wirtschaftliche Interdependenz der westlichen Länder. Für das früh exportorientierte Unternehmen war, wie Christian Kleinschmidt überzeugend darlegt, die steigende Präsenz auf internationalen Messen sowie das Beobachten der internationalen Konkurrenz von hoher Bedeutung. Die Patentierung von Weiterentwicklungen ausländischer Produkte, wie etwa amerikanische Brutapparate für Geflügel, trug auch dazu bei, die Konnotation der in Großbritannien verpflichtenden Produktbezeichnung „Made in Germany“ ins Positive zu wenden (S. 123). Entlang konventioneller (wirtschafts-)politischer Zäsuren verfolgt Kleinschmidt die Internationalisierung des Unternehmens. Dafür boten die Weltkriege und die Zwischenkriegszeit, so zeigt die Analyse wenig überraschend, keine gute Basis. Für die Nachkriegszeit identifiziert Kleinschmidt Sartorius als typisches Beispiel des „Uppsala-Modells“, einer schrittweise fortschreitenden Internationalisierungsstrategie (S. 134). Immer eingebettet in den wirtschaftspolitischen Kontext vollzieht Kleinschmidt die Entwicklung des Unternehmens von einem kleinen Handwerksbetrieb zu einem multinationalen Unternehmen mit Standorten in 35 Ländern nach.

Das dritte Kapitel von Luitgard Marschall und Stephan H. Lindner untersucht die Unternehmensgeschichte anhand der technischen Innovationen – zunächst in der Branche der Wäge- und dann in der Separationstechnik. In der Kommunikation nach außen beanspruchte Sartorius einige Male einen geradezu revolutionären Erfindergeist, der sowohl dem Unternehmensgründer als auch seinen Mitarbeitern zugeschrieben wurde. Auch wenn das Unternehmen vereinzelt tatsächlich Innovationen schuf und neue Produkte erfand, etwa in der frühen Entwicklung elektronischer Waagen, halten andere Unternehmensmythen den Überprüfungen der Autoren nicht stand. So ist es nicht korrekt, dass die Erfindung der kurzarmigen Waage auf Florenz Sartorius zurückzuführen sei (S. 170). Vielmehr, argumentieren Marshall und Lindner, habe das Unternehmen seit Unternehmensgründung erfolgreich die Rolle eines sogenannten Technologiefolgers eingenommen. Das heißt, das Unternehmen habe Innovationen zum richtigen Zeitpunkt erkannt, Weiterentwicklungen vorgenommen und sich diese patentieren lassen. Sehr interessant wird auch im Unterkapitel zur Separationstechnik dargelegt, dass sich technische Fortschritte gerade im Kontext von Krieg und unmittelbarer Nachkriegszeit durchsetzen, als beispielsweise der Bedarf an sauberem Wasser nicht durch die konventionelle Infrastruktur abgesichert war und Sartorius bestehende Versorgungslücken füllen konnte (S. 215).

Insgesamt handelt es sich um eine interessante Unternehmensgeschichte der vier Autoren. Der multiperspektivische Ansatz trägt dazu bei, dass die Geschichte Sartorius' mit der Familiengeschichte des Gründers und seiner Nachfahren sowie mit politischen und wirtschaftlichen Zäsuren kontextualisiert wird. Die Kapitel sind dabei alle für sich einzeln lesbar, übersichtlich gegliedert und behandeln, wenn auch in variierender Dichte, jeweils chronologisch die gesamten 150 Jahre der Geschichte Sartorius'. Allerdings kommt es so bei der Lektüre des Gesamtwerks unweigerlich zu Redundanzen. Auch bleibt das Unternehmen in der Chronik ein etwas isolierter Akteur, dessen Entscheidungen vor allem auf der Ebene von Gründerfamilie und oberem Management erklärt werden. Das liegt auch daran, dass alle Autoren einer klassischen top-down-Perspektive treu bleiben, sie etwa die Arbeitnehmer:innen entsprechend nur aus der Perspektive der Unternehmensführung untersuchen. Es gelingt den Autoren jedoch über das gesamte Werk hinweg, die theoretischen Konzepte des Fachs der Unternehmensgeschichte niedrigschwellig zu erklären. Dadurch verlieren sich auch in der BWL weniger versierte Leser:innen nicht in allzu technischen Ausführungen über Kapitalerhöhungen oder Vorzugsaktien.

Anmerkung:
1 Manfred Grieger, Sartorius im Nationalsozialismus. Generationswechsel im Familienunternehmen zwischen Wirtschaftskrise und Entnazifizierung, Göttingen 2019.

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