P. A. Olsson: Kriegsgefangene und ihre Engel

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Titel
Kriegsgefangene und ihre Engel. Schwedische Helfer im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Olsson, Per Allan
Reihe
Beiträge zur Rotkreuzgeschichte
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Während im Ersten Weltkrieg rund 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren, sorgten nationale und internationale humanitäre Organisationen zugleich für verletzte Soldaten, Kriegsgefangene und internierte Zivilisten. Dazu gehörten das 1863 in Genf gegründete Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit ihren nationalen Gesellschaften, die Religious Society of Friends (Quäker) und der Christliche Verein Junger Männer (Young Men’s Christian Association, YMCA). Besonders das IKRK sammelte und verbreitete Informationen über das Schicksal von Kriegsgefangenen und Internierten. Es sicherte auch den Postverkehr mit ihnen und damit ihre Verbindung zur Außenwelt. Nicht zuletzt besuchten und besichtigten Vertreter des Roten Kreuzes die Lager, und sie versorgten die Insassen mit dringend benötigten Waren wie Nahrungsmitteln, Kleidung und Decken.

In Russland kümmerten sich von 1915 bis 1920 die nationalen Rotkreuzgesellschaften skandinavischer Länder um dort festgesetzte militärische und zivile Staatsangehörige der „Mittelmächte“ Deutschland und Österreich-Ungarn. Dabei engagierte sich besonders das rund 35.000 Mitglieder umfassende Schwedische Rote Kreuz, dessen Hilfskomitee 1915 die Bitte der russischen Regierung aufnahm, ihre in Deutschland gefangen gehaltenen Staatsangehörigen zu versorgen. Im Gegenzug durften sich österreichische und schwedische Schwestern um deutsche Gefangene im Zarenreich kümmern. Das Abkommen zwischen Russland und den „Mittelmächten“ ermöglichte auch Inspektionen von Lagern, an denen Rotkreuz-Delegierte teilnahmen.

Das Buch des Journalisten Per Allan Olsson, das bereits 2018 in Schweden erschien, ist keine wissenschaftliche Studie. Es enthält zwar ein Literaturverzeichnis, ein Glossar und ein Personenregister, aber keinerlei Nachweise im Text. Auch auf Nachweise zu den wörtlichen Zitaten und zu den rekonstruierten Dialogen wird verzichtet. In seinem Vorwort versichert der Verfasser aber, dass die Ausführungen zu den Reisen, Inspektionen und Hilfsleistungen auf Quellen basieren. Tatsächlich bestätigen die Ausführungen zu diesen Aspekten weitgehend Befunde der historischen Forschung, die sich auf die Arbeit der als „Engel von Sibirien“ verehrten Elsa Brändström (1888–1948) konzentriert hat.1 Demgegenüber gleicht die Darstellung in den Passagen, die Landschaften, Menschen, das Wetter und Stimmungen beschreiben, oft einer Erzählung.

Allerdings gelingt es Per Allan Olsson, den Einsatz der insgesamt 77 Schwedinnen und Schweden, die an der Fürsorge des Schwedischen Roten Kreuzes beteiligt waren, anschaulich nachzuzeichnen. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf die Aktivitäten Anna Linders (1873–1950) und Sven Hedbloms (1890–1918), der 1918 in Sowjetrussland der Spionage bezichtigt und exekutiert wurde.2 Sie verteilten zusammen mit anderen Angehörigen des Schwedischen Roten Kreuzes und österreichischen Schwestern in Russland Nahrungsmittel, Kleidung, Medizin und Geld an bis zu 700.000 Kriegsgefangene. Die Helferinnen und Helfer, die mit Protektion der Zarin Alexandra (Alix von Hessen-Darmstadt, 1872–1918) lange und beschwerliche Reisen zu den Lagern unternahmen, sollten vorrangig Missstände in den Kriegsgefangenen- und Internierungslagern abstellen, die Lebensbedingungen der Insassen verbessern und deren Moral stärken. Damit konnte das Schwedische Rote Kreuz oft erstmals Kontakt zu den Gefangenen aufnehmen und viele von ihnen vor dem Tod bewahren. Diese Vorgänge werden in dem Buch anschaulich geschildert.

Auch das erschreckende Leid der gefangenen Soldaten und Zivilinternierten tritt plastisch hervor. Diese Kriegsopfer litten an Hunger und unzureichender Hygiene, die Seuchen begünstigten. Diese Epidemien (vor allem Typhus) forderten ebenso Tausende von Opfern wie die vielerorts harten klimatischen Bedingungen, besonders in Sibirien. Linder, Hedblom und die anderen Helfer des Schwedischen Roten Kreuzes fanden in überfüllten Lagern wie denjenigen in Tockoe (Militärbezirk Kazan), Rasdoloe (im Gebiet Primorsk), Omsk, Tschita (beide Sibirien) und Spasskoje (bei Wladiwostok) häufig erschreckende Zustände vor, über die sie dem IKRK berichteten. Hier fielen Tausende Gefangene Krankheiten zum Opfer. Besonders katastrophal war offenbar die Situation der Kriegsgefangenen, die von 1915 bis 1917 zur Arbeit an der Murmanbahn (im unwirtlichen Nordosten Russlands) gezwungen wurden.3 Obgleich die lokalen Militärbefehlshaber und Lagerkommandanten die unliebsamen Rotkreuz-Helferinnen wiederholt der Parteinahme für die „Mittelmächte“, der Spionage und Aufwiegelung bezichtigten (nicht zuletzt um von eigenen Versäumnissen abzulenken), konnten die Schwestern nicht nur gravierende Mängel beseitigen, sondern die Insassen von Lagern auch zur Selbsthilfe und zu verschiedenen Aktivitäten (wie Sportwettkämpfe und Weiterbildung) mobilisieren.

In dem Buch wird auch das Engagement für einen Austausch von schwer verwundeten Soldaten zwischen Deutschland und dem russischen Zarenreich behandelt. Das Schwedische Rote Kreuz, das in Abstimmung mit dem IKRK und den russischen Behörden in Petrograd eine Koordinationsstelle eingerichtet hatte, organisierte die wechselseitige Übergabe vieler Verwundeter und Kranker und deren Transport in die jeweiligen Heimatländer. Obwohl auch sie Vorurteile gegenüber „den Russen“ hegten, wurden die Angehörigen des Schwedischen Roten Kreuzes überdies zu wichtigen Vermittlern zwischen den Behörden des Zarenreiches und Organisationen wie der YMCA und anderen nationalen Gesellschaften des IKRK, besonders der „Mittelmächte“, die jeweils Güter und Postsendungen für ihre Staatsangehörigen nach Russland schickten.

Darüber hinaus zeichnet Olsson die Kooperation des Schwedischen Roten Kreuzes – vor allem Linders und Hedbloms – mit der „Hilfsaktion für Kriegs- und Zivilgefangene“ nach, die Elsa von Hanneken (1875–1955) im Herbst 1914 im chinesischen Tientsin gegründet hatte. Die Organisation half besonders vielen der rund 330.000 Angehörigen der „Mittelmächte“, die sich bei Kriegsbeginn in Russland aufgehalten hatten und anschließend nach Sibirien und an die Pazifikküste des Zarenreichs gebracht worden waren. Allerdings unterband die chinesische Regierung unter dem Druck der Entente-Mächte 1918 die Aktivitäten Hannekens, die im November 1918 sogar wegen Spionageverdachts interniert wurde.4

Insgesamt bietet das Buch eine anschauliche Darstellung der erschreckenden Behandlung von Soldaten und Zivilisten der „Mittelmächte“ in Russland. Auch die Hilfsleistungen des Schwedischen Roten Kreuzes werden besonders anhand des Engagements Linders und Hedbloms deutlich. Ebenso zeigt Olsson aber auch, dass die Hilfe für die Gefangenen in Russland begrenzt bleiben musste. Das karitative Engagement kann deshalb die Neigungen der schwedischen Eliten – auch der aus dem Haus Baden stammenden Königin Victoria (1862–1930) – zu Deutschland (besonders 1914/15) nicht verdecken und rückblickend rechtfertigen. Vielmehr blieb auch das Schwedische Rote Kreuz letztlich zumindest partiell an die Politik der Regierung gebunden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Alon Rachamimov, Brändström, Elsa (1888–1948), in: Jonathan F. Vance (Hrsg.), Encyclopedia of Prisoners of War and Internment, Santa Barbara 2000, S. 31; Elsa Brändström, Among Prisoners of War in Russia and Siberia, London 1929. Zum Kontext auch: Alon Rachamimov, POWs and the Great War. Captivity on the Eastern Front, Oxford 2002; Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005; Reinhard Nachtigal, Seuchen unter militärischer Aufsicht in Rußland. Das Lager Tockoe als Beispiel für die Behandlung der Kriegsgefangenen 1915/16?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), S. 363–387; Arnd Bauerkämper, Sicherheit und Humanität in den beiden Weltkriegen. Der Umgang mit zivilen Feindstaatenangehörigen im Ausnahmezustand, Bd. 1, Berlin 2021.
2 Dazu im Einzelnen, allerdings heroisierend: Rudolf Vögl, Die Ermordung des Mag.-Phil. Sven Hedbloms, in: Hans Weiland / Leopold Kern (Hrsg.), In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkriege in Einzeldarstellungen, Bd. 1, Wien 1931, S. 265f.
3 Reinhard Nachtigal, Die Murmanbahn. Die Verkehrsanbindung eines kriegswichtigen Hafens und das Arbeitspotential der Kriegsgefangenen (1915 bis 1918), Grunbach 2001.
4 Elsa von Hanneken, Die Tientsiner Hilfsaktion. Eine Hilfsaktion für Kriegs- und Zivilgefangene in Tientsin, in: Weiland / Kern (Hg.), Feindeshand, Bd. 1, S. 266–268, hier: S. 267; Leopold Kern, Deutsche Hilfe im fernen Osten. Die Tientsiner Hilfsaktion für Kriegsgefangene in Sibirien und Rußland, in: ebd., S. 270–274.

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