Richard Graf Coudenhove-Kalergi (1894–1972), Gründer der „Paneuropa-Union“, Vordenker und Aktivist eines geeinten Europas, übte nicht nur auf seine Zeitgenossen eine eigentümliche Faszination aus. Auch die historische Forschung hat sich seiner Person immer wieder angenommen. Frühe biografische Annäherungen, teils aus der Feder von Anhängern der paneuropäischen Idee, waren nicht selten geprägt von einer geradezu hagiografischen Verklärung. Es dominierte das Bild eines europäischen Visionärs, seiner Zeit weit voraus und zu Unrecht in Vergessenheit geraten. In diesen Arbeiten schienen sich die Wurzeln der europäischen Integration im Wirken Coudenhove-Kalergis zu personifizieren. Um die Jahrtausendwende folgte dann, im Kontext der kultur- und ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der europäischen Integration, eine intensivere Beschäftigung der historischen Forschung mit der Person Coudenhove-Kalergis. Nun wurde seine Biografie und sein Wirken erstmals kritisch kontextualisiert, sein tatsächlicher Einfluss auf den Gang der europäischen Integrationsgeschichte beleuchtet und nach individuell-biografischen sowie strukturellen Gründen für die spezifische Rezeptionsgeschichte der Idee „Paneuropa“ gefragt.
Angesichts dieses Forschungsstandes erscheint die Idee einer weiteren Biografie Coudenhove-Kalergis nicht unbedingt naheliegend. Die nun vorliegende Studie von Martyn Bond schließt dennoch in doppelter Hinsicht eine Lücke: Zum einen legt Bond, wie er selbst schreibt, „the first English biography of the man“ vor (S. 415). Dies allein ist vielleicht weniger wichtig als die Tatsache, dass Bond sich zum anderen deutlich tiefer als die meisten anderen Biografen in das Leben Coudenhove-Kalergis einarbeitet und dabei durchaus neue Aspekte zu Tage fördert. Umfangreiche Archivrecherchen bilden die Basis der Studie, ergänzt durch publiziertes Material (nicht zuletzt die zahlreichen Schriften Coudenhove-Kalergis selbst) sowie Interviews mit rund 80 Zeitzeugen. Das Spektrum reicht hier von engeren Familienangehörigen Coudenhove-Kalergis über Mitarbeiter bis zum Sohn des Arztes, der die Sterbeurkunde ausgestellt hat. Daraus entsteht ein bisher unbekannter Schatz an Detailwissen über Richard Coudenhove-Kalergi. Nichts davon stellt unser Bild des „Paneuropäers“ auf völlig neue Füße. Doch werden viele biografische Stationen, die in groben Zügen bereits bekannt waren, nun mit konkreten Informationen unterlegt und ausgeleuchtet.
Streng chronologisch aufgebaut, bewegt sich der Text von der Familiengeschichte über Coudenhove-Kalergis Jugend, seine Schulzeit und das Studium, seine Ehe mit der älteren Schauspielerin Ida Roland bis hin zu seinem beginnenden Engagement für ein geeintes Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die in weiten Teilen bekannten Stationen des politischen Engagements in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren, mit der Gründung der Paneuropa-Union und der umfangreichen Publikationstätigkeit Coudenhove-Kalergis, erfahren hier eine ebenso detailreiche Schilderung wie die Flucht in die USA. Über die Exiljahre war bisher eher wenig bekannt, hier finden sich neue Aspekte des unermüdlichen Engagements des „Paneuropäers“, wenn sich dieses Engagement doch auch in den bekannten Bahnen des Netzwerkens bewegte. Die Rückkehr nach Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, die Rivalität mit den nun entstehenden föderalistischen Europaorganisationen, die Annäherung an de Gaulle, die finanziellen Probleme – all diese Stationen ergänzt Bond um weitere Puzzleteile. Auch die bereits vorinformierte Leserin erfährt bei der Lektüre bisher Unbekanntes und Neues. Am Ende steht eine persönlichere und umfassendere Gesamtschau des Lebens und Wirkens Coudenhove-Kalergis, als wir sie bisher vorliegen hatten.
Leider allerdings, das muss man so formulieren, macht Bond einen Teil seiner sorgsamen Arbeit zunichte, indem er in eben jenen Fehler verfällt, der auch ältere Arbeiten zu Coudenhove-Kalergi charakterisierte: ein hagiografischer Grundtenor, der den Protagonisten, seine politischen und weltanschaulichen Ideen, sein Handeln und Agieren für eine europäische Einigung normativ überformt. Die geschichtswissenschaftlich längst überkommene Figur des „guten Europäers“ erlebt in diesem Buch ihre Auferstehung. Für Bond besteht kein Zweifel, dass Coudenhove-Kalergi eine „extraordinary figure, who helped to shape the fate of Europe” (S. 4) war, ein „leader in a political sphere that also had a spiritual and intellectual dimension” (S. 363), für den die – immer wieder erhoffte, aber nie erfolgte – Verleihung des Friedensnobelpreises „well merited” gewesen wäre (S. 358). Von kritischer Distanz gegenüber dem eigenen Untersuchungsgegenstand ist in Bonds Studie wenig zu spüren.
Dies führt dazu, dass problematische Aspekte weitgehend ausgeblendet werden. Coudenhove-Kalergis teils verzweifeltes Buhlen um die politischen „Größen“ und „Mächtigen“ seiner Zeit – von Mussolini über Briand und Churchill bis hin zu de Gaulle – wird ebenso unkritisch geschildert wie die bedingungslose Bereitschaft, das eigene Europa-Konzept anzupassen, wo immer sich eine Hoffnung auf Umsetzung bot. Auch eine Problematisierung von Coudenhove-Kalergis aristokratisch-elitärem Weltbild bleibt aus. Sein Unverständnis für spezifische politische Problemlagen in national verfassten Gesellschaften, seine Neigung zu einfachen Lösungen, all dies wird zu selten thematisiert, zu wenig kontextualisiert. Dabei erklärt, bei aller Lebensleistung Coudenhove-Kalergis, gerade eine solche Kontextualisierung die begrenzte politische Entfaltungskraft der in der Tat ja zukunftsträchtigen Vorstellungen eines geeinten Europas unter dem Schlagwort „Paneuropa“.
Irritierend ist schließlich auch die in dem Buch anzutreffende Gegenüberstellung von Richard Coudenhove-Kalergi und Adolf Hitler. Ihre Leben werden in dem Text immer wieder „gespiegelt“, etwa im Wien der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Bereits der Titel „Hitler‘s Cosmopolitan Bastard“ verweist in diese Richtung. Im Vorwort heißt es, Coudenhove sei „for a while […] a rival for Hitler“ gewesen (S. XVII). Warum dieser wiederholte Bezug erfolgt, bleibt unklar. Geht es darum, Coudenhove-Kalergi durch die überzeichnete Rivalität zwischen „gutem Europäer“ und „schlechtem Diktator“ in umso hellerem Licht scheinen zu lassen?
Bond möchte in diesem Buch wohl vor allem die Lebensleistung Coudenhove-Kalergis würdigen. Dies mag mit der beruflichen und politischen Sozialisation des Autors zusammenhängen, der selbst auf eine Karriere zurückblickt, die von der europäischen Verwaltung in Brüssel über eine journalistische Tätigkeit bis hinein in die Wissenschaft reicht. So lässt der Autor seine eigene Begeisterung für das europäische Projekt in diesem Buch deutlich durchscheinen. Gegen eine solche politische Positionierung ist im Grunde nichts einzuwenden. Für eine wissenschaftlich weiterführende Studie jedoch hätte man sich eine kritischere Grundhaltung gegenüber dem Untersuchungsobjekt gewünscht. So bleibt am Ende der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck: Auf der einen Seite handelt es sich um ein gut geschriebenes und aus den Quellen geschöpftes biografisches Porträt, das uns Aspekte und Einblicke in das Leben Richard Coudenhove-Kalergis eröffnet, die neu und überraschend sind. Nicht gerade neu und überraschend ist hingegen die Weise, auf die sich der Autor seinem „Helden“ nähert und die die Schwächen älterer Arbeiten fortsetzt.