J. Osterloh u.a. (Hrsg.): „Euthanasie“ und Holocaust

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Title
„Euthanasie“ und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten


Editor(s)
Osterloh, Jörg; Schulte, Jan Erik
Series
Schriftenreihe der Gedenkstätte Hadamar (1)
Published
Paderborn 2021: Ferdinand Schöningh
Extent
436 S.
Price
€ 69,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christoph Beckmann, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Was kann ein Buch zum Verhältnis von Krankenmord und Holocaust noch leisten? Immerhin sind die Verbindungen zwischen beiden großen NS-Mordprogrammen lange bekannt. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, Jörg Osterloh und Jan Erik Schulte, geben auf diese Frage eine bescheidene Antwort: Ausgehend vor allem von Arbeiten Henry Friedlanders1, der sich umfassend mit den vielfältigen Verbindungen von Krankenmord und Holocaust auseinandergesetzt hat, soll der Sammelband mit Detailstudien und weiteren Analysen zur Überprüfung und Kontextualisierung von dessen Erkenntnissen beitragen. Tatsächlich schafft der Band einiges mehr.

Die ersten beiden Aufsätze drehen sich um den Begriff der Biopolitik, mit dem versucht wird, das im Buchtitel genannte Verhältnis zu charakterisieren. Michael Schwartz beschäftigt sich mit einem internationalen Vergleich eugenischer Debatten, Bewegungen und Politik. Wenn Schwartz beschreibt, dass sich im „habituell konservative[n] ,Deep South‘“ keine Eheverbote für Geisteskranke durchsetzen konnten, obwohl diese in den USA an „rassistische Eheverbote zwischen Weißen und Afroamerikanern oder Asiaten anknüpfen konnten“ (S. 38), dann fängt er damit die Komplexität der Unterschiede zwischen Europa und den USA ein.

Auch Volker Roelcke geht in seinem Aufsatz vom Begriff der Biopolitik aus. Diese definiert er mit Foucault als eine Form von Politik, die beansprucht, auf biologischen Tatsachen zu basieren, und zugleich den biologisch aufgefassten Menschen zum Gegenstand von Politik macht. Davon ausgehend beschäftigt sich Roelcke mit dem Verhältnis von Eugenik und nationalsozialistischer Krankentötungen.2 Er resümiert, die eugenisch begründeten Zwangssterilisationen ließen sich genau wie die Krankentötungen als Ausdruck von Biopolitik verstehen, da sie das Ziel hatten, die biologische Qualität der Bevölkerung zu optimieren. Leider bleibt unklar, was aus dieser gemeinsamen Kategorisierung als Biopolitik folgt, was aber auch an der zirkulären Natur des Begriffs selbst liegt: Die Biopolitik fast den Menschen biologisch auf, womit auch seine Eigenschaften als biologische Qualitäten verstanden werden. Damit ist jede Einwirkung auf diese Eigenschaften Biopolitik im Sinne der Biopolitik – auch wenn sie Qualitäten wie die für die „Aktion T4“ zentrale Arbeitsfähigkeit betreffen, die an sich nicht biologisch sind.

Die folgenden Aufsätze wenden sich vergleichend einzelnen Aspekten des Gesamtthemas zu. Wolf Gruners Beitrag zeigt, wie bei Krankenmord und Judenverfolgung in unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichen Zeiten lokale Akteure und zentrale Planungen miteinander interagierten. Er verweist dabei auf die „Zentralisierung der ,Euthanasie‘ gegenüber der weitgehend dezentralen Judenverfolgung vor 1941“ (S. 107). Gruner betont die Wichtigkeit dieses Jahres: 1941 steht für das Ende der „Aktion T4“ und damit die Dezentralisierung des Krankenmordes, jedoch zugleich für den Beginn der zentral organisierten Deportation und Ermordung der Juden.

Uwe Kaminsky beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Zusammenhang zwischen Zwangssterilisation und Krankenmord. Er zeigt dabei, dass eugenische Politik im Nationalsozialismus ursprünglich keineswegs mit dem Gedanken an die Tötung von Kranken verbunden war, diese zugleich mit Einführung des Zwangssterilisationsgesetzes öffentlich abgelehnt wurde. Ein zentralen Nexus zwischen Zwangssterilisation und „Aktion T4“ sieht er dabei in der „Kindereuthanasie“: „Der Gedanke des ,Gnadentodes‘ für schwerbehinderte Kinder erleichterte die Überschreitung von der Verhütung zur Vernichtung ,lebensunwerten Lebens‘.“ (S. 119)

Frank Bajohr zeichnet in seinem Beitrag zunächst skizzenhaft nach, wie sich die Erforschung der Haltung der Deutschen zu Krankenmord und Holocaust entwickelte. Beide beginnen mit einem Mythos: Die Deutschen hätten die Krankenmorde abgelehnt und vom Holocaust hätten sie nichts gewusst. Letzterer Mythos kann heute als umfassend widerlegt gelten, und auch für die Vorstellung der durchgängigen Ablehnung des Krankenmordes gelte: „Je mehr die Forschung gesellschaftliches Verhalten in den Blick genommen hat, desto kritischer fällt die Bilanz aus.“ (S. 140) Dies betreffe nicht nur das Wissen um die Mordprogramme, sondern auch den ihnen vorausgehenden Prozess der Ausgrenzung und Marginalisierung, „an dem die deutsche Gesellschaft notwendigerweise beteiligt war“ (ebd.).

Die folgenden Aufsätze beschäftigen sich mit einzelnen Verbindungslinien zwischen Krankenmord und Holocaust. Den Anfang macht Frank Sparing mit einer Betrachtung der Ermordung jüdischer Psychiatriepatientinnen und -patienten am Beispiel des Rheinlandes. Diese seien als „Juden und als psychisch Kranke oder Behinderte […] gleich auf zweifache Weise“ von Diskriminierung und Verfolgung betroffen gewesen, und das schon vor dem Nationalsozialismus, der diese „Verfolgung schließlich bis zum Massenmord“ radikalisierte (S. 158). So hätten sich gerade in den Psychiatrien mit rassenpsychiatrischen Vorstellungen schon vor 1933 antisemitische Denk- und Handlungsweisen etabliert.

Astrid Ley setzt sich anschließend mit der „Aktion 14f13“ auseinander, deren Ende sie früher ansetzt als große Teile der bisherigen Forschung, auf Ende 1942. Allerdings wurden auch nach diesem Zeitpunkt noch KZ-Häftlinge in „T4“-Tötungsanstalten ermordet, allerdings ohne Involvierung der Berliner „T4“-Zentrale. Diese Morde rechnet Ley jedoch nicht mehr zur „Aktion 14f13“, denn diese sei „durch eine umfassende Mitarbeit der ,T4‘-Organisation sowie durch Lenkung seitens der IKL gekennzeichnet“ gewesen, und habe „sich auf das gesamte KZ-System“ erstreckt (S. 199).

Einen anderen Blickwinkel auf die „Aktion 14f13“ und die zunehmend reduzierte Rolle der „T4“-Zentrale bei der Organisation der Ermordung von KZ-Häftlingen in den „T4“-Tötungsanstalten bietet Hagen Markwardt in seinem Aufsatz über die Ermordung von Auschwitz-Häftlingen in Pirna-Sonnenstein. Er weist darauf hin, dass die Meldebögen der „Aktion T4“ sich für Selektionen im Rahmen der „Aktion 14f13“ als wenig geeignet erwiesen, sowie dass medizinische Aspekte eine immer geringere Rolle spielten und in ihrer Bedeutung hinter „die umfangreichen lagerinternen Vorselektionen“ zurücktraten (S. 227f.). Der Einfluss der „größte[n] einzelne[n] Vernichtungsmaßnahme während der ,Aktion 14f13‘“ (S. 220) auf Auschwitz selbst sei, anders als Teile der bisherigen Forschung meinten, weiterhin beschränkt: Vieles spreche gegen umfangreiche Transferprozesse zwischen Pirna und Auschwitz.

Dem Weg der Mordwaffe Gas in die „Aktion T4“ widmet sich anschließend Robert Parzer. Er verweist auf Verbindungen zum Krankenmord im Warthegau, in deren Zentrum der Chemiker August Becker steht. Becker habe die „T4“-Probevergasung im Zuchthaus Brandenburg durchgeführt und sei zuvor an der Vergasung von Psychiatriepatientinnen und -patienten in einem Konzentrationslager bei Posen beteiligt gewesen.

Näheres zu dem erwähnten Personal der Tötungsanstalten und Vernichtungslager findet sich im Anschluss bei Sara Berger, die genauer auf diesen Personaltransfer, die Beteiligten und Umstände eingeht. Berger charakterisiert die Wachmannschaften „als selbstorganisierte Systeme“ (S. 266), informell, weder besonders hierarchisch noch militärisch geprägt – jedoch von der Einsatzbereitschaft des Einzelnen. Diese waren nicht nur durch den Krankenmord an das Töten gewöhnt, sondern auch durch einen „radikalen Antisemitismus“ (S. 268) zum Töten motiviert.

Auf Basis der vorherigen Beiträge charakterisiert Jan Erik Schultes Beitrag das Verhältnis von Krankenmord und Holocaust als von gegenseitiger Beeinflussung geprägt. Schulte unterscheidet dabei sehr deutlich zwischen den frühen Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka auf der einen und Auschwitz auf der anderen Seite. „Die Entwicklung von Auschwitz“ bilde „einen ganz eigenen Strang der Genese des Holocaust“ (S. 309). Er betont zuletzt das hohe Maß an Eigeninitiative, dass alle diese Mordprogramme geprägt habe. Hat man nur Zeit für einen Beitrag des Sammelbandes, sollte man wohl diesen lesen.

Die letzten vier Aufsätze beschäftigen sich mit der juristischen Aufarbeitung von Krankenmord und Holocaust. Paul Weindling befasst sich dabei mit den von den Alliierten durchgeführten Prozessen, Edith Raim mit der bundesrepublikanischen Justiz und Hagen Markwardt mit dem größten Verfahren zu den Krankenmorden in der DDR, dem „Dresdner Euthanasie-Prozess“. Während Weindling die hohe Bedeutung hervorhebt, die die Alliierten den Krankenmorden, auch für den Holocaust, zuschrieben, verweisen sowohl Raim als auch Markwardt auf die großen Schwierigkeiten, vor denen ost- wie westdeutsche Gerichte bei der Strafverfolgung der Krankenmorde standen. Das galt insbesondere für Verbindungen zum Holocaust: Beide beschreiben, wie gering die Kenntnisse der Justiz über die Vernichtungslager waren, in denen die Täter nach Ende der Krankentötungen weitermordeten.

Den Abschluss macht Katharina Rauschenberger mit einer Arbeit über den Vertreter des SED-Politbüros in westdeutschen Verfahren gegen Nazi-Verbrecher, Friedrich Karl Kaul. Deutlich wird dabei, wie wichtig Überlegungen zur Diskreditierung der Bundesrepublik und zum Imageschutz der DDR waren – einschließlich des Schutzes von NS-Verbrechern in der DDR vor westdeutscher Aufmerksamkeit. Deutlich wird ebenso, wie wenig Bedeutung Kaul dem Krankenmord an sich zumaß: Dessen Bedeutung ergab sich für ihn nur aus der Bedeutung im „Gesamtzusammenhang der nationalsozialistischen Morde auch an den Juden, den Sinti und Roma und den politisch Verfolgten“ (S. 401).

Was der Sammelband in erster Linie mehr leistet als eingangs angekündigt, ist eine wichtige Korrektur: Gegen das in der Vergangenheit gezeichnete Bild einer Nachfolge, von Ungleichzeitigkeit und einseitiger Vorbildnahme, betonen die Autoren die Komplexität der gegenseitigen Beeinflussung zweier in weiten Teilen gleichzeitiger Verfolgungs- und Mordprogramme. Besonders wichtig sind dabei die Beiträge, die sich den verwendeten Begriffen und Kategorien zuwenden, etwa der Beitrag Astrid Leys, in dem sie die Zuordnung bestimmter Mordaktionen zur „Aktion 14f13“ in Frage stellt. Die hohe Zahl von in Anführungszeichen gesetzten, aber an keiner Stelle problematisierten Begriffen, sowie einige interessante sprachliche Unterschiede, etwa dass mit Volker Roelcke einer der wichtigsten und theoretisch versiertesten Medizinhistoriker abweichend von den anderen Autoren des Sammelbandes konsequent von Krankentötung statt Krankenmord spricht, macht jedoch deutlich, dass auch beim Nachdenken über die verwendeten Begriffe und Kategorien noch viel Potential für weitere Forschung besteht. Insofern kann man den Sammelband auch als Anregung für weitere Auseinandersetzungen mit dem Themengebiet sehen, indem „Euthanasie“ und Holocaust sicher vielfach zitiert werden wird.

Anmerkungen:
1 Insbesondere Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997.
2 Roelckes Darstellung der Geschichte der eugenischen Bewegung entspricht dabei weitgehend seinen vorherigen Arbeiten. Vgl. Volker Roelcke, Deutscher Sonderweg? Die eugenische Bewegung in europäischer Perspektive bis in die 1930er Jahre, in: Maike Rotzoll u.a. (Hrsg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, S. 27–55.