Wenn ein westdeutscher Europahistoriker auf einen ostdeutschen Essayisten trifft, redet der eine über Europa und der andere über Ostdeutschland. So oder so ähnlich kann man das Ergebnis jenes „Experiments“ (S. 8) zusammenfassen, das Kiran Klaus Patel und Ingo Schulze mit ihrem gemeinsamen Essayband eingegangen sind: „Geschichtswissenschaft trifft auf Literatur, Ost auf West, wobei wir beide Erinnerungen an selbst Erlebtes mit Überlegungen zu unserer Gegenwart verbinden“, so das Versprechen der Einleitung (ebd.). Entstanden ist das Buch aus einer hybriden Abendveranstaltung im September 2021, bei der sich die beiden Autoren begegneten, um über das Zusammenspiel von deutscher Einheit und europäischer Einigung nachzudenken. Zusammengebracht haben das ungleiche Paar die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung und das Europa-Kolleg Hamburg. Das Ergebnis sind nun zwei Essays, die zwar – so viel sei vorweggenommen – nur bedingt zusammenpassen, als literarisch-historisches Gespräch aber auf ganz eigene Art und Weise funktionieren.
Gemeinsam haben die zwei Beiträge zunächst den Einstieg. Beide beginnen mit persönlichen Erinnerungen an das Jahr 1990 – eine Schreibweise, die in der allerjüngsten Zeitgeschichte gerade zur postsozialistischen Transformationszeit überraschend verbreitet ist.1 Der 1971 im südwestdeutschen Villingen geborene Patel beginnt mit dem 3. Oktober 1990. An diesem Tag feiert der Abiturient nicht den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, sondern seinen 19. Geburtstag, mit Sierra-Tequila und Nudelsalat – eine Schilderung, die eine typisch westdeutsche Mélange aus Weltläufigkeit und Provinzialität evoziert. Auch der neun Jahre ältere Schulze setzt mit seinem persönlichen Jahr 1990 ein: Im Vergleich zur heimeligen Jugenderinnerung Patels atmen Schulzes Erlebnisse aber den Hauch des Abenteuers. Im Februar 1990 kündigt der 27-Jährige seine Stelle als Dramaturg am Altenburger Landestheater, um mit Freunden eine Zeitung zu gründen und „die Demokratisierung der DDR zu unterstützen“ (S. 61). Den 3. Oktober verbringen Schulze und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Redaktionsbüro, einem besetzten Haus im thüringischen Altenburg. Während Patel den eigenen Geburtstag feiert, ist bei Schulze keine Partystimmung zu spüren: Der Zauber der Revolution scheint längst verflogen zu sein; begangen oder eher betrauert wird „die Aufgabe der Souveränität, die wir ja gerade erst errungen zu haben glaubten“ (S. 63). Beide Rahmenerzählungen sind auf ihre Weise paradigmatisch: Hier die junge, postnationale Generation im Westen, die wenig Leidenschaft für die Entwicklungen in Ostdeutschland zeigt, geschweige denn sich für die „uncoolen“ Einheitsfeiern interessiert (S. 13); dort der desillusionierte Ostdeutsche, der die Revolution und die mit ihr verbundenen Hoffnungen nach einem mehr als aufreibenden Jahr bereits wieder begräbt.
Jenseits dieses parallelen Einstiegs treffen die Leserinnen und Leser auf zwei sehr unterschiedliche Essays mit sehr verschiedenen Perspektiven: In seinem mit „Doppelte Integration“ überschriebenen Aufsatz verlässt Patel den Modus des Persönlichen wieder und wechselt in die nüchtern beschreibende Tonlage des Historikers. Was folgt, ist ein dicht geschriebener, synthetisch angelegter und äußerst lesenswerter Beitrag zum Zusammenhang von deutscher Einheit und europäischer Integration. Auf Basis der neuesten Literatur lässt der Europahistoriker kaum eine Facette aus, die das Verhältnis beider Integrationsprozesse auszeichnet, wobei sein Fokus ganz auf der Europäischen Gemeinschaft liegt. Patel argumentiert, dass die EG für die Entwicklungen Ostdeutschlands eine wichtigere Rolle spielte als gemeinhin angenommen, dass sie dies aber „weitgehend unsichtbar“ tat (S. 41). Das hatte viel mit ihrer politisch-administrativen Kultur zu tun: Während die deutsche Einheit in nationalem Pathos zelebriert und ausgestaltet wurde, handelte die EG ihre faktisch erste Ost-Erweiterung in typischer Manier als fast beiläufigen Verwaltungsakt ab. Die eigenen Normen und Regeln sollten lediglich auf einen neuen Geltungsraum übertragen werden. Die Aufnahme Ostdeutschlands in die EG war damit auch nicht mehr als ein „Beifang“ (S. 21) der deutsch-deutschen Entscheidung zum Beitritt nach Artikel 23, so Patels pointierte These.
Und doch hatte dieser Beifang erhebliche Konsequenzen: Dass die ostdeutsche Wirtschaft seit 1990 eine auch im postsozialistischen Vergleich radikale Schocktherapie durchlief, hatte laut Patel maßgeblich damit zu tun, dass sie dem spezifischen Regelwerk des EU-Binnenmarkts und seiner Außenhandelsbeziehungen beitrat. Anders als die süd- und osteuropäischen Beitrittskandidaten vorher und nachher erhielt Ostdeutschland eine äußerst kurze Übergangszeit von nur zwei Jahren, um sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Auf der anderen Seite konnten die Ostdeutschen auf die Ausgestaltung der EG noch weniger Einfluss nehmen als auf den innerdeutschen Vereinigungsprozess. Zwar wurde dies zeitgenössisch wenig diskutiert, es mag aber zur EU-Skepsis vieler Ostdeutscher beigetragen haben, wie Patel nahelegt: „Die wichtigsten Entscheidungen wurden über ihre Köpfe hinweg getroffen.“ (S. 40)
So gut geschrieben und instruktiv Patels Ausführungen sind, so ringt der Parforce-Ritt durch die Geschichte der doppelten Integration den Leserinnen und Lesern einiges ab – zumal der Autor am Ende auch noch die unterschiedlichen Sichtweisen der europäischen Nachbarn einspeist: von Großbritannien und Frankreich bis zu den postsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas. Ein wenig mehr Platz als die gut 50 Seiten hätte dem Beitrag sicher gutgetan, dann aber auch das Format und die Symmetrie des Bandes gesprengt.
Für Schulzes Essay mit dem poetischen, aus Volker Brauns Gedicht „Das Eigentum“ entnommenen Titel „Wann sag ich wieder mein und meine alle“ sind die 50 Seiten genug, um seinen Blick auf das Jahr 1990 und die Folgezeit darzulegen. In sehr viel persönlicheren Worten schildert der Schriftsteller seine ersten Reisen nach Paris und Straßburg und wie das ostdeutsche Wort „Europa“ mit dem Jahr 1990 plötzlich seine Bedeutung veränderte: „Von nun an waren mit ‚Europa‘ nicht mehr die Länder vom Atlantik bis zum Ural gemeint, sondern das westliche Europa, die EG […]“ (S. 91). Die vertraute Nachbarschaft im Osten des Kontinents wurde plötzlich unattraktiv. Die neu gewonnenen Nachbarländer im Westen spielen in Schulzes Darlegungen aber auch keine große Rolle. Im Vordergrund stehen die deutsch-deutschen Entwicklungen, die westdeutsche Arroganz, die eigenen, ostdeutschen Enttäuschungen sowie die gegenseitigen Missverständnisse: von der Einmischung der West-Politik in den Volkskammerwahlkampf 1990, über Arnulf Barings These von den nicht mehr verwendbaren Ostdeutschen bis hin zu den identitätspolitischen Asymmetrien der Gegenwart („Der Westen ist deutsch, der Osten ist ostdeutsch“, S. 97) hat Schulze viel Kritik an den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte vorzubringen. Sein Essay gleicht einem Rundumschlag, wie man ihn doch mehr als einmal gelesen hat.2
Spannend aber an Schulzes Beitrag – und am Gesamtband – ist sein performatives Potenzial. Gewollt oder ungewollt antwortet der Essayist auf den Europahistoriker, als wolle er dessen abstrakte Analysen zum Verhältnis deutscher und europäischer Integration durch persönliche Erfahrungen und literarische Strategien belegen. So führt Patel aus, dass die EG zwar maßgeblich über die Entwicklung Ostdeutschlands nach 1990 mitentschied, für die Ostdeutschen aber ein schemenhaftes Gebilde im Hintergrund blieb. Der Ostdeutsche Schulze kann mit Patels West-Fokus auf der EG tatsächlich nichts anfangen: „Was die EG in Sachen Beitritt oder Vereinigung unternahm, liegt für mich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.“ (S. 79) An anderer Stelle führt Patel aus, dass der Europabezug in der DDR häufig eher „vage und abstrakt“ blieb, weniger konkretes Programm als eine offene „Beschwörungsformel“ (S. 32). Auch dies scheint der frühere DDR-Bürger Schulze demonstrieren zu wollen, indem er zwar Gorbatschows Beschwörungsformel vom „Europäischen Haus“ zitiert (S. 72), dann aber doch lieber über das Konkrete im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen schreibt. So entsteht in diesem ungewöhnlichen Buch dann doch noch ein intertextuelles Gespräch ganz eigener Art.
Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.
2 Vgl. Jana Hensel, Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten, München 2009; dies., „Westdeutschland ist immer noch die Nenngröße“, Gespräch mit Christiane Kaess, in: Deutschlandfunk, 05.02.2018, https://www.deutschlandfunk.de/autorin-jana-hensel-westdeutschland-ist-immer-noch-die-100.html (12.08.2022); zuletzt Dirk Oschmann, Wie sich der Westen den Osten erfindet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.2022, S. 13.