Cover
Titel
Die internationale Stadt Tanger. Infrastrukturen des geteilten Kolonialismus, 1840–1956


Autor(en)
Hettstedt, Daniela
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte (51)
Erschienen
Anzahl Seiten
391 S., 10 farb. Abb., 8 SW-Abb.
Preis
€ 84,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Avner Ofrath, Universität Bremen / University of Michigan

„Guten Morgen, Ihr Nachtwesen, guten Morgen, Ihr Tageswesen, guten Morgen, Du Tanger, in quecksilbernem Zeitalter versunken. Hier kehre ich zurück, um wie ein Schlafwandler zwischen Gassen und Erinnerungen zu suchen, zwischen den Spuren meines vergangenen-vorhandenen ‚Lebens‘.“1 Mit diesen Worten eröffnete der marokkanische Schriftsteller Muhammad Shukri die arabischsprachige Ausgabe seiner Autobiographie, der wohl bekanntesten und eindrucksvollsten Beschreibung Tangers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – einer Stadt, die durch ihren internationalen Status an den Grenzen der Staatlichkeit lag, die von Hungersnöten, Schmuggel, Sexarbeit und Gewalt geprägt war. Schriftsteller wie Paul Bowles und Jean Genet stilisierten sie zu einem Mythos, einem Symbol von Tabubrüchen und dem Leben jenseits der Norm. Die völkerrechtlichen, diplomatischen und administrativen Ursprünge des Mythos um die international verwaltete Stadt an der Wasserstraße von Gibraltar untersucht Daniela Hettstedt in ihrem Buch und zeigt dabei, wie westliche imperiale Politik durch ein Zusammenspiel von Konkurrenz und Kooperation geprägt war.

Die Studie ist in vier Hauptteile gegliedert, die sowohl chronologisch als auch nach verschiedenen Räumen strukturiert sind: die Straßen, das Meer, die internationale Zone und die Stadt als stadtplanerische Gesamtheit. Dadurch gelingt es der Autorin, die Geschichte der internationalen Verwaltung der Stadt anhand verschiedener Problemkonstellationen zu analysieren. Den formellen internationalen Status Tangers, welcher 1906 in Algeciras und 1923 in Paris erneut von mehreren Staaten institutionalisiert und ratifiziert wurde, führt Hettstedt im ersten Teil der Studie auf die 1840er-Jahre zurück. Damit setzt sie sich überzeugend vom üblichen Erklärungsmuster europäischer Expansion in Nordafrika und dem Nahen Osten ab. Anstatt auf staatliche Interventionen zum „Schutz“ nicht-muslimischer Minderheiten und der Finanzierung von Prestigeprojekten abzuheben, betont sie die Bedeutung lokaler europäischer Initiativen wie etwa die junta de los Cónsules und später der Comité spécial des travaux publics. Diese begannen sich in den 1840er-Jahren in die Verwaltung der Stadt einzumischen, um Hygieneprojekte wie den (Aus-)Bau von Schlachthäusern, Markthallen, Wasserversorgung und Kanalisation voranzubringen und umzusetzen.2 Im zweiten Teil zeigt die Autorin sodann, wie das multi-imperiale Unterfangen, Tanger in entstehende, international betriebene Infrastrukturen zu integrieren – insbesondere in das Küstenbeleuchtungssystem mit dem Bau eines neuen Leuchtturms 1865 –, die mehrstaatliche politische Konstellation schuf, die – wie im dritten Teil herausgearbeitet – im frühen 20. Jahrhundert völkerrechtlich definiert und zur Grundlage der formellen internationalen Verwaltung Tangers wurde. Schließlich geht die Autorin im vierten Teil auf Initiativen der internationalen Stadtverwaltung in den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahren ein, einen neuen „Masterplan“ für Tanger nach den Grundlagen französischer Kolonialplanung zu entwickeln: der Trennung zwischen europäischer und „indigener“ Bevölkerung, dem architektonischen „Schutz“ der historischen Medina und der Errichtung eines neuen „indigenen“ Stadtteils, in dem „traditionelle“ stilistische Merkmale mit „moderner“ Bauart kombiniert werden sollten (die Nachkriegszeit nimmt nur einen marginalen Teil des Buchs ein). Indem die Autorin in den vier Teilen des Buches ihr Augenmerk konsequent und quellennah auf einzelne Räume und koloniale stadtplanerische Projekte richtet, gelingt es ihr, den Modus operandi mehrstaatlicher imperialer Politik zu rekonstruieren. Dabei wird zunehmend deutlich, wie sehr der Modernisierungsanspruch und der Versuch, in Marokko diplomatisch, wirtschaftlich und später auch militärisch einzudringen, allen europäischen Mächten gemeinsam waren.

Das Buch ist als eine Fallstudie internationaler Organisation im imperialen Zeitalter angelegt. Aus diesem Ansatz ergibt sich die Stärke des Buches als auch die Auswahl ihrer Quellen, die größtenteils aus den europäischen Archiven der betreffenden Staaten und Organisationen stammen. Die Studie arbeitet die Pluralität an Akteuren heraus, die an der internationalen und multi-imperialen Verwaltung Tangers beteiligt waren: Staaten, internationale Organisationen, lokale Komites, sowie – obschon stark eingeschränkt und im Buch nur punktuell vertreten – die marokkanische Regierung. Um die völkerrechtliche und politische Konstellation in Tanger zu charakterisieren, spricht die Autorin von einem „geteilten Kolonialismus“, womit eben jene Pluralität an Kolonialakteuren und die stetigen Aushandlungsprozesse zwischen ihnen gemeint sind. Gleichwohl hätte eine stärkere Einbettung des Falls Tanger in die boomende Literatur zur juristisch-administrativen Pluralität im kolonialen Zeitalter dem Kernargument des Buches – der Betonung des Zusammenspiels von Konkurrenz und Kooperation – stärkere analytische Kraft verliehen. Mary Dewhurst Lewis hat etwa den ähnlichen Ansatz von „divided rule“ in ihrer Studie des französischen Protektorats in Tunesien entwickelt und dabei die Ursprünge, aber auch die Grenzen des „geteilten“ Kolonialismus aufgezeigt.3

Da es sich um eine Studie internationaler Organisationen am Beispiel Tanger handelt, ist es nachvollziehbar, dass die Gesellschaft, Politik, Religionen und Kulturen Tangers, Marokkos und des Maghreb nicht im Mittelpunkt stehen. Dennoch verwundert es und schwächt es an einigen Stellen die Aussagekraft des Buches, dass zentrale Entwicklungen maghrebinischer Geschichte nicht thematisiert und die wahrhaft bahnbrechenden Publikationen zur marokkanischen Stadtgeschichte aus den letzten vier Jahrzehnten nicht rezipiert werden. Schließlich haben Studien zu Essaouira4, Casablanca5, Marrakesch6, Fès7 oder dem westalgerischen Oran8 gezeigt, dass eine Pluralität an Akteuren der Normalfall war. Zwar handelte es sich bei den anderen Städten nicht um formell international verwaltete Zonen, doch gerade eine derartige Kontextualisierung hätte das Potenzial, die Diskussion um den „geteilten“ Kolonialismus zu komplexeren Argumenten zu verhelfen. Umgekehrt ließe sich auch nach den Grenzen jener für Tanger ausgearbeiteten Internationalität fragen: Wie ist etwa Hettstedts interessanter Befund zu interpretieren, dass der französische Stadtplaner Henri Prost, der das Stadtbild im kolonialen Marokko tief prägte und exemplarisch für Paul Rabinows French Modern9 steht, auch in Tanger tätig war – und zwar im Auftrag der internationalen Stadtverwaltung?

Ein zentrales Anliegen der Studie ist es, Tanger im Zusammenhang international verwalteter Räume jenseits des Maghreb zu diskutieren – etwa der internationalen Konzession in Shanghai – und dabei transimperiale Verflechtungen und Vernetzungen herauszuarbeiten; was genau die Bedeutung solcher Räume war und inwiefern sie unser Verständnis kolonialer Herrschaft vertiefen können, wird allerdings kaum thematisiert. Noch wichtiger erscheint jedoch die Frage, ob sich eine Geschichte Tangers – und sei es als völkerrechtliches Konstrukt – ohne jegliche Bezugnahme auf umliegende Entwicklungen adäquat schreiben lässt. Lässt sich etwa der europäische Versuch zur „Öffnung“ Marokkos seit den 1840er-Jahren diskutieren, ohne auf den zeitgleich in Algerien tobenden französischen Eroberungskrieg und die marokkanische Unterstützung algerischer Aufständische zu verweisen? Kann die marokkanische Ablehnung des westlichen Telegraphennetzwerks 1889 als „Modernisierungsverweigerung“ bezeichnet werden – und sei es in Anführungszeichen – (S. 156), ohne auf das Aufkommen anderer Kommunikationskanäle im Maghreb und der arabischen Welt einzugehen und die politischen, kulturellen und religiösen Reform- und Erneuerungsbewegungen zu diskutieren (Tanzimat, Nahda, Islah), die von Zeitgenossen durchaus als Modernisierungsversuche dargestellt wurden? Oder lassen sich die Pläne der internationalen Stadtverwaltung zum Umbau Tangers in den 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahren diskutieren, ohne auf die Fluchtwellen aus dem Rif-Gebirge infolge des dortigen Aufstands zu verweisen? Selbstverständlich vermag es kein Quellenkorpus, all diese Fragen zu beantworten. Hettstedt ist sich der Grenzen ihrer Quellenauswahl durchaus bewusst und schreibt, dass das Buch keine „Überwindung des Eurozentrismus nach Dipesh Chakrabarty leisten kann“ (S. 31). Doch gerade da, wo die Primärquellen wenig hergeben, hätte eine Bezugnahme auf die vorhandene Sekundärliteratur eine Nuancierung der Argumentation ermöglicht.

Für Historiker:innen internationaler Politik stellt Daniela Hettstedts Buch eine lesenswerte Studie dar, die Einblicke in die Entstehung, Arbeit und konkurrierenden Interessen internationaler Organisationen und Institutionen an den Grenzen, Rändern und Nahten imperialer Expansion anbietet. Darüber hinaus wirft sie die Fragen auf, was Internationale Geschichte und Globalgeschichte ist und sein kann: welche Expertisen, Forschungsansätze und Kategorien aus den Instituten und Zeitschriften für nicht-europäische Geschichte, können, sollen oder müssen in derartige Studien einfließen?

Anmerkungen:
1 Muhammad Shukri, Al-Khubs al-Hafi, Casablanca 2013, S. 1. Übersetzung des Verfassers.
2 Ähnliches hat Vincent Lemire im Fall des spätosmanischen Jerusalem festgestellt. Vgl. Vincent Lemire, La Soif de Jérusalem. Essai d’hydrohistoire (1840-1948), Paris 2014.
3 Mary Dewhurst Lewis, Divided Rule. Sovereignty and Empire in French Tunisia, 1881-1938, Berkeley 2014.
4 Daniel Schroeter, Merachants of Essaouira. Urban Society and Imperialism in Southwestern Morocco, 1844-1886, Cambridge 1988.
5 Jean-Louis Cohen, Casablanca: De la cité de l’énergie à la ville fonctionnelle, in: Maurice Culot / Jean-Maurice Thiveaud (Hrsg.), Architecture françaises. Outre-mer, Liège 1992, S. 108–120.
6 Emily Gottreich, The Mellah of Marrakesh. Jewish and Muslim Space in Morocco’s Red City, Bloomington 2007.
7 Jessica Marglin, Across Legal Lines. Jews and Muslims in Modern Morocco, New-Haven 2016.
8 Joshua Schreier, The Merchants of Oran. A Jewish Port at the Dawn of Empire, Stanford 2017.
9 Paul Rabinow, French Modern. Norms and Forms of the Social Environment, Chicago 1995, Kapitel 9.

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