K. Oschema u.a. (Hrsg.): Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien

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Titel
Zukunft im Mittelalter. Zeitkonzepte und Planungsstrategien


Herausgeber
Oschema, Klaus; Schneidmüller, Bernd
Reihe
Vorträge und Forschungen (90)
Erschienen
Düsseldorf 2021: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Zukunft ist in den letzten Jahren wieder zu einem beliebten Forschungsthema geworden. Das gilt gleichermaßen für die Geschichtswissenschaft insgesamt wie für die historische Mediävistik. Dass sich die Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte im Herbst 2018 diesem Thema zuwandte, erscheint demnach nur folgerichtig. Bernd Schneidmüller stellt in seiner impressionistischen Einleitung zum Tagungsband diese Konjunktur der Zukunftsforschung fest; Klaus Oschema nimmt in seiner grundlegenden Einführung diesen Faden wieder auf. Das neu erwachte Interesse an der vergangenen Zukunft dürfte, so die beiden Herausgeber, nicht allein fachimmanenten Gründen zu verdanken sein, vielmehr handele sich um einen Reflex einer veränderten Zukunftserwartung in der Gegenwart. Bereits seit den 1970er-Jahren habe es eine schrittweise Erosion positiver Zukunftshoffnungen durch deren systematisches Enttäuschtwerden gegeben, in den letzten Jahren scheint die eigene Zukunft zunehmend unsicher geworden zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, in jene Zukünfte zu blicken, die die Vergangenheit hatte.

Allerdings entzieht sich vergangene Zukunft gerade insofern bis zu einem gewissen Grad allen Versuchen, sie im strengen Sinne zu bestimmen, als dass Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen auf ganz unterschiedliche Weise denkend, schreibend und handelnd über ihre jeweilige Gegenwart hinausgriffen. Beide Herausgeber bemühen sich in ihren einführenden Darlegungen dementsprechend zwar darum, Ordnung in die Materie zu bringen, verzichten jedoch darauf, eine Großthese zu etablieren, die die mittelalterlichen Zukünfte auf einen einzigen Nenner zu bringen versucht. Deutlich wird, dass sich mittelalterliche Zukünfte nicht einfach gemäß einem Alteritätsparadigma erfassen lassen: Eine geschlossene religiöse Zukunft mit der Erwartung einer Endzeit füge sich, so Schneidmüller, noch in einen derartigen Ansatz, repräsentiere aber nicht die Vielfalt der Beziehungen, die mittelalterliche Menschen mit der Zukunft eingingen. Fragt man, so ergänzt Oschema, allgemeiner nach der Zeitlichkeit und Dauer von Handlungen, Ritualen und Phänomenen, aber auch nach Theorien und Reflexionen auf Zeit, deren Struktur und deren Vergehen, werde die Vielgestaltigkeit erkennbar, die Zukunftsbezüge auch für mittelalterliche Menschen besessen hätten, ohne dass sie in den großen Entwürfen des Endzeitdenkens aufgegangen wären. Zukunftshandeln sei demnach auch im Mittelalter in der Immanenz situiert gewesen. Wie Oschema an verschiedenen Quellensorten und Beispielfällen mit einer besonderen Berücksichtigung der Astrologie zeigt, haben, entgegen manchem Klischee einer Moderne, die sich allererst die offene Zukunft erschlossen habe, auch mittelalterliche Menschen über ihre persönliche sowie die gesellschaftliche Zukunft nachgedacht und diese vor allem handelnd zu beeinflussen gesucht. Ihnen ging es darum, eine wünschbare Zukunft durch ihr Tun aktiv hervorzubringen, wenn die Realisierung dieses Bestrebens auch immer wieder durch strukturelle, materielle und praktische Begrenzungen behindert wurde. Zu Recht gibt Oschema zu bedenken, dass derartiges Zukunftshandeln nicht gleichgesetzt werden sollte mit einem Denken, das Fortschritt in eine vollkommen unbekannte Zukunft imaginieren konnte und wohl, so zumindest die einschlägige Forschung, tatsächlich ein Signum der Moderne sei.

Die Beiträge des Bandes repräsentieren zwei mögliche Ansätze, vergangene Zukunft zu erforschen: Entweder man untersucht Zukunftsvorstellungen historischer Akteurinnen und Akteure, deren Erwartungen, Pläne, Hoffnungen und Ängste, oder man wendet sich den Praktiken zu, mit denen sie Zukunft faktisch erzeugten, ihrem Planen, Organisieren, Bevorraten, Versichern, Kalkulieren, Prognostizieren und Prophezeien. Den ersten der beiden genannten Ansätze wählen die Beiträge von Klaus Herbers, Stefan Leder, Anke Holdenried, Daniela Wagner, Anja Rathmann-Lutz sowie Thomas Ertl. Herbers gibt einen klassisch gehaltenen Überblick über das christliche Endzeitdenken im frühen und hohen Mittelalter, das er von großer Vielfalt innerhalb eines gemeinsamen Denkrahmens geprägt sieht. Prophetien und Visionen verrieten, dass sich mit den Konzepten auch die Praktiken änderten. Überblickscharakter hat ebenfalls Leders Beitrag, der sich dem islamischen Zukunftsdenken widmet und damit als einziger über das lateinische Europa hinausgreift. Dabei ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei Herbers: Die Religion schaffte einen Denkraum, der dichterisch, theologisch, philosophisch und astrologisch ausgestaltet wurde. Da Politik auf Zukunftsvorsorge nicht verzichten konnte, schlugen sich die verschiedenen Konzepte in der Praxis nieder und wurden zugleich von deren Erfordernissen angeregt.

Allzu eng gefasst ist das Interesse Holdenrieds, die sich detailfreudig dem Gebrauch zukunftsbezogener Begriffe wie „propheta“, „tempora“ und „visio“ in den Distinctiones des Petrus Cantor widmet. Der Theologe interessierte sich hier weniger für apokalyptische Spekulation als vielmehr für eine anderweltliche Zukunft in Gestalt der ewigen Seligkeit im Himmel. Laut Wagner imaginieren spätmittelalterliche Maler in ihren Werken zumeist nicht die eine, sondern verschiedene Facetten von Zukunft. Die Zukunft darzustellen, habe häufig zu Reflexionen auf das Sehen und dessen Möglichkeiten Anlass geboten, um so die Herausforderung zu bewältigen, Zukunft sehbar und damit konkret zu machen. Rathmann-Lutz vergleicht mit einem Schwerpunkt auf Frankreich Zukunftsplanungen an Hof und Kloster im Hochmittelalter und kommt zu dem Schluss, dass trotz mancher Gemeinsamkeiten unterschiedliche Überlegungen an diesen Institutionen ausgebildet würden. Begründet liege dies in den verschiedenen Zeitregimen der jeweiligen temporalen Gemeinschaften: Während am Hof rasches Reagieren und kurzfristiges Entscheiden erforderlich seien, plane man im Kloster langfristig und denke zudem in eschatologischer Perspektive. Ertl schließlich widmet sich den Traktaten über die Rückeroberung des Heiligen Landes, die er als Aufbereitung und Bereitstellung von nützlichem Wissen deutet. Gelehrtes Wissen habe hier einen unmittelbaren Praxisbezug erhalten. Grundlage dafür sei die Überzeugung gewesen, Zukunft planen und gestalten zu können. Gerade dass hier mehr oder weniger verlässliches Wissen über den Orient verfügbar war, habe die anhaltende Beliebtheit dieser Texte gesichert – auch über das Mittelalter hinaus.

Ebenfalls an Konzepten, mehr noch aber an Praktiken interessiert sind die Beiträge von Benjamin Scheller, Ulla Kypta und Julia Burkhardt. Scheller untersucht das mittelalterliche Stiftungswesen anhand des Verhältnisses von Semantik und Praxis und erweist so die Stiftung als charakteristische Zukunftspraxis des Mittelalters. Diese verweisen zugleich auf einen immanenten wie auf einen transzendenten Zukunftshorizont, da die Stifter sowohl Vorsorge für ihr Seelenheil wie für die innerweltliche Dauer der Stiftung trafen. Allerdings antizipierten sie nicht, dass die Zwecke der Stiftungen einmal obsolet werden könnten – hieran zeige sich, dass man im Mittelalter die immanente Zukunft zwar als verschieden von der Gegenwart, nicht jedoch als fundamental anders dachte. Vorausschauende Kaufleute sorgten sich, wie Kypta darlegt, um die Zukunft des eigenen Geschäfts – etwa durch Seeversicherungen und Renten – sowie für diejenigen, die sie belieferten. Für das Gemeinwesen vorzusorgen, war ein wichtiges Argument bei der theoretischen Rechtfertigung der Tätigkeit von Kaufleuten. In der Praxis zeigten sich Letztere Kypta zufolge häufig recht zuversichtlich dabei, künftige Entwicklungen kalkulierend voraussehen zu können, wenn es gelang, verlässliche Informationen zu erhalten. Der Ungewissheit künftiger Verläufe begegnete man durch die Diversifizierung des Handels. Daran zeige sich, dass sie einen Teil der Zukunft für ähnlich der Gegenwart erachteten – einen anderen jedoch nicht. Ihre konkreten Einflussmöglichkeiten auf diese doppelte Zukunft hätten sie gering eingeschätzt, was sie allerdings nicht habe davon absehen lassen, sich so gut wie möglich auf sie vorzubereiten. Burkhardt fragt danach, wie sich klösterliche Gemeinschaften in heilsgeschichtlichen Entwürfen verorteten und welche Praktiken sie einsetzten, um das Gottesreich zu erlangen. Diese reichten von der Liturgie und dem Gebet über Speiseregeln bis zum Umgang mit dem Tod. Baulich und bildlich war das monastische Leben durchzogen von Repräsentationen der zukünftigen Gemeinschaft mit Gott, so dass selbst der Klostergarten zur Vorwegnahme der Endzeit werden konnte.

Beschlossen wird der Band reihentypisch mit einer Zusammenfassung aus der Feder von Petra Schulte, die zunächst das Thema der vergangenen Zukunft als Forschungsfeld umreißt und damit den Bogen zurück zu den einführenden Texten schlägt, um sodann entschieden dafür zu plädieren, von Großentwürfen Abstand und stattdessen die Komplexität des Mittelalters ernst zu nehmen. Dazu leisteten die Beiträge des Bandes einen Beitrag. Dieser Schlussfolgerung kann man zweifellos zustimmen, wenn sich auch die Sehnsucht nach größeren Linien immer wieder bemerkbar macht. Aus Sicht des Rezensenten ist dies kein Nachteil, sondern ein Vorzug: Spätestens seit Reinhart Koselleck gilt ein unterschiedliches Verhältnis zur Zukunft als wichtiges Differenzmerkmal zwischen Neuzeit und Mittelalter, in globaler Perspektive wird die Öffnung des Möglichkeitshorizontes der Zukunft wiederum noch immer gerne als Spezifik der westlichen Moderne gesehen. Inzwischen stehen derartige Großthesen unter Druck, doch veranschaulichen insbesondere die Beiträge von Oschema, Scheller, Kypta und Ertl, dass dem Mittelalter zwar vorausschauendes Planen und Sorge um die immanente Zukunft nicht fremd waren, daraus aber nicht umstandslos geschlossen werden kann, dass mittelalterliche Zukünfte strukturanalog mit neuzeitlichen waren. Offenkundig rechneten mittelalterliche Menschen tatsächlich nicht damit, dass die Wirklichkeit einmal ganz anders verfasst sein könnte, als es ihren Erfahrungen und ihrem Wissen entsprach.

Über die Frage, ob und inwieweit sie dabei hofften, eine ihnen genehme Zukunft aktiv und aus ihren Kräften hervorbringen zu können, besteht zwischen den Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes keine Einigkeit. Begründet ist dies teilweise im unterschiedlichen Quellenmaterial sowie in den verwendeten Methoden, aber auch in der theoretischen Fundierung, die bei manchen Aufsätzen schmal ausfällt oder implizit bleibt. Hier wäre für weitere Forschungen ein deutlicherer Rekurs auf Zeittheorien aus anderen Disziplinen sinnvoll. Zu tun gibt es nämlich noch einiges: So dürfte beispielsweise hinsichtlich des Verhältnisses zwischen immanenter und auf die Transzendenz gerichteter Zukunftserwartung nicht das letzte Wort gesprochen sein. Diskursive und institutionelle Rahmen scheinen, so zeigen die Beiträge von Rathmann-Lutz und Burkhardt, einen wesentlichen Einfluss auf Zukunftshandeln und Vorstellungen vom Zukünftigen gehabt zu haben – hier wären weitere Systematisierungen und ein anhand klarer Kategorien geleiteter Vergleich erforderlich. Die Zukunft bleibt insofern offen, als sie neue Erkenntnisse über ihre Vergangenheit bieten kann und wird.

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