„In Russia the eschatological conception of history has a long tradition. Lotman and Uspenskii even identified it as one of the markers of Russian culture. The philosopher Nikolai Berdiaev (1874–1948) called the Russian people ‚in accordance with their metaphysical nature and vocation in the world a people of the End‘ and thought the apocalyptic vision a fundamental national feature. [...] Every so often the collective imagination would become inflamed in a mixture of terror and hope, as revelations and prophecies were made about the end of history and the figure of the Antichrist, the ‚deceiver‘ and ‚the ruler of this world‘, as well as about the messianic role of Russia in the plan of the Christian salvation The Third Rome against the Third Temple history (Heilsgeschichte). [...] Even today, after the failure of secular belief in progress with its promise of a ‚radiant future‘ or ‚paradise on earth‘, and with its gigantic toll of sacrifices, there is a tendency to elevate the great catastrophes that Russia went through in the twentieth century, as well as present-day crises and conflicts, to the level of salvation history and thus fill them with meaning.“ (S. 92f.)
Etwas unerwartet drängt sich dem Leser der Gedanke auf, dass dieses Buch, das einige Arbeiten von Michael Hagemeister versammelt, doch nicht allein mit Dingen zu tun hat, die in Dunkel und Zwielicht vergangener Jahrhunderte vor sich gingen. Wer aktuelle russische Politik und Publizistik auch nur am Rande verfolgt, fragt sich bei solchen wie den zitierten Sätzen unwillkürlich, ob sie sich wirklich nur auf Vergangenes beziehen könnten.
Michael Hagemeister, der sich wie kaum jemand sonst heute mit der Frühgeschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“ auskennt, legt mit dem hier rezensierten Sammelband Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Recherchen vor. Die sechs Aufsätze, die der Band versammelt, wurden in älteren Versionen bereits an verschiedenen Orten veröffentlicht und für diese Ausgabe gründlich überarbeitet. Sie stellen somit eine Summe von Hagemeisters Recherchen dar und zeigen zugleich, dass Ergebnisse langer Forschungen sich nicht immer in umfangreichen Publikationen niederschlagen können und dennoch wichtig und erhellend sind.
In einem ersten Kapitel stellt Hagemeister die (angeblichen) Protokolle inhaltlich vor und betont, dass ihr antisemitischer Gehalt sich deutlich von traditionellen antijüdischen Vorstellungen abhebt. Hostien-Schändung, Gottesmord, Ritualmorde, vorgetäuschte Konversionen, Wucher oder auch Bezüge zum Talmud – alle diese Motive spielen in den Protokollen keine Rolle. Stattdessen bieten die Protokolle ein Arsenal von politischen Manipulations- und Unterdrückungsmechanismen, mit denen die angebliche jüdische Weltherrschaft durchgesetzt werden solle. Hagemeister erscheinen die “jüdischen Konspirateure” als allmächtige Agenten der Moderne, die den Hass der Anti-Modernisten und Verlierer historischer Veränderungen auf sich ziehen (S. 4). Verwundert stellt Hagemeister fest, dass die Protokolle kaum als Antizipation totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert gelesen worden seien.1 Vielmehr ordnet er sie in die Gattung der Dystopien der russischen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein. Diese literaturgeschichtliche Interpretation fand sich auch schon in einem von Eva Horn und Michael Hagemeister herausgegebenen Sammelband von 2012.2
Hagemeister falsifiziert auch manche von der Forschung häufig vorgebrachte Annahme, so jene, dass die Protokolle in großem Umfang zur Aufstachelung zu Hass und Pogromen gegen Juden benutzt worden seien (S. 7). Erst die Umbrüche in Folge des Ersten Weltkrieges steigerten die Verbreitung der Protokolle. Die Verbreitung in verschiedenen Ländern skizzierend, rezipiert Hagemeister im Hinblick auf Deutschland und den Einfluss der Protokolle auf Ideologie und Politik der Nationalsozialisten leider nicht alles, was die aktuelle Forschung dazu beitrug.3 Bei aller geistes- und literaturgeschichtlichen Beschäftigung mit den Protokollen liegt ihre primäre Relevanz in ihrer Wirkungsgeschichte.
In einem weiteren sehr aufschlussreichen Kapitel widmet Hagemeister sich dem Prozess, der 1933 bis 1937 gegen die Protokolle und ihre Verbreitung im schweizerischen Bern geführt worden war. Auch hier vermag Hagemeister viele Details in neuem Licht zu diskutieren und manche gängige Annahme zu falsifizieren und arbeitet die gleichsam konspirative Art, in der die Klägerseite die Entstehungsgeschichte der Protokolle konstruierte, heraus. In erster Instanz als „Schundliteratur“ qualifiziert, wurde dieses Urteil in zweiter Instanz kassiert. Deutlich wird: Der Prozess von Bern trägt wenig zur Erhellung der Entstehungsgeschichte der Protokolle bei.
Im dritten Kapitel können wir der detektivischen Arbeit Hagemeisters folgen, indem er den Spuren einer Abschrift des Textes der Protokolle in einem frühen Stadium folgt, die in der Lenin-Bibliothek in Moskau lag und als Teilkopie im Berner Prozess eine Rolle spielte. Das Original ist leider heute verloren. Hagemeister geht akribisch allen Hinweisen nach, um diese Textvariante in die Genese der Protokolle einzuordnen, um aber auch hier feststellen zu müssen: „they are another piece of the mosaic in the early history of the Protocols, which is clouded by mystifications, speculations and lies. [...] The main question, however, remains open: Who wrote the Protocols, when, where and for what purpose?“ (S. 56)4
In einem vierten Kapitel schildert Hagemeister die Rolle von Leslie Fry, einer 1882 in Paris geborenen nicht sehr seriösen Person, die seit 1920 mit finanzieller Unterstützung von Henry Ford für die Verbreitung der Protokolle in den USA und Europa agierte. In Frys internationalen Verbindungen und Aktivitäten lässt sich unschwer eine antisemitische Internationale erkennen, die vor allem mit Täuschungen und Lügen an der Verbreitung ihrer Überzeugungen arbeitete.
Im fünften Kapitel ordnet Hagemeister die Protokolle in die apokalyptische Literatur Russlands ein, was der Jahrzehnte üblichen Interpretation dieses Textes als antisemitisches politisches Pamphlet etwas zuwiderläuft. Die Wirkungsgeschichte in den Blick nehmend, irritiert der Gedanke, dass russische apokalyptische Literatur weltweit Verleumdung und große Verbrechen hervorgebracht haben könnte. Offenbar hat dieser Text Anschlussstellen für eine Rezeption in unterschiedlichsten Ländern und Kulturen. Das wäre ein Ansatz für weitere Forschungen...
Mit der apokalyptischen Literatur Russlands seit rund 150 Jahren beschäftigt sich Hagemeister im abschließenden Kapitel. Die dort entwickelten Motive und Vorstellungen begegnen uns bis heute und führen zu einer von Nicht-Russen kaum nachvollziehbaren Geisteshaltung und Politik, wie eingangs zitiert. Insofern kommt man nicht umhin, festzustellen, dass die Protokolle auch heute noch eine schreckliche Aktualität haben, leider nicht nur in Russland.
Falls es nicht gelingt, noch weitere Quellen aufzuspüren, wird man nicht umhinkommen, als Ergebnis langjähriger Forschung zu konstatieren: „The origins of The Protocols of the Elders of Zion and the early story of their dissemination have provided a fertile ground for legends. If one turns ad fontes, as befits a historian, one cannot help but notice that they trickle only sparsely and that most of them are murky. Clues and traces have been covered and false trails laid, creating a labyrinth of half-truths and mystifications in which even serious researchers go astray.“ (S. 63)
Anmerkungen:
1 Schon 1936 las Alexander Rubinstein die Protokolle als Antizipation totalitärer Herrschaft: Alexander Stein [pseud. Alexander Rubinstein]: Adolf Hitler, Schüler der „Weisen von Zion“, Karlsbad 1936. Ebenso Manuel Humbert [pseud. Kurt Caro]: Hitlers „Mein Kampf“. Dichtung und Wahrheit, Paris 1936.
2 Eva Horn / Michael Hagemeister (Hrsg.), Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung. Zu Text und Kontext der „Protokolle der Weisen von Zion“, Göttingen 2012.
3 Die Frage der Wirkungsgeschichte anhand aktueller Forschungen wird u.a. diskutiert in: Wolfram Meyer zu Uptrup, Hitlers Antisemitismus: Ein bloßer „Judenkomplex“? Zur Problematik von Max Domarusʼ „Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 30 (2021), S. 157–179.
4 Vgl. auch Cesare G. De Michelis, The Non-Existent Manuscript. A Study of the Protocols of the Sages of Zion, Lincoln 2004.