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Titel
Das Kaiserreich vermitteln. Brüche und Kontinuitäten seit 1918


Herausgeber
Riotte, Torsten; Worms, Kirsten
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Freytag, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Gerne und bis zuletzt hielten sich Wilhelm II. und seine Frau Auguste Viktoria im Bad Homburger Schloss auf. Am 10. Februar 1918 verkündete der Kaiser vom Balkon des oberen Schlosshofes den Separatfrieden mit der Ukraine, den sogenannten Brotfrieden, zeitweilig kam im Schloss das „Große Hauptquartier“ zusammen. Nun sind dessen sanierte und restaurierte historischen Wohnräume nach zehn Jahren und elf Millionen Euro wieder zugänglich. Die Wiedereröffnung des Königsflügels im Reichsjubiläumsjahr 2021 war Anlass für eine dem Sammelband vorangegangene Tagung, die Überlegungen zu aktuellen museumspädagogischen Anforderungen mit jüngeren Forschungstendenzen zum Kaiserreich verknüpfte. Ein besonderes Augenmerk galt dabei der Frage, wie sich das Reich differenziert und anschaulich an Orten vermitteln lässt, denen Authentizität anhaftet, weil die Besucher sich hier gleichsam in die Vergangenheit einfühlen und im konkreten Fall nachempfinden können, wie der kaiserliche Alltag aussah.

Vom Allgemeinen zum Besonderen will der Band sich diesem Problem nähern. Zunächst geht es um Gesamtdeutungen der Epoche, zu denen sich die Autoren positionieren, dann werden Forschungserträge präsentiert und abschließend gerät die Frage nach der Geschichtsvermittlung in den Blick. Diesen Zuschnitt erläutert der Mitherausgeber Torsten Riotte in seiner Einleitung, in der er den Dreischritt des Bandes entfaltet: „Historiographische Positionierungen“, „komplementäre Zugänge“ und „Vermittlung“. Mit ihnen soll das Kaiserreich als eine vielfältige, widersprüchliche und zugleich umstrittene Epoche vor Augen treten, die sich eindeutigen Urteilen entzieht.

Der Abschnitt „Historiographische Positionierungen“ versammelt Beiträge von Christian Jansen, Christoph Nonn und Frank Lorenz Müller, die sich mit Großthesen zum Kaiserreich befassen. Nachdem es lange recht ruhig ums Reich war, ist nicht zuletzt durch die Bücher von Hedwig Richter und Eckart Conze wieder Streit um dessen grundsätzliche Einordnung entbrannt.1 Für Jansen ist die Reichsgründung ohne die Fundamentalpolitisierung der Revolutionen von 1848/49 unverständlich, womit er einen zivilgesellschaftlichen Anteil betont, dem obrigkeitsstaatlichen Charakter der Epoche aber größeres Gewicht beimisst. Trotz aller Reformbewegungen und Errungenschaften: Für ihn stand der monarchische Machtstaat keineswegs vor der Demokratie – er macht eine innenpolitische Blockade aus und wertet die Risikopolitik 1914 als „Flucht nach vorn“ (S. 58). Nonn wendet sich gegen diese Betonung der altbekannten Schattenlinien ebenso wie gegen positive Sichtweisen, welche die Kontinuitäten in unsere Gegenwart und Reformimpulse hervorheben. Er unterstreicht – weit über 1918 hinausgreifend – die prinzipielle Offenheit historischer Prozesse und Entwicklungen vor dem Hintergrund des ambivalenten Modernisierungsbegriffs. Eine schwerwiegende Belastung erkennt der Düsseldorfer Historiker allenfalls in der „Ausbildung einer Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit“ (S. 72), da Parlamentarier Entscheidungsprozesse in der politischen Landschaft der konstitutionellen Monarchie kaum beeinflussten und damit die parlamentarische Grundtugend „Interessenausgleich durch Kompromisse“ nicht einüben konnten. Müller nimmt auf Basis eigener Forschungsbefunde schließlich den letzten deutschen Monarchen selbst in den Blick und stellt den negativen Urteilen über Wilhelm II. ein ausgewogenes Bild zur Seite, das dessen persönliche Defizite nicht verschweigt. Sein Versagen als politische Integrationsfigur und konstitutionelles Verfassungsorgan korrespondierte mit bemerkenswerten Erfolgen auf „vier zeittypischen Funktionsfeldern“ (S. 95), welche die bereits zeitgenössische Kritik an der Monarchie abfederten und Wilhelm bei vielen populär bleiben ließ. Etlichen anderen europäischen Oberhäuptern gleich, gelang es dem Hohenzoller, sich als Medienmonarch und nationale Institution, als Militärkaiser und als Wegbereiter imperialer Weltgeltung in Szene zu setzen.

Im Bereich „Komplementäre Zugänge“ finden sich zwei aufeinander bezogene Beitragspaare, um – so die ausdrückliche Absicht des Mitherausgebers Riotte – abseits der Gesamtdeutungen des Kaiserreichs „eine ‚Verdichtung‘ historischer Erkenntnis zu ermöglichen“ (S. 27). Den Auftakt bilden die Aufsätze von Jörg Meiner und Eva Giloi. Meiner spürt zunächst den Ambitionen Wilhelms II. nach, Kunstmöbel als Markenzeichen deutscher Kultur und dynastischer Herrschaft zu inszenieren. Der Kaiser ließ bekannte Kunsthandwerker kostspielige Möbelstücke anfertigen, um auf den Weltausstellungen um 1900 gegenüber der französischen Konkurrenz zu glänzen und seine Schlösser damit auszustaffieren. Er rückte diese Aktivitäten stilistisch in friderizianische Traditionen und führte die öffentlichkeitswirksame Kunst- und Kulturförderung seiner Eltern fort. Wie eng die Grenzen gezielter dynastischer Inszenierung und Vermarktung jedoch gesteckt waren, zeigt der gewinnbringende Beitrag Gilois über die Wilhelminische Konsumgesellschaft. Marken- und patentrechtliche Vorgaben beschnitten die fürstlichen Handlungsspielräume beträchtlich, so dass sich der Verkauf von Kaiser-Cigarettes, Hohenzollern-Fahrrädern oder gar Victoria-Verschlüssen für Korsettschließen nicht verhindern, geschweige denn steuern ließ. Die monarchischen Reklamestrategien erhellen das Konsumentendunkel indes kaum: Ob ein Käufer einen Kaiser-Wilhelm-Schinken mit patriotischer Begeisterung verspeiste, lässt sich kaum klären. Vielleicht schmeckte er auch nur besser als der Konkurrenzschinken und war zudem noch günstiger. Das zweite Beitragsduo stammt aus der Feder von Cornelius Torp sowie Florentine Fritzen und soll die erste Globalisierungswelle mit den frühen Vegetarier:innen als Teil der Reformbewegungen um 1900 verknüpfen. Torps Ausführungen gründen auf seiner vor bald zwei Jahrzehnten erschienenen Studie, mit der er die weltwirtschaftliche Verflechtung sowie das Zusammenspiel von Globalisierung und nationaler Politik jener Epoche eindrücklich vor Augen führte. Deutlich wird vor allem am Beispiel des Zolltarifs von 1902, wie sehr die erste Globalisierung die Regierung Bülow umtrieb. Stürmische Reichstagsdebatten standen vor dem mühsam errungenen Kompromiss. Der Bremer Historiker wertet diesen weniger als krisengeschütteltes Durchwursteln und Sieg des Protektionismus, denn vielmehr als strategischen Erfolg einer exportaufgeschlossenen Reichsleitung, welche, vertrauend auf ökonomische Expertise, Weltmarkt und (politische) Größe des Reiches zusammendachte. Auch die Frankfurter Journalistin Fritzen schließt in ihrem Aufsatz an eigene Forschungen an. Dem rasanten ökonomischen Wandel und den globalen Verflechtungen standen die Vegetarier:innen als Teil der zersplitterten Lebensreformbewegung skeptisch gegenüber. Ihre programmatische Abkehr von der fleischessenden Konsumgesellschaft ging im „Zeitalter der Nervosität“ (Joachim Radkau) nicht selten mit Forderungen nach einem ruhigeren ländlichen Lebensstil und nach Tierschutz einher. Fritzens Skepsis ist zu teilen: Viele lebensreformerische Ziele muten uns Heutigen modern an, aber die Analyse legt offen, dass die Pfade nicht nur in unsere ökologische Moderne, sondern zugleich auch in den Nationalsozialismus führten. Nicht wenigen Reformern waren Julius Langbehn oder Paul Lagarde vertraute Stichwortgeber: Das „vorwärts zur Natur“ war oft ein „vorwärts zur deutschen Natur“, der „neue Mensch“ dann „arisch“ in pseudogermanischer Pose.

Im dritten Block des Bandes steht die „Vermittlung“ im Zentrum von drei Aufsätzen, welche Reichsbilder in Schulen und Museen verfolgen. Markus Häfner widmet sich stadtgeschichtlichen Museen, vor allem im hessischen Raum. Er weist dort für das vergangene Jahrzehnt zwar kein überragendes, aber immerhin doch ein reges lokales Kaiserreichinteresse nach – vor allem anlässlich von Jubiläen und aktuellen (stadt)politischen Debatten – und korrigiert damit zugleich anderslautende feuilletonistische Befunde. In museumsdidaktischer Perspektive widmet er sich anschaulich den Herausforderungen im Umgang mit Besuchertypen sowie deren Vorwissen und skizziert Chancen und Grenzen multimedialer Ausstellungsformate. Die Schule ist das Thema des Geschichtsdidaktikers Markus Bernhardt. Vor allem in Lehrplänen und Schulbüchern für die Sekundarstufe I dominiert seiner Analyse zufolge ein politisch rückständiges und gesellschaftlich statisches Bild vom Kaiserreich. Er plädiert stattdessen dafür, den Geschichtsunterricht stärker an den Aspekten von permanentem Wandel und dynamischer Beschleunigung auszurichten, nicht zuletzt, weil es sich dabei um ein „‚Schlüsselproblem‘ der Gegenwart“ (S. 255) handelt, das den Lebenswirklichkeiten der Schüler:innen viel eher gerecht wird als die bis dato dominanten Schulbuchnarrative. Den Band beschließt der Beitrag von Jacco Pekelder über das „Huis Doorn“, dem Exilort Wilhelms II. in den Niederlanden. Der Münsteraner schildert den musealen Werdegang vom vermeintlich authentischen Kaiserdomizil zur vielseitigen historischen Vermittlungsinstitution, an der er selbst mit verschiedenen Projekten maßgeblich beteiligt war.

Abschließend bleibt zu wünschen, dass der insgesamt lesenswerte Band tatsächlich dazu beiträgt, die Diskussion darüber zu bereichern, wie sich das Kaiserreich immer wieder neu gewinnbringend ausstellen und vermitteln lässt. Genügend Reibungsfläche dafür bietet es.

Anmerkung:
1 Hedwig Richter, Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin 2021; Eckart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020.

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