Cover
Titel
Revolutionäre im Interview. Thomas Kuhn, Quantenphysik und Oral History


Autor(en)
te Heesen, Anke
Reihe
Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek (92)
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoffer Leber, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Auch sechzig Jahre nach der Veröffentlichung von The Structure of Scientific Revolutions (1962) hält die Diskussion um Thomas S. Kuhns Werk ungebrochen an. In seinem Opus Magnum wandte sich Kuhn gegen einen linearen, auf Wissensakkumulation basierenden Fortschrittsbegriff, indem er die strukturellen Bedingungen wissenschaftlicher Revolutionen, sogenannte Paradigmenwechsel, erforschte. Wie stark Kuhns Werk vom politischen Klima des Kalten Krieges beeinflusst war, ist eingehend untersucht worden.1 Dass Kuhn auch ein Pionier der Oral History war, ist hingegen weniger bekannt. Die Berliner Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen widmet ihr neues Buch „Revolutionäre im Interview. Thomas Kuhn, Quantenphysik und Oral History“ diesem kaum beachteten Kapitel in dessen Schaffen: Zwischen Juli 1961 und Juli 1964 führte Kuhn das Interviewprojekt Sources for History of Quantum Physics (SHQP) durch – mit dem ambitionierten Ziel, den Koryphäen der Quantenphysik die Geheimnisse ihrer wissenschaftlichen Entdeckungen zu entlocken. Doch was als ambitioniertes Pionierprojekt begann, entpuppte sich bald als herbe Enttäuschung.

Das Sources-Projekt war, wie te Heesen betont, das „erste organisierte Unterfangen zur Sicherung und Sammlung von (mündlichen) Quellen zur Physikgeschichte, ja der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt“ (S. 14). Kuhn setzte dafür sogar seine damalige Position als Assistant Professor für Wissenschaftsgeschichte in Berkeley aus. Doch wofür dieser Aufwand? Das Projekt sollte Kuhn eine „empirische Fundierung seiner Theorie von der Dynamik wissenschaftlicher Erkenntnis“ liefern, die er in seiner Structure of Scientific Revolutions ausbuchstabierte, so die These der Autorin (S. 14). Das Projektteam bestand aus vier Personen: Kuhn führte als Projektleiter die fast 140 Interviews mit 73 Zeitzeugen durch, sein Doktorand John L. Heilbron bereitete als stellvertretender Leiter die Interviews vor, der Physikhistoriker Paul Forman transkribierte, korrigierte und edierte sie. Im Hintergrund begleitete Lini Allen das Projekt als Fremdsprachensekretärin, sorgte für einen reibungslosen organisatorischen Ablauf und war Mitautorin des finalen Projektberichts. Dass die Physik zu dieser Zeit eine reine Männerdomäne war, spiegelte sich auch im Zuschnitt des Projekts wider: Kuhn und seine Kollegen begaben sich auf eine „Grand Tour“ der Physik, um in Europa und den USA die Größen des Fachs aufzuspüren (S. 16).

Te Heesens Buch überrascht durch seine offene, unkonventionelle Form. Es gleicht einem langen Essay, der sich von außen nach innen bewegt: Der Text setzt mit der Physikgeschichte des 20. Jahrhunderts ein, widmet sich im Anschluss den Akteuren, Methoden und Praktiken des Projekts und arbeitet sich schließlich zum Kern der Sources vor: den Interviews.

Das erste Kapitel gibt einen kursorischen Überblick über die Umwälzungen der Physik im frühen 20. Jahrhundert, herbeigeführt durch die Relativitätstheorie und Quantenphysik. Wie keine Theorie zuvor stand die Quantentheorie im Widerspruch zur klassischen Physik und stellte die Existenz eines geschlossenen physikalischen Weltbilds infrage. Die Bearbeiter des SHQP wussten, dass es politisch heikel war, sich im Kalten Krieg mit der Quantenphysik zu beschäftigen. Denn ihre Anwendung, vor allem die Entwicklung der Atombombe, hatte das Zerstörungspotential der modernen Physik dramatisch vor Augen geführt. In den Jahren der McCarthy-Ära, in denen theoretische Physiker aufgrund des Spionageverdachts ins Kreuzverhör genommen worden waren, verlieh das Projekt dem „erzählenden Physiker“ erstmals eine Stimme und speicherte sie für die Nachwelt (S. 36).

Das zweite Kapitel stellt die gedanklichen Architekten des Vorhabens vor: Initiiert wurde das Sources-Projekt vom theoretischen Physiker John A. Wheeler, der den Projektantrag bei der National Science Foundation einreichte. Thomas S. Kuhn übernahm die Projektleitung, da er wie kaum ein anderer die Expertise des Physikers mit derjenigen des Historikers verband: Als promovierter theoretischer Physiker hatte er sich durch erste physikhistorische Arbeiten hervorgetan. Während sich Kuhn und Gerald Holton (der dritte im Bunde) für die historisch-strukturellen Bedingungen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses interessierten, war Wheeler – ein ehemaliger Mitarbeiter des Manhattan Project – darum bemüht, das Negativ-Image der theoretischen Physik zu korrigieren.

Die Kapitel drei bis fünf widmen sich den Arbeitsschritten, Methoden und Praktiken im SHQP – von der ersten Informationsbeschaffung, über die Findung der geeigneten Methode bis zur Vorbereitung der Interviews. Für jeden auserkorenen Kandidaten wurde eine Aktenmappe mit relevanten Daten und Quellen angelegt, die als Vorbereitung für die Interviews diente. Ergänzend dazu wurde ein Aufruf an über 180 Physiker verschickt, der um Interviews, relevante Briefe, Manuskripte, Aufzeichnungen und Fotografien bat. In Berkeley sollte nichts weniger als eine „Zentralstelle für die Geschichte der Quantenphysik“ geschaffen werden (S. 59). Die akribische Aktenarbeit war wohlkalkuliert, denn gegenüber den „harten“ Naturwissenschaften wollte das Projektteam Transparenz und Neutralität demonstrieren.

Das SHQP betrat methodisches Neuland, da sich Wissenschaftshistoriker erstmals „ins Feld“ begaben. Wichtige Impulse für das Interview als Forschungsinstrument zog Kuhn aus dem Journalismus (Schriftstellerinterview), der Psychologie (Berufspsychologie; Kreativitätsforschung) und der Oral History, die damals noch in ihren Kinderschuhen steckte. Zurecht betont die Autorin, dass in der Oral History ein Paradox zum Vorschein kam, das emblematisch für das Technikzeitalter war. Einerseits wurde die Oral History als Methode erst durch den Einsatz technischer Innovationen wie dem Tonband möglich, andererseits offenbarte sich in ihr die Angst vor dem Verlust menschlicher Spuren durch die zunehmende Technisierung.

Bei der Vorbereitung der Interviews stießen Kuhn und sein Team schnell auf methodische Grenzen: Wie sollten die Interviewer als wissenschaftshistorische Zeitzeugen ihren ‚lebendigen‘ Quellen mit professioneller Distanz begegnen? Um möglichen Fallstricken zu entgehen, ließ sich Kuhn von Saul Benison, einem führenden Oral Historian, zur Gesprächsführung und -dauer beraten. Obwohl die Interviews ohne das Tonbandgerät nicht hätten realisiert werden können, war es Segen und Fluch zugleich: Wurde es einerseits als „Garant für Authentizität, Nachvollziehbarkeit und Exaktheit“ angesehen, konnte es andererseits zum „Störfaktor“ werden, denn gerade amerikanische Physiker reagierten seit der McCarthy-Ära empfindlich auf Befragungssituationen dieser Art (S. 91).

Kapitel sechs bis acht werfen einen Blick auf Kuhns Befragungsarbeit im Feld, am Beispiel der Interviews mit Alfred Landé, George E. Uhlenbeck, James Franck und Michael Polanyi. Für Kuhn entpuppten sich die Interviews schnell als große Enttäuschung: Hatte Kuhn gehofft, eine empirische Bestätigung für seine Theorie wissenschaftlicher Revolutionen zu bekommen, so stellten sich die Interviews als wenig valide heraus. Die meisten Physiker erinnerten sich im „Dokumentenverhör“ (S. 108) nur schlecht oder selektiv, verloren sich in Nebensächlichkeiten, antworteten unwillig oder mit großer Skepsis und wussten kaum etwas über die revolutionären Schlüsselmomente ihrer Forschung zu berichten. Kurzum: Sie waren nicht gerade die „besten Zeugen ihrer eigenen Vergangenheit“ (S. 170).

Die anschließenden Kapitel führen uns nach Europa, wo Kuhn Niels Bohr und Werner Heisenberg interviewte. Bohrs Interviewzusage war durchaus kalkuliert: Wissend, dass die Geschichte der Quantenphysik noch nicht geschrieben war, versuchte Bohr die Deutungshoheit über seine Person zu bewahren und das negative Bild der theoretischen Physiker zu korrigieren, wie es etwa in Robert Jungks Heller als tausend Sonnen (1956) gezeichnet wurde. Kuhns Erwartungen wurden abermals enttäuscht. „Die Sache ist, dass Sie zu viel erwarten“, kritisierte Bohr, der kurz danach unerwartet verstarb. Bohrs Tod manövrierte das Sources-Projekt in eine Krise, da es eine seiner wichtigsten mündlichen Quellen verlor.2

Vor diesem Hintergrund erscheint das Interview mit Heisenberg wie ein Plot Twist. Denn dieser entpuppte sich als nahezu idealer Gesprächspartner. Wie bei keinem Interview zuvor ergänzten sich Kuhns Erwartungen, Überlegungen und Gedanken mit denen Heisenbergs. In Heisenbergs Erinnerungen spielte die Intuition im Erkenntnisprozess eine prägende Rolle, die er ins Bild eines „warmen“ bzw. „kalten“ Gefühls fasste (S. 149). Kuhn forderte Heisenberg auf, „in seinen eigenen Kopf“ zu steigen; er sollte sich, losgelöst vom Wissensstand der Gegenwart, in eine vergangene Logik hineinversetzen (S. 152–154). Heisenbergs Gesprächsbereitschaft war auch dem Grund geschuldet, dass Kuhn ihm die Gelegenheit eines „unpolitischen Selbstentwurfs“ gab, da er die Zeit nach 1933 bewusst ausgespart hatte.

Das Ende und Nachleben des Projekts sind Gegenstand des letzten Kapitels: Einen zentralen Beitrag leistete das Projekt für die Internalismus-Externalismus-Debatte, die die Fachcommunity über Jahrzehnte spaltete. Während Internalisten den Fokus auf die innerfachlichen Dynamiken des Erkenntnisprozesses legten, fragten Externalisten nach der kulturellen und (macht-)politischen Einbettung von Wissenschaft. Das SHQP-Projekt schuf für beide historiographischen Zugänge erstmals eine umfassende Quellenbasis, aus der neue Arbeiten erwuchsen. Te Heesen spricht hier sogar von einer „historiographischen Revolution“, die der Wissenschaftsgeschichte einen festen Platz im universitären Fächerkanon zusicherte (S. 167). Einen weiteren Beitrag der Sources für die Professionalisierung der Wissenschaftsgeschichte sieht die Autorin in der detaillierten, quellenkritischen Rekonstruktion des Entdeckungszusammenhangs von Erkenntnissen. Damit hob sich das Projekt von der Tradition des Wiener Kreises ab, für den der Begründungszusammenhang von Erkenntnissen (die publizierten Ergebnisse) im Vordergrund stand. Fiel Kuhns Fazit über das SHQP rückblickend nüchtern aus, so wirkte das Projekt wie ein „Katalysator“ für die Neujustierung der Wissenschaftsgeschichte in den 1980er-Jahren, die den Dualismus von Internalismus-Externalismus infrage stellte, sich experimentellen Praktiken zuwandte und eine neue, nuancierte Wissenschaftspersona schuf – fernab des „Große-Männer-Mythos“ (S. 172). Wie das Projekt rezipiert wurde und sich programmatisch auf spätere Ansätze (Edinburgh School, Science Studies, New Experimentalism) auswirkte, hätte hier noch stärker akzentuiert werden können.

Anke te Heesen betritt in ihrem Buch historisches Neuland: „Revolutionäre im Interview“ beleuchtet nicht nur ein weitgehend unbekanntes Kapitel der Physikgeschichte im Kalten Krieg, es bringt auch neue Erkenntnisse über die Geschichte der Oral History und des Forschungsinterviews zutage. Als Teil der „Kleinen Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ des Wagenbach-Verlags versteht sich das Buch als „Anstifter“ neuer Gedanken.3 Diesem Anspruch wird der thesenstarke Text gerecht – nicht nur, indem er die historische Verflechtung von Journalismus, Sozialwissenschaften, Psychologie und Physikgeschichte aufzeigt, sondern auch, indem er disziplinübergreifende Fragen zwischen Zeit- und Wissenschaftsgeschichte, zwischen Kultur- und Medienwissenschaften aufwirft. Wer Kuhns Werk umfassend verstehen möchte, kommt an Anke te Heesens Buch nicht vorbei.

Anmerkungen:
1 Zu Thomas Kuhns Theorie wissenschaftlicher Revolutionen im Kontext des Kalten Krieges vgl. George A. Reisch, The Politics of Paradigms. Thomas Kuhn, James B. Conant and the Cold War “Struggle for Men’s Minds”, Albany 2019. Ferner: William J. Devlin / Alisa Bokulich (Hrsg.), Kuhn’s Structure of Scientific Revolutions – 50 Years On, Berlin 2015; Alexander Blum / Kostas Gavroglu / Christian Joas / Jürgen Renn (Hrsg.), Shifting Paradigms. Thomas Kuhn and the History of Science, Berlin 2016.
2 T.S. Kuhn / L. Rosenfeld / E. Rüdinger / A. Petersen, Interview mit Niels Bohr, 07.11.1962, Archive for the History of Quantum Physics / MPIWG, S. 14. Zit. n. te Heesen, Revolutionäre im Interview, S. 205, Anm. 305.
3 Vgl. die Vorstellung der KKB-Reihe auf der Website des Wagenbach-Verlags: https://www.wagenbach.de/buecher/kkb-kulturwissenschaft.html (03.03.2023).

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