Cover
Titel
Erste Hilfe. Architekturdiskurs nach 1940. Eine Schweizer Spurensuche


Autor(en)
von Moos, Stanislaus
Erschienen
Zürich 2021: gta Verlag
Preis
CHF 60,00; € 55,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sarah M. Schlachetzki, Institut für Kunstgeschichte, Universität Bern

Aus anderen Gründen als andernorts in Europa ist in der Schweiz die Zeit des Zweiten Weltkriegs ein zumindest halbblinder Fleck der Architekturgeschichtsschreibung. Mit allgemeinem Fokus auf die Zwischenkriegs- und dann die Nachkriegsmoderne hat sich die Forschung lange Zeit wenig dafür interessiert, wie die Architektenschaft ab 1939 auf die Zeitenwende des Krieges reagierte. Dies vor allem, weil das Gros der Architekturproduktion – auch in ihren Entwürfen – nicht recht mit dem (ex post) von der Avantgarde gepflegten Bild einer stringenten architektonischen Moderne zusammenging. Der Zürcher Architekturhistoriker Stanislaus von Moos hat nun mit Erste Hilfe. Architekturdiskurs nach 1940. Eine Schweizer Spurensuche ein Buch vorgelegt, das die Tätigkeit der Architekten, Theoretiker und Kulturschaffenden1 in dieser und der nachfolgenden Zeit ins Zentrum stellt.

Von Moos organisiert den Text thematisch, nicht chronologisch, und vielleicht gerade deswegen ist die Leitfrage des Buches nicht ganz einfach zu greifen. Geht es um den Schweizerischen „Caritas-Komplex“ (S. 13) – also den Wunsch, dem restlichen Europa (in diesem Fall mit architektonischen Mitteln) beim Wiederaufbau zu helfen – in der Zeit nach 1939? Dann wollen lange Passagen zu Le Corbusier, Bemerkungen zum österreichischen Architekten Laurids Ortner (S. 252) oder zu Werner Moser und Erich Mendelsohn in den 1920er-Jahren dazu nicht recht passen (S. 387f.). Und was ist schweizerisch an dieser „Schweizer Spurensuche“? Nach der Lektüre wird deutlich: Mit ihren vielen internationalen Bezügen ist es eine Spurensuche keineswegs nur in der Schweiz. Es ist vielmehr die Spurensuche eines Schweizers, nämlich des Autors selbst. Hinter den deutschschweizerischen Kulturgrenzen jedenfalls wird diese „Spurensuche“ nicht mehr ganz so (gesamt-)schweizerisch wirken. Erst im „Postskriptum“ macht der Autor autobiographische Motivationen explizit. Es hätte dem Werk gutgetan, sie zu Beginn einzuräumen, zumal sich nicht zuletzt aus von Moos’ Forschungsbiographie heraus die zuweilen überraschende Auswahl des Materials erklärt.

Um „Erste Hilfe“ geht es lediglich in der ersten Hälfte des Buches (ein Hauptkapitel trägt diese Überschrift, S. 95–185). Aufbauend auf existierenden Forschungspositionen zum europäischen Kontext, interessiert sich von Moos für den Zusammenhang zwischen den Visionen einer architektonischen Moderne auf der einen, Krieg und Zerstörung als große „Ermöglicher“ eines neuen Städtebaus auf der anderen Seite.2 Dabei umkreist der Verfasser in kulturgeschichtlicher Manier beileibe nicht nur Protagonisten der Schweizer Architekturszene. Auch Positionen aus dem Feld der Literatur, des Films oder der bildenden Kunst werden vorgestellt, um ein Stimmungsbild des Kulturschaffens bzw. seiner Rezeption während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu zeichnen. Auf hybride Versatzstücke unter schnell wechselnden Überschriften folgen längere, im besten Sinn deskriptive Passagen zu – unter vielen anderen – Sigfried Giedion, Alfred Roth, Max Bill, Hans Bernoulli, Hans Schmidt und Armin Meili. Dabei öffnet von Moos immer wieder die Perspektive und nimmt nicht nur die Aktivitäten der Schweizer Akteure und ihre Ideen zum Wiederaufbau Europas in den Blick. Ausgehend von den Verbindungen etwa des CIAM-Netzwerks3 um Giedion und Roth in die USA oder die Niederlande einerseits, eines Bernoulli nach Warschau andererseits, ist es ein zentrales Anliegen von Moos’, die Schweizer Architekten und Theoretiker gerade in ihren internationalen Verbindungen zu beleuchten.

Zwar bezieht von Moos die Fragen um Wiederaufbau und Rekonstruktion, wie sie sich im schwer zerstörten Warschau stellen, nur in eher kurzen Abschnitten in seine Analyse mit ein; gerade hier aber liegt eine Qualität des Buches, nämlich die Schweizer Situation der Verschontheit beispielsweise mit der polnischen Realität planvoll zerstörter Baukultur zu kontrastieren. Im Fußnotenapparat liefert der Autor eine Menge wertvoller Referenzen.4 In der Hintereinanderschaltung zeitlich parallel verlaufender Phänomene – von hinter den Grenzen wütendem Krieg und „Schweizer“ Heimeligkeit – tritt aber zuweilen auch eine merkwürdige Nonchalance zutage. Von Moos belegt zwar immer wieder gewisse Denkmuster seiner Akteure mit distanznehmender Ironie und durchaus essentialisierend als besonders „helvetisch“. Gerade im Kapitel „Erste Hilfe“ aber ist bei aller Distanz, um die sich von Moos bemüht, nicht zu verstehen, wie die „helvetische“ „Flucht ins Ferienhaus“ (S. 179ff.) mit Internierung, Zerstörung und Kriegsgeschehen zusammenzudenken ist. Hier hilft auch nur bedingt die typologische Einleitung über das „Paradigma Baracke“ (S. 131ff.) als Experimentierfeld der internationalen architektonischen Moderne während des Krieges.

Weitere Themen, die Erste Hilfe – wiederum unter reichlicher Angabe der Sekundärliteratur – behandelt, reichen von den Altstadtsanierungen insbesondere der 1930er- und 1940er-Jahre (leider beschränkt auf die Deutschschweiz)5 bis hin zu den Debatten um einen „Neuen Regionalismus“ der 1950er-Jahre. Dass der Schweizer Architekturhistoriker Giedion hier einmal mehr als „Mann auf der Kommandobrücke der Moderne“ (S. 320) erscheint, begründet sich durch von Moos’ Fokus auf den Diskurs. Zugleich perpetuiert der Autor damit aber eine durch das CIAM-Netzwerk gefilterte Sicht auf die architektonische Moderne. Nicht nur werden dabei Bezüge zu der – vom Schweizer Architekturdiskurs (erklärtermassen) ungeliebten – deutschen Moderne übergangen.6 Auch wird die Hagiographie eines Giedion fortgeschrieben, der in der Darstellung von Moos’ nicht nur den Begriff des „Neuen Regionalismus“ in Umlauf gebracht (S. 324), sondern mit seiner Studie zum Spätbarock (1922) auch den Klassizismus „als Kategorie in die Kunstgeschichte eingeführt“ habe (S. 347).7

Eine weitere Hauptfigur im hier besprochenen Werk ist – es überrascht vor dem Hintergrund der Jahre zurückreichenden Beschäftigung von Moos’ mit dieser nicht – Le Corbusier. Der Autor erklärt die Prädominanz des französisch-schweizerischen Architekten im Buch durch die Malaise, die Le Corbusier stellvertretend für viele Schweizer gegenüber seinem Heimatland empfunden habe (S. 17). Die Passagen, in denen von Moos Le Corbusiers Schaffen (abermals) in den Kontext von Krieg, Vichy-Regime und Wiederaufbau einreiht, sind oftmals an architektonischer Analyse orientiert und mit Gewinn zu lesen. Auch mangelt es dem Autor nicht an ironisch-kritischer Distanz zu seinem Protagonisten. Wünschenswert wäre es allerdings gewesen, bei den wiederkehrenden Abschnitten zu Le Corbusier deutlicher zu machen, in welcher Relation die konkreten Beispiele zur Schweiz (auch „nach 1940“) stehen. Soll man den Abschnitt (S. 114ff.) zur Cité de Refuge und zum Asile flottant, die der Architekt um 1930 für die Heilsarmee in Paris gestaltete, als Marker eines „Caritas-Komplex“ Le Corbusiers verstehen? Und gerade in der ausführlichen Besprechung der Unité d’habitation in Marseille wäre es zum Beispiel lohnend gewesen, neben den Stimmen Reyner Banhams und Carola Giedion-Welckers auch diejenige Alfred Roths zu lesen, der für die durch von Moos selbst aufgespannte, diskursive Ebene von Wiederaufbau und architektonischer Moderne in der Schweiz so zentral war.8

Erste Hilfe bleibt mit den vielen darin aufgenommenen, verknüpften, dann wieder fallen gelassenen Gedankenfäden ein überaus anregendes Buch. Es zeichnet die Konjunkturen von Ablehnung und Rehabilitierung architektonischer Topoi nach: blinde Flecken und Auslassungen, ideologische Verstrickungen und Widersprüche der Architektur-Kritik. Und es liest sich immer wieder auch als Kommentar zu heutigen städtebaulichen Entwicklungen und Diskursen.

Anmerkungen:
1 Die Protagonisten des Bandes sind, bis auf die Polin Helena Syrkus, männlich.
2 U.v.a. vgl. Niels Gutschow / Barbara Klain, Vernichtung und Utopie. Stadtplanung Warschau 1939–1945, Hamburg 1994; 1945. Krieg, Zerstörung, Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1940–1960, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin 1995; Niels Gutschow / Jörn Düwel (Hrsg.), A Blessing in Disguise. War and Town Planning in Europe 1940–1945, Berlin 2013.
3 Die Congrès Internationaux d’Architecture Moderne waren ein 1928 in La Sarraz gegründetes Netzwerk zur Förderung der architektonischen Moderne.
4 Allein für die Abschnitte zu Warschau ist die Literatur beeindruckend solide recherchiert, bis hin z.B. zum 2014 erstmals ins Deutsche übersetzten Tagebuch Miron Białoszewskis. Aus der Forschung wäre jüngst noch zu ergänzen: Małgorzata Popiołek-Roßkamp, Warschau. Ein Wiederaufbau, der vor dem Krieg begann, Paderborn 2021.
5 Für den Zürcher Fall unlängst von Melchior Fischli aufgearbeitet (v.a. in: Geplante Altstadt. Zürich 1920–1960, Zürich 2012), auf dessen Arbeiten sich längere Passagen explizit beziehen.
6 Bspw. hätte sich bei Alvar Aaltos Ideen für ein „wachsendes Haus“ von 1941 (S. 174ff.) ein Verweis auf die Berliner Ausstellung zum „wachsenden Haus“ von 1932 angeboten, vgl. mit Kommentaren von Tom Avermaete u.a.: Martin Wagner, Das wachsende Haus. Ein Beitrag zur Lösung der städtischen Wohnungsfrage, Leipzig 2015.
7 Ersteres ist mit einem Blick auf internationale Architekturpublikationen der frühen 1950er-Jahre in Frage zu stellen. Letzteres widerlegt sich u.a. schon durch die Arbeiten Cornelius Gurlitts ab den 1880er-Jahren, durch die Habilitationsschrift des ebenfalls Zürcher Kunsthistorikers Konrad H. Escher (Barock und Klassizismus. Studien zur Geschichte der Architektur Roms, Leipzig 1910), gefolgt von Paul Klopfers Buch: Von Palladio bis Schinkel. Charakteristik der Baukunst des Klassizismus, Esslingen 1911.
8 Alfred Roth, Der Wohnbau 'Unité d'Habitation' in Marseille, in: Das Werk 41/1 (1954), S. 20–24.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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