G. Schmidt: Durch Schönheit zur Freiheit

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Titel
Durch Schönheit zur Freiheit. Die Welt von Weimar-Jena um 1800


Autor(en)
Schmidt, Georg
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Burgdorf, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

1776 riefen die Sklavenhalter Virginias immer lauter nach Freiheit von der Tyrannei des englischen Königs. Auf ihre Freiheit, Sklaven zu halten, wollten sie jedoch nicht verzichten. 1787 begrüßt der zügellose Edelmann Don Giovanni die neu ankommenden Ballgäste: „Hoch leb' die Freiheit hier!“ Donna Anna, Donna Elvira, Don Ottavio und Leporello antworten: „Hoch leb' die Freiheit“. Don Giovanni meint damit, Sex mit jeder haben zu können, egal ob verheiratet oder sehr jung, auch um den Preis eines Mordes. Die Hinzukommenden meinen jedoch die Freiheit vor sexuellen Übergriffen, Vergewaltigung und tödlicher Gewalt.

Unreglementierte Freiheit schien auch den Weimarer Klassikern bedenklich. „Wenn sich die Völker selbst befrein; / Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn“ dichtete Schiller 1799 im „Lied von der Glocke“. Der Freiheitsdiskurs der Weimarer Klassiker und Jenaer Romantiker ist das Thema der neuen Publikation von Georg Schmidt. Sie schildert, was sich zwischen der Ankunft Wielands 1772 und dem Tode Goethes 1832 in Weimar vorfiel vor dem Hintergrund der Ereignisse in Deutschland und Europa. Wobei Prolog und Epilog, „Freiheit und Schönheit“ und der „Geist von Weimar“ die Darstellung rahmen. Im Mittelpunkt stehen die begnadeten Schriftsteller, welche die Regentin Anna Amalia und ihr Sohn Herzog Carl August an ihren Weimarer Hof und an die Universität Jena zogen. Das Ziel der Klassiker war letztlich ein humanitäres Weltbürgertum, zu bewirken durch die „ästhetische Erziehung des Menschen“. Den Widerspruch zwischen Populismus als stete Gefahr der Demokratie und der Kunst formulierte Goethe 1822: Die Nation wurde „irregemacht durch Menschen, mit denen ich nicht rechten will. Sie stellen sich der Masse gleich, um sie zu beherrschen; sie begünstigen das Gemeine, als ihnen selbst gemäß, und alles Höhere ward als anmaßend verworfen“.1 Dieses Anbiedern skrupelloser Politiker oder auch Kulturunternehmer an die gemeine Masse ist ein sich radikalisierender reziproker Prozess.

Georg Schmidt, seit 1993 Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit in Jena, ist ein Experte für die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und des frühneuzeitlichen Reiches. Von ihm stammt das teilweise auf einem verbreiteten Quellenbegriff zurückgehende, vieldiskutierte analytisch-deskriptive Theorem des komplementären Reichsstaats. Es beschreibt, dass Reichskonstitution und Nation für die Zeitgenossen aufeinander bezogen waren. Das Reich wird als ein komplexes, teils föderales, teils hierarchisches, multikonfessionelles Mehrebenengemeinwesen gezeichnet. Zudem war Schmidt von Juli 1998 als Teilprojektleiter und Vorstandsmitglied und von Juli 2006 bis Juni 2007 Sprecher des SFB 482 „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“. Dies war einer der erfolgreichsten Sonderforschungsbereiche, weil er zeitlich und räumlich klar umrissen war und somit für die Teilnehmenden viele Synergieeffekte ermöglichte, was SFBs, die nur durch wage Oberbegriffe definiert sind, nicht leisten. Hiervon profitiert Schmidts jüngste Publikation.

Gegliedert ist das Opus in sechs große Kapitel: „I. Weimar – die Voraussetzungen“, „II. Sachsen-Weimar-Eisenach – Regieren und Dilettieren“. Hier wird die 6000 Seelen umfassende Ackerbürger- und Residenzstadt geschildert, in deren Mitte seit 1774 die Brandruine des Schlosses stand. Weimar war überschuldet und die Bewohner sahen das zunehmende Geniewesen eher kritisch. Kosteten die Schöngeister doch Geld, während der Nutzen zunächst nicht absehbar war. Ein zeitgenössischer Reiseschriftsteller urteilte knapp: „Der Ort ist tot“ (S. 60). In der Tat verstarben 43 Prozent der Neugeborenen im ersten Lebensjahrzehnt (S. 62). Aber dennoch etablierte sich am Witwensitz Anna Amalias ein Musenhof. Das III. Kapitel behandelt das Geistesleben in dem ungefähr 4000 Einwohner und ca. 350 Studenten, zunächst überwiegend aus der näheren Umgebung, umfassende Jena. Hier geht es um zukunftweisende Universitätsreformen bzw. Goethes Neuausrichtungen, Bertuchs Wirtschaftsimperium und das Wirken Schillers. „Im Schatten der Französischen Revolution und der Koalitionskriege machte Weimar-Jena als Literatur-, Wissenschafts-, Bildungs- und Medizinzentrum Furore“ (S. 111). Das lag auch an der langen Friedenszeit in der sogenannten „norddeutschen Neutralität“ während Europa vom Krieg verheert wurde. Die Studenten konnten sich einiges erlauben, denn die Stadt lebte von ihnen. Goethe, die Regierung und der Herzog meinten: „Die Angst vor der Revolution durfte nicht dazu führen, dass die Gegenmaßnahmen das bewirkten, was sie eigentlich verhindern sollten“ (S. 146). Fichte jedoch musste gehen.

„Die Doppelstadt – das Ereignis Weimar-Jena“ ist das IV. Kapitel überschrieben. „Die Hoffnung war, dass Künste, Literatur und Wissenschaften mit ihrem Anspruch des Wahren, Guten und Schönen die Impulse setzen konnten, die zu Harmonie und Frieden führten“ (S. 167). Man erwartete also von der neuen Kunstreligion, an der griechischen Klassik orientiert, was die christlichen Religionen nicht geleistet hatten. Goethes „Freundschaftspakt mit Schiller war der Sprung auf ein höheres Level; er machte aus dem Weimarer Musenidyll das Ereignis Weimar-Jena“ (S. 171). Der Frieden führte zur Ansiedlung französischer Emigranten und Engländern. „Die Romantiker lehnten die liberalen Vorstellungen von Individualität, kritischer Vernunft und Menschenrechten nicht ab, wollten jedoch den Staat in Einklang mit der organischen Natur bringen und Despotismus durch plurale Herrschaftsformen ausschließen“ (S. 207).

Das V. Kapitel „Neue Konstellationen – alte Illusionen“ behandelt die politischen Umgestaltungen in Deutschland. Besonders in Schillers später „Deutsche Größe“ benannten Gedichtfragment wird deutlich, es ging nicht um die Errichtung eines Machtstaats, sondern um die Vision geistig-kultureller Herrschaft (S. 230) und damit um eine universelle Mission. Diese Vision teilten Klassiker und Romantiker. Für Madame de Staël galt Weimar 1803 als „capitale littéraire de l´Allemagne“ (S. 238). Doch mit Herders und Schillers Tod im Dezember 1803 und Mai 1805 beginnt die „Klassikdämmerung“. Sie wurde beschleunigt durch die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806. Es folgen Goethes Vorstellung von der deutschen Nation, Rheinbund und Befreiungskriege sowie Goethes politisches Vermächtnis.

Das letzte Kapitel behandelt die „Arbeiten am Mythos“, Großherzogtum und Pressefreiheit, das Wartburgfest als Fanal, das Weimarer Monument. Es ließe sich auch von der Musealisierung des Mythos sprechen. Abschließend wird die Reichsoption in Faust II behandelt. Der Mythos der Politikferne der Klassiker ist geschichtsklitternd. Goethe arbeitete als Minister im Zentrum von Regierung und Verwaltung des Herzogtums; zeitweise war er auch für Finanzen, Militär, Straßenbau und Bergbau zuständig, zudem für Kultur und Wissenschaftspolitik als Theaterleiter und Zuständiger für Bibliotheken, Sammlungen und die Jenaer Universität. Herder war als Superintendent und Hofprediger für die Staatskirche und das Elementarschulwesen verantwortlich, Wieland war Prinzenerzieher und wichtiger Kulturunternehmer, Schiller, wie Hegel und Fichte zeitweilig Professor in Jena, war ihnen eng verbunden. Sie waren nicht fern der Politik, sondern bildeten mit ihr Zentrum. Sie wussten wie mühselig Regierungshandeln, Interessenausgleich und wie arg begrenzt Handlungsspielräume waren.

Georg Schmidts Fazit schließt Goethe und Schiller an: „Freiheit ist ein wichtiges Gut, benötigt aber Regeln, um nicht durch bloße Egoismen die Gesellschaft zu entzweien“ (S. 273). Eine uneingeschränkte Freiheit, wie sie Don Giovanni forderte, zerstört das humane Zusammenleben. Das von Schmidt behandelte Freiheitsproblem ist noch immer hochaktuell. Darauf hat jüngst der Jurist und Schriftsteller Georg M. Oswald verwiesen.2

„Der Weltbürger war frei von ständischen, religiösen oder kulturellen Vorurteilen, stand über der Tagespolitik und lebte der Vernunft und Humanität verpflichtet – ein Individuum, das im Idealfall nirgends ein Fremder war“ (S. 38). Durch einige Äußerungen der Klassiker mitveranlasst und durch die gescheiterte Revolution von 1848 verstärkt, kultivierte das deutsche Bildungsbürgertum im 19. und 20. Jahrhundert seine Politikferne. Die Vorstellung einer „geistig-kulturellen Überlegenheit“ mutierte zum „millionenfach todbringenden Rassismus“ (S. 295). Die Aufgabe des klassischen Ziels des humanen Weltbürgertums, das nationalen Patriotismus nicht ausschloss, ermöglichte die Kulturkatastrophe des Nazismus.

Die Darstellung zeichnet sich durch die gelungene Synthese bewundernswerter geschichtlicher Kenntnisse und inhaltlicher Vertrautheit mit den Werken der Klassiker aus. Das verleiht diesem großen Werk Georg Schmidts einen betörenden Charme.

Anmerkungen:
1 Goethes Werke, Bd. VIII, München 1981, S. 522.
2 Georg M. Oswald, Ein großes Versprechen, in: Ders. (Hrsg.), Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar, München 2022, S. 9–14, hier S. 11.

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