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Titel
Wie der Krieg ins Museum kam. Akteure der Erinnerung in Moskau, Minsk und Tscheljabinsk, 1941–1956


Autor(en)
Hasselmann, Anne E.
Reihe
Public History – Angewandte Geschichte
Anzahl Seiten
392 S., 40 Abb.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim von Puttkamer, Imre Kertész Kolleg / Friedrich-Schiller-Universität Jena

Eine Woche nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion war der „Große Vaterländische Krieg“ bereits im Armeemuseum in Moskau angekommen. Ein Rezensent der Krasnaja Zvezda (Roter Stern), der Zeitung der Roten Armee, zog anhand der laufenden Dauerausstellung eine lange Kontinuitätslinie deutscher Invasionen in Russland und kündigte an, dass auch der jüngste Kampf gegen den altbekannten Feind demnächst ausgestellt werden würde. Anne Hasselmanns Baseler Dissertation nimmt diesen Zeitungsartikel zum Ausgangspunkt. Sie zeigt, wie maßgebliche Akteure seit den ersten Kriegstagen den Krieg dokumentierten und entsprechende Ausstellungen vorbereiteten. Im Gegensatz zum anonymen Rezensenten der Krasnaja Zvezda rückt sie jedoch die Brüche in den Vordergrund. Denn anders als die bisherige Forschung zu sowjetischen Museen im Stalinismus erwarten ließe, stößt sie auf unvermutete Freiräume, die von lokalen Museumsdirektoren und ihren meist weiblichen Mitarbeitern unter widrigen Umständen und teils gegen erhebliche Widerstände genutzt wurden. Diesen Befund entwickelt sie anhand dreier Fallstudien zu Moskau, Minsk und Tscheljabinsk, anhand derer sie die Zusammenhänge von regionaler Kriegserfahrung, musealer Darstellung und Erinnerungsbildung herausarbeitet und zeigt, wie zentrale Vorgaben ganz unterschiedlich ausgelegt wurden. Für ihre Akteure prägt sie den eingängigen Begriff der muzejščiki (Museumsleute). Einige sind über das Buch verstreut sogar auf Gruppenfotos zu sehen. Diese vermitteln ihrerseits einen Eindruck von den besonderen Umständen der Museumsarbeit im Krieg, etwa wenn sich eine leitende Kuratorin mit Partisanen ablichten ließ. Ein 1944 in Minsk geschossenes Foto zeigt eine Gruppe Menschen, die – obwohl teils barfüssig – erhebliches Selbstbewusstsein ausstrahlen (S. 195). Im Krieg war auch die Arbeit im Museum identitätsstiftend und prägte manche der Akteure für Jahrzehnte.

Ein erstes inhaltliche Kapitel ist dem Sammeln gewidmet, ein zweites dem Ausstellen. Zusammen ergeben sie jeweils ein schlüssiges Bild. So sahen sich die Moskauer muzejščiki aufgefordert, zukünftige Exponate möglichst rasch in ihren Besitz zu bringen, „auf den heißen Spuren der Ereignisse“, wie es eine Kuratorin rückblickend formulierte (S. 57). Notgedrungen improvisierten sie, sammelten Plakate und Zeitungsausschnitte, Befehle, Kunstwerke, Interviews und was sonst alles irgendeinen Bezug zum Alltag des Krieges aufwies. Wenige Kilometer von der Front entfernt erstellten sie im Oktober 1941 eine kleine Sonderausstellung zur Verteidigung Moskaus und hielten Vorträge etwa in Krankenhäusern. Einigermaßen systematische Leitlinien gaben erst seit dem Sommer 1942 eine Richtung vor und trugen zugleich der bisherigen Improvisation Rechnung. Neben Alltagsobjekten kamen nun militärische Trophäen hinzu. Eine seit Februar 1942 zugängliche Sonderausstellung zur deutschen Niederlage vor Moskau, die sich aus mehreren Rezensionen rekonstruieren lässt, zeigte zerstörtes deutsches Kriegsgerät und beglaubigte die Besiegbarkeit der Deutschen. Unmittelbar Erlebtes wurde so im Museum zu einer mythischen, heroischen Erzählung kanonisiert. Als „Hüterinnen und Hütern von kraftbringenden Heiligtümern“, so die Verfasserin, wuchs den Moskauer Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern eine bisher ungeahnte Machtfülle zu (S. 170). Die zugrundeliegende, innovative Praxis kommemorativer Ausstellungen wirkte noch lange nach, als das Moskauer Armeemuseum längst zum ideologischen Leitmuseum für die Deutung des Krieges geworden war. Das Leiden im Krieg klammerten die Moskauer muzejščiki stillschweigend aus.

Anders in Minsk. Dort dokumentierten Kuratorinnen und Kuratoren soweit irgend möglich den Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten. Mit ihren Exponaten ergänzten sie im November 1942 die Moskauer Sonderausstellung um ein eigenes Kapitel „Belarus lebt, Belarus kämpft, Belarus wird sowjetisch sein“. Gezeigt wurden Alltagsgegenstände der Partisanen und Flugblätter der Untergrundpresse ebenso wie Fotos, welche Gräueltaten und Zerstörungen durch die Wehrmacht thematisierten. Sie zeigten Leid und Kulturverlust in einer Dimension, die in Moskau nicht ansprechbar war. Diese Exponate bildeten das Grundgerüst auch der Wiedereröffnung des Minsker Museums im Oktober 1944. Hier waren neben den improvisierten Waffen der Partisanen erneut auch Kriegszerstörungen in seltener Intensität zu sehen. Sie thematisierten das Leid der belarusischen und der jüdischen Bevölkerung als parallele Erfahrung und machten den Holocaust explizit. Zwangsarbeiter und sowjetische Kriegsgefangene wurden ebenfalls als Opfer gezeigt. Auch diese Ausstellung wirkte, nachdem sie im April 1948 aller regionalen Besonderheiten entledigt worden war, in der Erinnerung der Beteiligten lange nach.

Weit hinter der Front, in Tscheljabinsk am südlichen Ural, setzte ein eigensinniger Museumsdirektor nochmals andere Akzente. Da der NKVD sein Museumsgebäude beschlagnahmt hatte, gingen wiederholte Moskauer Befehle, mit einer patriotischen Ausstellung zur Kriegsmobilisierung beizutragen, an der Realität völlig vorbei. Stattdessen besannen sich die örtlichen Kuratorinnen und Kuratoren ganz im Sinne ihres von der Regionalwissenschaft (kraevedenie) der 1920er-Jahre geprägten Chefs auf die natürlichen Reichtümer des Urals, sammelten Mineralien und Heilkräuter und berieten die Bevölkerung, wie sie dem grassierenden Hunger begegnen konnten. Diese Form praktischer regionaler Identitätsbildung prägte auch die erste, im April 1946 eröffnete Nachkriegsausstellung. Diese rückte die örtlichen Bodenschätze, die Tscheljabinsk als Tankograd (Panzerstadt) erst zum Zentrum sowjetischer Rüstungsindustrie gemacht hatten, in den Mittelpunkt und thematisierte den Kriegsalltag und seine Entbehrungen. Ein passendes Zitat Stalins zum Reichtum des Urals machte diesen zum Gewährsmann der eigenwilligen Schau und sicherte sie politisch ab. Erst Mitte der 1950er-Jahre wurde die Ausstellung, obgleich sie von Besucherinnen und Besuchern sowie Schulklassen gut angenommen worden war, im Sinne zentraler Vorgaben auf den sozialistischen Aufbau getrimmt.

Die Besucher:innen und ihre Eindrücke nimmt schließlich das dritte Kapitel in den Blick. Für alle drei Städte sind die jeweiligen Gästebücher erhalten. Diese enthielten mitnichten ausschließlich gestanzte, folgenlose Loyalitätsbekundungen. Sie luden vielmehr ausdrücklich zur Mitsprache ein und bieten einen „vielstimmigen Chor“ (S. 329) an Lob und Kritik, Dankbarkeit, Stolz, Ärger und Rachegefühlen, bis hin zur Beschwerde über ungehörige Putzfrauen. Eine eigene Rubrik ließ Platz für Kommentare der Museumsmitarbeiter, den diese nutzten, um auf Kritik zu reagieren und ihre Autorität abzusichern. Für das Museum waren solche Gästebücher ein wichtiges Kapital, ließen sich lobende Einträge doch für Werbung nutzen, während kritische Hinweise den Beleg lieferten, dass die Kuratorinnen und Kuratoren auf die Belange ihrer Besucherinnen sowie Besucher reagierten und sich stetig zu verbessern suchten.

Anne Hasselmanns Buch leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis sowjetischen Alltags im Krieg und zu den vielfältigen, improvisierten und kreativen Anfängen einer Kriegserinnerung, die in kanonisierter Form längst zum Schlüsselelement russischer Propaganda geworden ist. Es erschien am 8. Februar 2022. Seine Lektüre ist beklemmend. Mit der offenen russischen Invasion der Ukraine ist vieles von dem, was Hasselmann für Russland als längst zurückliegende Vergangenheit schildert, andernorts bedrängende Gegenwart. Seither werden in der Ukraine Tag für Tag Zeugnisse des Krieges teils improvisiert, teils systematisch gesammelt, um die Zerstörungen und Kriegsverbrechen ebenso wie den Widerstand gegen die Besatzer zu dokumentieren. Die Formen, mit denen Zeitzeugenschaft in musealisierte Erinnerung überführt wird, bleiben auch unter veränderten Vorzeichen hochaktuell. Schon deshalb ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.

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