: Die Einheit und die Folgen. Eine Geschichte Deutschlands seit 1990. Bonn 2021 : Bundeszentrale für politische Bildung, ISBN 978-3-7425-0811-9 460 S. € 4,50

: Einheit und Transformation. Deutschland in den 1990er Jahren. Stuttgart 2022 : Kohlhammer Verlag, ISBN 978-3-17-033244-7 213 S. € 30,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsta Langner, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Mit „Die Einheit und die Folgen“ (2021) und „Einheit und Transformation“ (2022) hat der Leipziger Zeithistoriker Detlev Brunner kurz nacheinander gleich zwei Bücher zur Geschichte Deutschlands seit 1990 veröffentlicht; das erste gemeinsam mit Günther Heydemann, dem ehemaligen Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Beide Bücher reihen sich in eine Publikationsserie ein, in der sich die Geschichtswissenschaften zunehmend, wenn auch mit unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen, der „Vereinigungsgesellschaft“ (Großbölting / Lorke) nach 1990 widmen.1 Nachdem die 1990er-Jahre bereits zeitgenössisch von den Sozialwissenschaften vermessen und analytisch auf den – auch von Historiker:innen genutzten – Begriff der Transformation gebracht worden waren, rücken sie in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus zeithistorischer Untersuchungen, Einordnungen und Deutungen. Beide Bücher legen eine (erneute) Bilanz vor, die sich bei der ersten Veröffentlichung (Brunner / Heydemann 2021) bis in die Gegenwart zieht, im zweiten Fall jedoch die 1990er-Jahre fokussiert. In ihrem Aufbau ähneln sie sich äußerst stark und sind streckenweise sogar wortgleich. Das 2022 von Detlev Brunner publizierte schmale Bändchen „Einheit und Transformation“ erscheint deshalb wie eine verkürzte Auskopplung des kurz zuvor in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienenen Werkes.

Grundlage der Bilanzierungen und Bestandsaufnahmen – so der selbst gefasste Anspruch – sind öffentlich zugängliche, im Internet einsehbare Quellen wie Veröffentlichungen von Bundesministerien, sozialwissenschaftliche Umfragen und Gesetzestexte. Archivalische Quellen werden nicht genutzt. Das, so die Autoren, sei auch Folge der Pandemie, in der Archive nur erschwert zugänglich waren. Es mag jedoch auch darin begründet liegen, dass die Sperrfristen für Archivalien erst jetzt aufgehoben werden. Abseits mangelnder neuer Quellenbefunde sind jedoch auch Fragestellungen und Perspektiven wenig originell: Deutsche (National-)Geschichte wird vorrangig aus sich selbst heraus dargestellt und erklärt. Europäische und globale Perspektiven finden sich in gesonderten Kapiteln, werden aber nicht konsequent als analytischer Rahmen einbezogen. So wird beispielsweise die Geschichte der Privatisierung ehemaliger Volkseigener Betriebe durch die Treuhand nicht als Teil einer neoliberalen Neuordnung innerhalb Europas diskutiert und auch das Wirken transnational verflochtener Akteure – wie unter anderem die Unternehmensberatung McKinsey – nicht systematisch eingebunden.2 Auch die Themenauswahl mutet eher klassisch an. Das umfangreichere, von Brunner und Heydemann verfasste, arbeitsteilige „Gemeinschaftswerk“ (Brunner / Heydemann 2021, S. 12) gliedert sich in sechs Kapitel. In diesen wird nach Nationalgefühl, nationaler Identität und „Innerer Einheit“ (Kapitel 1), Demografischer Entwicklung (Kapitel 2), wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen Folgen (Kapitel 3), Staat und politischer Kultur (Kapitel 4), Mentalitäten, Einstellungen und kulturellen Trends (Kapitel 5) sowie Außen- und Sicherheitspolitik (Kapitel 6) gefragt.

Seinem kurz danach erschienenen Buch hat Brunner zwei Kapitel vorangestellt, die er schlicht „1989“ und „1990“ betitelt. In diesen handelt er auf zehn beziehungsweise fünf Seiten die „Vorgeschichte“ der 1990er-Jahre ab. Mit dem Begriff der Vorgeschichte zeigen sich gleich mehrere problematische Annahmen, die letztlich beide Bücher durchziehen: Entgegen aktueller zeithistorischer Ansätze, die Geschichte Ostdeutschlands – und damit auch Deutschlands in Gänze – verstärkt zäsurübergreifend zu erzählen und auf diese Weise die 1970er- und 1980er-Jahre analytisch einzubeziehen, setzen beide Bücher erst 1989 ein.3 Längere, insbesondere mentalitätsbezogene Entwicklungen können damit kaum nachgezeichnet und historisch erklärt werden. Eine „unterschiedliche Verankerung von Demokratie nach dem bundesrepublikanischen Modell“ (Brunner 2022, S. 114), die in aktuellen Debatten immer wieder konstatiert wird, bräuchte jedoch gerade dies. Und hier bestünde auch der Mehrwert zeithistorischer Ansätze gegenüber soziologischen oder politikwissenschaftlichen Erkenntnissen.

Die Reduzierung der Jahre 1989 und 1990 auf eine „Vorgeschichte“ mag auch mit einem veralteten – vor allem durch die zeitgenössischen Politikwissenschaften der 1990er-Jahre geprägten – Modernisierungsansatz begründet sein. Mit diesem wurden die „neuen Bundesländer“ anhand ihrer jeweiligen Anpassungsleistung an das Modell der Bundesrepublik gemessen und bewertet. Das spiegelt sich auch in einzelnen Kapiteln wider: So kritisiert Brunner im Abschnitt „Demokratie und Zivilgesellschaft“ zwar die wissenschaftliche Fokussierung auf gesellschaftliche Großorganisationen wie Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, erzählt aber dann lediglich deren Geschichte nach. So sei zwar die abnehmende Bindungsfähigkeit dieser Organisationen kein Merkmal für Politikverdrossenheit, aber die Beschreibung „nicht-institutionalisierte[r], ‚unkonventionelle‘[r] Formen politischen Engagements“ (Brunner 2022, S. 117), für die Brunner selbst plädiert, liefert er jedoch nicht.

Brunner ist Experte für Gewerkschaftsgeschichte. Daher ist der Fokus auf die „alten“ Großorganisationen naheliegend. Doch er reproduziert gängige Klischees, denen zufolge es Ostdeutschland einer organisierten Zivilgesellschaft – ein umstrittener Begriff – ermangelt. Dabei gibt es einige jüngere zeithistorische Studien, die die stark normativ geprägten zeitgenössischen Vorstellungen von „Zivilgesellschaft“ analytisch weiten, und eben auch die „unkonventionellen“ Formen nichtstaatlichen, gesellschaftlichen Handelns in den Blick nehmen. Für die ostdeutsche Umbruchsgesellschaft zeigen beispielsweise Untersuchungen zur Geschichte der Hausbesetzungen deren historische Verankerung in einer weitverbreiteten Kultur des „Schwarzwohnens“ in Ostdeutschland.4 Aus dieser sind zu Beginn der 1990er-Jahre in zahlreichen ostdeutschen Städten politisch umstrittene und umkämpfte Projekte vermeintlicher Subkultur hervorgegangen, die sich in den letzten dreißig Jahren jedoch als Orte politischer Vergemeinschaftung und unentgeltlichen Engagements etabliert haben. Sie sind zum Teil Träger von Jugendhilfemaßnahmen und mobilisieren auch gegen Rassismus. Auch die sogenannten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) wurden in den 1990er-Jahren in einem hohen Maß in Bereichen „sozialer Dienstleistungen“ oder als Kulturangebote in Ostdeutschland eingesetzt; also in einem gesellschaftlichen Miteinander, in dem sich „Ehrenamt“ und bezahlte Lohnarbeit häufig überschneiden.

Der Anspruch beider Bücher, eine (erneute) Bilanzierung vorzunehmen, die vorrangig statistische und quantitative Quellen heranzieht, wirkt sich ferner auf die Lesbarkeit der Synthesen aus. Besonders lesbar sind die länger gehaltenen Abschnitte, in denen eigene Narrationen entwickelt werden. So enthalten beide Bücher ein – wortgleiches – Kapitel zur Treuhandanstalt. Auch hier werden zwar keine neuen Befunde vorgelegt, aber Ambivalenzen, Konflikte und handelnde Akteure plastischer herausgearbeitet. So ruft Brunner in Erinnerung, dass die Treuhand eine Idee von DDR-Bürgerrechtlern war, die „das bisher zentralistisch verwaltete Volkseigentum den Bürgern der DDR per Anteilsscheine“ (Brunner / Heydemann 2021, S. 98; Brunner 2022, S. 60) übereignen wollte. Der erste Staatsvertrag zur Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion erteilte jedoch „jeglichen sozialistischen Ansätzen, auch solchen aus Kreisen bürgerbewegter Reformer, eine Absage – die Devise hieß nun ‚soziale Marktwirtschaft‘ nach dem Vorbild der Bundesrepublik“ (Brunner 2022, S. 61). Diese Geschichte verloren gegangener Ideen und nicht erfüllter Zukunftsentwürfe, deren Scheitern nicht in einem Ost-West-Narrativ aufgeht, müsste die zeithistorische Forschung zukünftig für weitere gesellschaftliche Bereiche und Politikfelder detaillierter herausarbeiten. Die politischen Auseinandersetzungen um die Übernahme des Paragraphen 218, der in der DDR 1972 abgeschafft worden war, oder jener für die Beibehaltung des 1989 in der DDR eingeführten kommunalen Ausländerwahlrechts, sind nur zwei Beispiele, anhand derer deutsch-deutsche Kooperationen nichtstaatlicher Akteure deutlich werden. In der historischen Rekonstruktion ihres Agierens sollten auch die Jahre 1989 und 1990 ihrer jeweiligen zeithistorischen Eigenständigkeit nicht beraubt werden; zu oft verfängt auch die Forschung noch in der erinnerungskulturellen Formel „1989/90“.

Aus aktuellem Anlass sei hier noch ein von Heydemann verfasstes Unterkapitel über die Ukraine erwähnt. Heydemann hat diesen Abschnitt bereits 2021 verfasst und mit „Der Krieg in der Ukraine“ betitelt. Er brachte die Annexion der Krim 2014 bereits auf den Begriff „Krieg“, als weite Kreise der deutschen Gesellschaft noch von Konflikten sprachen. Der Abschnitt ist mit zwanzig Seiten vergleichsweise ausführlich gehalten. Heydemann kritisiert das Verhalten der Bundesrepublik – vor allem die Ignoranz und den Umgang mit ukrainischen Sicherheitsinteressen – äußerst scharf und erklärt, Moskau wolle „die Ukraine in den Status eines von der Russischen Föderation abhängigen Staates zwingen“ (Brunner / Heydemann 2021, S. 325). Diese russische Aggression sei durch den sicherheitspolitischen Verlust der russischen Dominanz im Nachgang der Auflösung der Sowjetunion zu deuten. Gerade diese gegenwartsbezogenen, historisch informierten Rückschauen machen das Buch lesenswert.

Es lässt sich festhalten, dass als Bestandsaufnahme vor allem das gemeinsame Buch von Brunner und Heydemann empfehlenswert ist. Nicht nur zieht es die Erzählung bis in die Gegenwart (verlässt dadurch aber zeithistorisches Terrain), sondern beschreibt aufgrund seines Umfanges von 460 Seiten ausführlicher und liest sich angenehmer, als die anschließend veröffentlichte, auf die 1990er-Jahre reduzierte Publikation „Einheit und Transformation“.

Anmerkungen:
1 Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hrsg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft. Nassauer Gespräch, Stuttgart 2017; Thomas Großbölting, Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989–90, Bonn 2020; Ilko-Sascha Kowalczuk / Frank Ebert / Holger Kulick (Hrsg.), (Ost-)Deutschlands Weg. 1989 bis 2021. 80 Studien und Essays zur Lage des Landes, 2 Bände, Berlin 2021; Christina Morina, Deutschland und Europa seit 1990. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Göttingen 2022.
2 Marcus Böick, Entdeckung, Expansion, Ernüchterung. Die KPMG/DTG und die deutsche Wiedervereinigung, in: Dieter Ziegler / Jörg Lesczenski / Johannes Bähr (Hrsg.), Vertrauensbildung als Auftrag. Von der Deutsch-Amerikanischen Treuhand-Gesellschaft zur KPMG AG, München 2015, S. 214–249; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2016.
3 Vgl. Kerstin Brückweh / Clemens Villinger / Kathrin Zöller, Die lange Geschichte der "Wende". Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020; Annette Weinke, Von der 'nachholenden Revolution' in die 'Vereinigungskrise'? Für eine konzeptionelle und begriffliche Erneuerung der Transformationsforschung, in: Zeitgeschichte-online, März 2019, https://zeitgeschichte-online.de/themen/von-der-nachholenden-revolution-die-vereinigungskrise (24.05.2022).
4 Jakob Warnecke, "Wir können auch anders". Entstehung, Wandel und Niedergang der Hausbesetzungen in Potsdam in den 1980er und 1990er Jahren, Berlin 2019.

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