I. Landa: Liberale Tradition und Faschismus

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Titel
Der Lehrling und sein Meister. Liberale Tradition und Faschismus


Autor(en)
Landa, Ishay
Erschienen
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cenk Akdoganbulut, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die dritte Welle der vergleichenden Faschismusforschung war von der methodischen Forderung begleitet, die Erforschung der faschistischen Ideologie ins Zentrum zu stellen und die Faschisten beim Wort zu nehmen. Der an der Israeli Open University in Ra'anana lehrende Ideenhistoriker Ishay Landa hält das nicht nur für methodisch unzureichend, sondern sieht darin ein Wiederaufwärmen der Totalitarismustheorie. In seinem Buch "Der Lehrling und sein Meister. Liberale Tradition und Faschismus", das schon 2009 auf Englisch und seit 2021 in der deutschen Fassung im Dietz-Verlag vorliegt, kritisiert er zwei Charakterisierungen: Erstens, dass der Faschismus antiliberal und zweitens, dass er in irgendeiner Form links oder sozialistisch gewesen sei.

Landas Monografie fusst auf der methodischen Prämisse, dass die Sprache für die Faschisten ein Mittel zum Zweck gewesen sei. Sie hätten oft nicht gesagt, was sie meinten, und nicht getan, was sie sagten. Die Faschismusforschung habe sich aber seit den 1990er-Jahren darauf versteift, die Faschisten beim Wort zu nehmen. Dieses "hegemoniale Paradigma" (S. 9) habe keine methodisch zufriedenstellende Antwort darauf, dass faschistische Programme und Politik von Pragmatismus, Opportunismus und Propaganda durchdrungen waren und ihnen immer eine gewisse Widersprüchlichkeit inhärent war.1 Der bisweilen ahistorische und kontextarme Zugang vermöge die Inkonsistenz faschistischer Ideologie nicht aufzulösen und missachte, was die Faschisten eigentlich mit Worten meinten, bezweckten und taten. Die Frage sei also nicht, ob man die Worte der Faschisten ernst nehmen sollte, sondern wann eine Äusserung von ideologischen Kerninhalten vorliege und wann strategische Motivationen dominiert hätten. Im Mittelpunkt des Buches steht dementsprechend die Differenz zwischen politischer Rhetorik und Realität, Ideologie und Praxis, Namen und Inhalt (S. 334).

Landa selbst stützt sich dabei nicht auf materialistische Analysen oder marxistische Klassiker, sondern möchte zeigen, dass die Schriften der Faschisten anders interpretiert werden müssen. Mit einer stärkeren Kontextualisierung der Sprechakte der Faschisten und der Untersuchung ihrer ökonomischen Positionen will er zeigen, dass der Faschismus in einer Kontinuität zum Wirtschaftsliberalismus steht. Auch wenn er dabei nicht explizit auf die marxistische Bonapartismus- oder Agententheorie Bezug nimmt, steht seine Arbeit doch klar in der marxistischen Tradition, insofern sie den Faschismus als Retter des Kapitalismus begreift.

Die ersten beiden Kapitel widmen sich der für den weiteren Verlauf des Buches wichtigen Trennung von Wirtschaft und Politik im Frühliberalismus und der späteren Zusammenführung von Wirtschaftsliberalismus und faschistischer Politik. In den folgenden zwei Kapiteln werden anhand von "Antiliberalen Liberalen" wie unter anderen Arthur Moeller van den Bruck, Pierre-Joseph Proudhon, Carl Schmitt und Georges Sorel der wirtschaftsliberale und antisozialistische Geist des Faschismus und gleichzeitig das antidemokratische Potenzial des Liberalismus veranschaulicht. Die letzten beiden Kapitel dienen der Widerlegung von vier prominenten liberalen Mythen, die einen individualistischen, demokratischen und auf Freiheit und Selbstverwirklichung abzielenden Liberalismus nahelegen. Um die Verwandtschaft von Liberalismus und Faschismus zueinander zu belegen, untersucht Landa Quellen, die diese Nähe in beide Richtungen demonstrieren sollen. Für viele Liberale sei das oberste normative Ziel die Erhaltung der Eigentumsverhältnisse gewesen; Demokratie, politische Rechte und Freiheit seien nur insofern wertvoll, als sie der für die liberalen Denker vernünftigen Einsicht folgten, das Privateigentum nicht anzutasten.

Die Faschisten wiederum hätten, als sie in Italien und Deutschland an der Macht waren, in ihrer Wirtschaftspolitik liberale Gemeinplätze vertreten und seien vollen Lobes für den englischen Kapitalismus gewesen. Sie hätten gewerkschaftliche Eingriffe in die Wirtschaft, Arbeitszeitverkürzung und Besteuerung der Reichen entschieden bekämpft. Die regelmässig postulierte Unterwerfung der Wirtschaft unter das Primat des Politischen dürfe nicht über die Verschränkung der ökonomischen und politischen Sphäre hinwegtäuschen. Landa weist darauf hin, dass auch kulturpolitische Autoren wie Oswald Spengler ihren Sozialdarwinismus ökonomisch begründeten, etwa wenn Spengler seine Klage über die Dekadenz mit der "Sucht des Versichert-sein-Wollens – gegen Alter, Unfall, Krankheit, Erwerbslosigkeit" verband und den "nordischen Sinn des Lebens" im "Willen zum Eigentum" erblickte (S. 70f.).

So erscheint der Liberalismus nicht mehr als "ultimative Antithese" (S. 13) zu den vermeintlich kollektivistischen und antiliberalen Ideologien des Faschismus und Sozialismus. Indem Landa diese Kontinuitätslinie vom Liberalismus zum Faschismus in den Vordergrund rückt, kann er das Kernanliegen seiner geschichtspolitischen Intervention vertreten, nämlich die totalitarismustheoretisch unterfütterte Annäherung von Faschismus und Sozialismus zurückzuweisen.

Insbesondere wendet er sich dabei gegen den Ideenhistoriker Zeev Sternhell, der den Ursprung des Faschismus nicht in Italien, sondern im sozialistischen Milieu in Frankreich verortete. Landa kritisiert, dass beim „Ernstnehmen der Faschisten“ die Selbstdarstellung faschistischer Gruppierungen als revolutionärer Dritter Weg jenseits von Kommunismus und Kapitalismus zum Nennwert abgekauft und deren propagandistischer Charakter verkannt werde. Die Sozialismusbezüge der Faschisten würden sich bei genauerem Hinsehen als semantische Okkupations- und Umdeutungsstrategien erweisen, die sich aus der damaligen grossen Anziehungskraft sozialistischer Ideen erklären liessen. Faschistische Autoren hätten ihr instrumentelles Verhältnis zur politischen Sprache sogar freimütig zugegeben, was sich nach ihrer Machtergreifung auch in der Anpassung der Rhetorik manifestiert habe. Revolutionär im Sinne der Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems seien die Faschisten nicht, im Gegenteil: Der Faschismus sei am (wirtschafts-)liberalsten gewesen, wenn es um die Verteidigung des Kapitalismus ging, so Landas Schlussfolgerung. Den Faschisten habe vielmehr eine zwangsharmonisierte Gesellschaft vorgeschwebt, in der soziale Klassen fortbestehen.

Verdienstvoll sind besonders Landas Hinweise auf die Verschränkung der ökonomischen und politischen Sphäre in den Schriften der Faschisten. Auch seine Überlegungen zum instrumentellen Verhältnis der Faschisten zur Sprache und der daraus erwachsenden strategischen Dimension faschistischer Politik sind bereichernd. Das ist ein Aspekt, der über die faschistische Epoche hinausweist, weil sie auch für die Untersuchung rechter Strömungen in der Nachkriegszeit fruchtbare Anknüpfungspunkte bietet.

Landa umgeht jedoch die Definitionsdebatten der Faschismusforschung, indem er selbst keinen analytischen Faschismusbegriff präsentiert. Das hat zur Folge, dass der Leser im Unklaren darüber bleibt, nach welcher – bisweilen etwas laxen – Logik Personen, Gruppierungen oder Regimen das Etikett protofaschistisch oder faschistisch zugesprochen wird. Wenn ferner das Verhältnis von (Wirtschafts-)Liberalismus und Faschismus mit den Begriffen "Derivat", "Erbe", "Nähe", "Verwandtschaft" oder Ähnlichen beschrieben wird, so hätte man sich eine systematischere Darlegung gewünscht, die diese Beziehung begrifflich schärfer fasst. Insgesamt problematisch ist jedoch, dass Landa das Verhältnis zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus im ersten Kapitel analytisch nicht eingehender ausarbeitet und es deshalb wenig konturiert bleibt. Denn umso schärfer diese heuristische Trennung zwischen den beiden verläuft, umso stärker trifft Landas Kritik nur einen spezifischen Teil der liberalen Tradition, nämlich den Wirtschaftsliberalismus, und nicht den Liberalismus als solchen. Je stärker die beiden Stränge aber verwoben sind, gerät die Argumentation insofern in Schwierigkeiten, als dass auch aus marxistischer Perspektive dem politischen Liberalismus ein emanzipatorisches Potenzial innewohnt und Landa selbst Karl Marx in dieser Tradition sieht.2 Die Monografie ist in Teilen in einem geschichtspolitischen Interventionsmodus geschrieben, der manchmal zu Ungunsten der argumentativen Schärfe klare Positionierungen, Eindeutigkeiten und Entschiedenheit mit sich bringt, die aber gleichzeitig an anderen Stellen durch Unklarheiten ergänzt werden. Damit einhergehend verhindern bisweilen der grosse Bogen, das stellenweise rasante Tempo und die hohe Vogelperspektive eine adäquate historische Kontextualisierung, die Landa gerade einfordert. Leider werden auch sogenannte "nationalrevolutionäre" oder "nationalbolschewistische" Figuren wie etwa Ernst Niekisch oder Gregor Strasser nicht behandelt, obschon die Überprüfung der Thesen an diesen interessanteren Fällen die Kernargumente hätte schärfen können.

Trotz der manchmal etwas eigenwilligen Quelleninterpretation gelingt es Landas Monografie, auf ökonomisch-politische Verschränkungen im Denken der Faschisten und auf Kontinuitäten des Wirtschaftsliberalismus aufmerksam zu machen. Dabei dürfte "Der Lehrling und sein Meister" auch gegen aktuelle Umdeutungsversuche des Nationalsozialismus als linkes Phänomen, wie sie etwa von gewissen Protagonisten aus der AfD zu vernehmen sind, oder rhetorischen Aneignungsversuchen aus dem Querfront-Lager der so genannten Neuen Rechten nützlich sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. Sven Reichardt, Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung, in: Mittelweg 36, 16 (2007) 1, S. 9–25, hier S. 14.
2 Interview mit Ishay Landa im Jacobin Magazin in der Onlineversion, "Die Nazis waren Hyperkapitalisten", 08.07.2022, https://jacobin.de/artikel/die-nazis-waren-hyperkapitalisten-ishay-landa-interview-faschismus-wirtschaftsliberalismus/ (15.07.2022).

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