F. Davies u.a.: Offene Wunden Osteuropas

Cover
Titel
Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs


Autor(en)
Davies, Franziska; Makhotina, Katja
Erschienen
Darmstadt 2022: wbg
Anzahl Seiten
288 S., 11 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakob Stürmann, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, Leipzig

Kaum ein deutscher Leser, kaum eine deutsche Leserin kennt die Orte Korjukiwka, Pirčiupis oder Malyj Trostenez. Sie alle befinden sich im östlichen Europa und waren Tatorte des Holocaust oder des deutschen Vernichtungskriegs. Trotzdem kommen sie im heutigen deutschen Erinnerungsdiskurs über die nationalsozialistischen Verbrechen nur selten vor. Mit ihrem vor wenigen Monaten erschienenen Buch möchten die beiden Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina einer deutschsprachigen Leserschaft die Grausamkeit des deutschen Vernichtungskrieges im östlichen Europa näherbringen, seine enge Verzahnung mit dem Holocaust aufzeigen und auf die andauernde Notwendigkeit des Erinnerns hinweisen. Dafür besuchten die beiden Autorinnen mehr als 15 Erinnerungsorte in fünf verschiedenen Ländern.

Das Buch ist in neun Hauptkapitel unterteilt, in denen Erinnerungsorte deutscher Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg skizziert werden. Das erste Kapitel handelt von der polnischen Hauptstadt Warschau und den dortigen Aufständen im jüdischen Ghetto (1943) und dem der polnischen Heimatarmee (1944). Es folgen Kapitel über die Vernichtungsorte Babyn Jar in der Ukraine und Malyj Trostenez in Belarus sowie weitere über die sowjetischen „Heldenstädte“ Stalingrad und Leningrad, das Wilnaer Ghetto, drei von den Deutschen niedergebrannte Dörfer und zum Schluss eines über die beiden deutschen Vernichtungslager Bełżec und Majdanek. In jedem Kapitel beschreiben die Autorinnen die historische Ereignisgeschichte, die oftmals unzureichende juristische Aufarbeitung sowie die bis in die Gegenwart reichenden mehrdimensionalen regionalen und nationalen Erinnerungsdiskurse. Die ausgewählten Orte, mit denen kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, seien durch einige Aspekte verbunden: Sie erzählen Geschichte, sind umstritten und ihre Erinnerungsgeschichte weist Transformationen und Spannungen auf. Ferner, so die Autorinnen, haben alle Orte „etwas in der deutschen Perspektive auf den Krieg [bewirkt], oder umgekehrt, diese Chance vertan“ (S. 29).

Die Erzählweise der Hauptkapitel ist angelehnt an das Diktum „im Raume lesen wir die Zeit“1 des Osteuropahistorikers Karl Schlögel. Die Autorinnen betten die detaillierten Informationen über die historischen Ereignisse und Erinnerungsdiskurse plastisch in eine Erzählung über die persönlichen Besuche der Erinnerungsorte ein. Sie berichten von Stadtführungen und individuellen Begegnungen, die wiederum eigene Wahrnehmungen und Gedanken auslösten. Mal dient eine Kursfahrt mit Studentinnen und Studenten (Kapitel 1 und 6), mal die eigene Familiengeschichte (Kapitel 4) als Rahmung. Diese authentischen Einblicke ermöglichen es dem Leser bzw. der Leserin, in die Erzählung einzutauchen. Jedem Kapitel ist außerdem eine schwarz-weiß-Fotografie beigefügt. Es handelt sich zumeist um die Abbildung des besuchten Denkmals oder Gedenkkomplexes. Hierdurch kann das Beschriebene auch visuell wahrgenommen werden.

Davies und Makhotina knüpfen an aktuelle Forschungsdebatten an, die sich mit Fragen nach der Bedeutung von Mittäterschaft und Kollaboration im östlichen Europa und nationalen Erinnerungskonkurrenzen auseinandersetzen. Ins Zentrum ihrer Erzählungen rücken sie Geschichten von Opfern der NS-Verbrechen, die sie durch die Nacherzählung von Begegnungen mit noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie die Wiedergabe von bereits publizierten Zeitzeugenberichten und Tagebucheinträgen eindrücklich überliefern. Zu letzteren zählen eine Reihe von fachwissenschaftlich bekannten Quellen, darunter Marek Edelmans und Vladka Meeds Erinnerungen an den Warschauer Ghettoaufstand ebenso wie Wassili Grossmans 1943 publizierter Text „Ukraine ohne Juden“ und die für das „Schwarzbuch“ zusammengestellten Erinnerungsberichte.

Großen Wert legen die Autorinnen auf die Beschreibung des östlichen Europas als einen von den Nationalsozialisten zerstörten multiethnischen Raum, in dem die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht nur miteinander konkurrierten, sondern ebenso zusammenarbeiteten und sich gegenseitig unterstützten. Besonders in den Kapiteln über polnische und ukrainische Erinnerungsorte werden den Darstellungen über interethnische Auseinandersetzungen individuelle Geschichten der Hilfe, Kooperation und Unterstützung gegenübergestellt. Ebenso verweisen die Autorinnen auf den multinationalen Charakter der Sowjetunion, der sich sogar in multiplen Zugehörigkeitsverständnissen vieler seiner Bürgerinnen und Bürger abgebildet habe.

Davies und Makhotina geht es nicht um die Präsentation neuer Forschung zur Ereignisgeschichte des deutschen Vernichtungskrieges, sondern um die Wahrnehmung und den unterschiedlichen Umgang mit den Erinnerungsorten. Der Mehrwert ihrer Monografie entsteht durch die Art und Weise der Präsentation: Durch die Auswahl der besuchten Orte und die Komposition des Gegenstandes werden bestehende Leerstellen der deutschen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das „Ineinandergreifen von Holocaust und Vernichtungskrieg im östlichen Europa“ (S. 262) herausgearbeitet. Den Autorinnen gelingt es, in einer ansprechenden Form Ereignisgeschichte und Erinnerungsdebatten miteinander zu verknüpfen und zeitgeschichtliche Entwicklungen aufzuzeigen. Das Besondere liegt in der dichten Beschreibung der Erinnerungsorte, durch die nationale und regionale Spezifika und Konkurrenzen sichtbar werden.

Schreibstil und Aufbau des Buches lassen darauf schließen, dass die Studie auf ein breites Publikum abzielt. Die leserorientierte Darbietung führt an manchen Stellen allerdings zu leichter Unschärfe. Besonders auffällig erscheint dies beim Buchtitel „Offene Wunden Osteuropas“. Durch ihn werden Städte wie die polnische Hauptstadt Warschau in Ost- und nicht in Ostmitteleuropa verortet – eine Ungenauigkeit, die die Autorinnen im Buch selbst vermeiden. Auch wenn die Entscheidung, lediglich direkte Zitate mit Nachweisen zu versehen, sicherlich bewusst gefällt wurde, gibt es Stellen im Buch, an denen weitere Fußnoten wünschenswert gewesen wären. So befindet sich beispielsweise im Kapitel über die Holocausterinnerung in Belarus ein Verweis auf einen Ende 1944 publizierten Zeitungsartikel von Ilja Ehrenburg. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt hatte Ehrenburg auf die Vernichtung von sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten hingewiesen. Dieser Artikel wird einer Aussage von Solomon Mikhoels gegenübergestellt, der dafür plädiert habe, in die Zukunft zu schauen und sich nicht mit der Judenvernichtung zu beschäftigen (S. 124f.). Diese Aussage Mikhoels‘, der fälschlicherweise als „Schriftsteller“ (S. 125) und nicht als Schauspieler und Theaterdirektor eingeführt wird, erstaunt. Stand doch gerade sein Wirken exemplarisch dafür, wie jüdische Kultur in den 1930er- und 1940er-Jahren in der Sowjetunion trotz schwierigster Bedingungen aufrechterhalten wurde.2 Hier wäre es interessant gewesen, zu erfahren, in welchem Kontext und zu welchem Zeitpunkt er diese Aussage tätigte.

Wie schnell sich Erinnerungspolitik verändert, erlebt die Osteuropaforschung seit geraumer Zeit. Auch Davies und Makhotina müssen sich hierzu verhalten. Nicht nur für sie erscheint es nach der politischen „Zeitenwende“3 vom 24. Februar 2022 unmöglich, ein Buch über erinnerungspolitische Diskurse im östlichen Europa zu schreiben, ohne dabei auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einzugehen. Die Autorinnen beendeten ihr Manuskript in den ersten Tagen des Krieges. Zu diesem Zeitpunkt haben sie sich zu einem ungewöhnlichen und mutigen Schritt zugleich entschieden: Einige wenige Aspekte der Studie erweitern sie um die bereits absehbaren Folgen des Krieges. Zugleich thematisieren sie ihre Haltung gegen den Krieg in der Einleitung und im Epilog ausführlich und in aller Deutlichkeit: „Man wird hierzulande nicht mehr sagen dürfen, man habe aus der Vergangenheit gelernt, wenn man die Menschen dort jetzt im Stich lässt. […] Das Überleben der Ukraine ist jetzt und auf absehbare Zeit die allerwichtigste Frage, aber zu gegebener Zeit müssen wir uns auch mit uns selbst beschäftigen. Warum haben wir so lange akzeptiert, dass ein ehemaliger Kanzler als Lobbyist für ein verbrecherisches Regime agierte? […] Warum waren die undurchsichtigen Verstrickungen der Regierung in Mecklenburg-Vorpommern mit der Putin-Regierung unter Manuela Schwesig kein viel größerer Skandal?“ (S. 252–256)

Der entstehende Spagat zwischen historischer Darstellung und (erinnerungs-)politischer Analyse gelingt in der Einleitung hervorragend. Für den Epilog stellt sich hingegen die Frage, inwieweit manche Schlussfolgerungen tatsächlich dem Forschungsgegenstand angemessen sind: Ist die Verbindung zwischen nationalsozialistischen Verbrechen und russischem Angriffskrieg auf die Ukraine unter dem Credo eines „Lernens aus der Vergangenheit“ zielführend und lässt sich hieraus wirklich gegenwärtiges politisches Handeln ableiten? Die Autorinnen selbst arbeiten in ihrer Studie schwer aufzulösende Erinnerungskonflikte heraus, die gerade nicht aus einem politischen Missbrauch von Geschichtsnarrativen, wie ihn die russische Staatsführung in perfider Weise seit langer Zeit unternimmt, entstanden sind. Entspringt daher die Notwendigkeit einer politisch-militärischen Unterstützung der Ukraine wirklich aus einer erinnerungspolitischen Verantwortung oder nicht vielmehr aus einer Verteidigung der internationalen Rechtsordnung und einem demokratisch-pluralistischem Werteverständnis? Sich dieser methodischen Herausforderung wohl bewusst, geht es den Autorinnen letztlich um die eigene Verantwortung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Selbstkritisch stellen sie die Frage, ob sie als „stets um Differenzierung bemühte Historikerinnen zu zurückhaltend, zu wenig politisch“ (S. 251) gewesen seien und damit den falschen Personen den Raum für Geschichtsinterpretation überlassen hätten.

Anmerkungen:
1 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, 3. Aufl. München 2009.
2 Zu Solomon Mikhoels Wirken vgl. u.a. Jeffrey Veidlinger, The Moscow State Yiddish Theater. Jewish Culture on the Soviet Stage, Bloomington 2000.
3 Zum Begriff „Zeitenwende“ vgl. Rede von Olaf Scholz im Deutschen Bundestag vom 27. Februar 2022, in: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw08-sondersitzung-882198 (21.09.2022). In der Osteuropaforschung tauchte der Begriff bereits im Jahr 2014 auf, nach der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des aus Russland gesteuerten Krieges in der Ostukraine. Vgl. Gabriele Woidelko, Ein Gespräch in Zeiten der Sprachlosigkeit, in: Irina Scherbakowa / Karl Schlögel (Hrsg.), Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise, Hamburg 2015, S. 7–12, hier S. 7.